Читать книгу Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 13
Оглавление11
Die Waschküche quoll über von schlammigen Stiefeln und Schuhen mit vom Streusalz weißen Rändern. Die Matte lag in einem See aus schmutzigem Schmelzwasser, und das junge Mädchen, das die Tür öffnete, sah ihn entschuldigend an, als er sich vorstellte. Sie trug eine locker sitzende Tunika in Orange, Rot und Gelb, die trotz ihres Schnittes nicht verbarg, dass sie ein paar Kilo zu viel auf den Rippen hatte. Ihr brauner, weiter Veloursrock verbarg auch nicht das große Hinterteil, als sie sich umdrehte und ihn ins Wohnzimmer führte, wo etwas mehr Ordnung herrschte. Sie hatte ein nettes Gesicht. Nett war das richtige Wort – runde Wangen, füllige Lippen, die keinen Lippenstift brauchten, um betont zu werden, eine süße, kleine Stupsnase und grüne Augen, die vor Leben sprühten, das Ganze umrahmt von dunkelblonden, langen Haaren, die wie eine Gardine um ihr Gesicht fielen, geteilt von einem deutlichen Mittelscheitel. »Anita Andersen«, hatte sie sich vorgestellt. Sie stand ein bisschen verlegen da und zog die Ärmel der Tunika herunter.
»Wollen Sie Tee haben? Oder vielleicht lieber einen Kaffee? Es ist bestimmt noch welcher in der Kanne.«
Roland nahm den Kaffee dankend an, um sich aufzuwärmen. Tee war nie seins gewesen. Mantel, Schal und Handschuhe legte er auf die Rückenlehne des Sessels, auf den er sich setzte, während sie in der Küche war. Hinter einer geschlossenen Tür erklang der Bass einer Rocknummer. Sicher eine dieser vielen neuen Bands, die am Firmament aufgetaucht waren. Ein bisschen zu heavy. Nicht sein Geschmack.
Anita war schnell zurück, den Kaffee auf einem Tablett zusammen mit großen Bechern und zwei Packungen Schokoladenkeksen. Offenbar benutzte heutzutage keiner mehr Kaffeetassen. Als der Becher halbvoll war, bat er sie, mit dem Einschenken aufzuhören. Sie setzte sich und füllte ihren bis fast zum Rand.
»Ich hab den anderen gesagt, dass Sie vorbeikommen und gerne mit uns reden würden«, demonstrativ schaute sie auf ihre Armbanduhr, »aber Sie sagten in zwanzig Minuten, es ist ja erst zehn Minuten her, seit sie angerufen haben.«
»Ich war gerade in der Nähe, aber dann können wir beide ja anfangen. Es geht um den Raubüberfall bei Ihren Nachbarn. Haben Sie letzte Nacht etwas Ungewöhnliches beobachtet?«
Sie trank, bevor sie antwortete. »Wir wohnen weit weg davon, daher glaube ich nicht, dass hier jemand etwas gesehen oder gehört hat.« Sie zögerte und nahm ihren Becher, obwohl sie ihn gerade erst abgestellt hatte. Sie saß da, den Becher zwischen den Händen, der Daumen fuhr an dem Porzellan auf und ab.
»Zu wievielt wohnt ihr hier?«
»Wir sind sechs Studenten. Linda und Andreas haben die WG zusammen gestartet. Andreas studiert an der Uni Geschichte und Linda geht auf die Sporthochschule. Bjørn studiert Biologie. Brian und Bitten sind zuletzt eingezogen, die kommen beide aus Kopenhagen. Brian geht auf die Technische Schule und Bitten ist Auszubildende in einem Friseursalon. Ich selbst besuche die Pädagogische Hochschule in Aarhus oder VIA, wie man sie jetzt nennt.« Sie trank wieder aus ihrem Becher. Gleichzeitig kam ein junger Mann die Treppe herunter. Er war fast genauso kräftig wie das Mädchen und erinnerte wegen seiner Kleidung an eine überdimensionale grüne Olive. Er gab ihm mit einem unbefangenen »Thorbjørn Møller« die Hand. Roland erwiderte den festen Händedruck und Anita erklärte, dass Thorbjørn der Biologiestudent war und sie ihn deswegen Bjørn, also Bär, nannten. Bjørn setzte sich neben sie, und dann wimmelten sie plötzlich aus ihren Zimmern wie Ameisen aus einem Ameisenhaufen. Roland sah flüchtig auf seine Armbanduhr. Es war exakt zwanzig Minuten her, dass er angerufen und sein Kommen angekündigt hatte. Er räusperte sich und war bereit, anzufangen, aber Anita stand auf und ging zu der geschlossenen Tür, aus der immer noch die Rockmusik durch die Wand dröhnte. »Wir sind noch nicht vollzählig«, sagte sie und klopfte an die Tür. Erst vorsichtig, dann ein bisschen aggressiver. Ein knurrendes »ja, ja, ja, zum Teufel« ertönte und die Musik stoppte.
Anita setzte sich wieder aufs Sofa und schaute resigniert in ihren Becher. Nach ein paar Minuten kam zuerst das Mädchen heraus. Sie hatte etwas Punkiges, aber nicht auf die extreme Art. Es waren die sehr markanten, schwarz umrandeten Augen, die diesen Eindruck vermittelten, und die abstehenden Haare, die von feuerwehrrot bis schwarz und lila schimmerten, die kurze, schwarze Lederjacke und nicht weniger das Nietenhalsband, das an den schwarz gescheckten Kampfhund von Olga und Vagn erinnerte. Der Mann – oder der Junge, war man versucht zu sagen –, der ihr gleichgültig folgte, war auch nicht gerade einer der netten Kerle. Als er die zu langen Haare zurückstrich, kam eine pickelige Stirn zum Vorschein. Lässig fläzte er sich in einen Sessel, den Blick abwesend auf die Kekspackung gerichtet. Die Augen waren kohlrabenschwarz, und wieder musste Roland an die amerikanische Bulldogge denken.
Er räusperte sich noch mal. »Na, sind dann jetzt alle hier?« Anita nickte und stellte die beiden Neuankömmlinge vor, die den Gast nicht einmal begrüßt hatten. Die Stimmung war gedrückt. Er überlegte, ob es sinnvoller gewesen wäre, mit jedem einzeln zu sprechen. Das musste er später in Angriff nehmen, falls er zu dem Schluss kam, dass es hier etwas gab, dem man nachgehen sollte. Er hatte nicht viel Zweifel, wer in der Kommune schuld an den vielen Besuchen der Polizei war. Brian Kjeldsens Augen schwammen in einem Haschrauch und der unverkennbare Geruch hing in seinem schwarzen T-Shirt mit Metallica-Logo und der Aufschrift Metal Up Your Ass. Aber darum konnte er sich jetzt gerade nicht kümmern.
»Betreibt ihr den Bauernhof, oder ist der stillgelegt?«, fragte er, um die angespannte Atmosphäre ein wenig aufzulockern.
»Das ist der Hof meiner Eltern, den ich geerbt habe. Ursprünglich war er ein Pferdehof, aber jetzt sind die Ställe leer. Wir benutzen sie im Augenblick als Lager. Aber ich habe überlegt, die Boxen an Pferdebesitzer zu vermieten.« Andreas schaute die anderen angespannt an, wie wenn er das noch nicht mit ihnen abgesprochen hätte. Er schien der Älteste der Bewohner zu sein, deren Alter, wie Roland schätzte, zwischen Anfang und Mitte zwanzig liegen musste.
Nur Linda Carlsen nickte bestätigend. »Das könnte ein zusätzliches Einkommen bringen, deswegen arbeiten wir ganz sicher darauf hin«, unterstützte sie ihren Freund. Sie war schlank und durchtrainiert. Die blonden Haare waren zu einer kurzen, sportlichen Frisur geschnitten. Sie war ein schönes und natürliches Mädchen, das sich in Farben kleidete, die zu der hellen Haut und den Haaren passten und das direkte Gegenteil von Bitten Mørk, die ihn mit diesen schwarz umrandeten Augen anstarrte und provozierend Kaugummi kaute. Keiner der anderen sagte etwas. Roland trank von dem Kaffee, während er sie betrachtete. Es war ein bunter Haufen, der um den niedrigen Eichenholzcouchtisch herum saß. Er fragte sich, was sie gemeinsam haben konnten, dass sie es aushielten, unter einem Dach zu wohnen.
»Wenn der Hof Ihren Eltern gehört, dann sind Sie doch bestimmt auch hier aufgewachsen und kennen die Nachbarn gut, oder?«
Anita stand plötzlich auf und unterbrach ihn. »Oh, Entschuldigung, Bjørn. Ich hab den Zucker vergessen.« Schnell schlüpfte sie in die Küche. Roland sah ihr nach. Bestimmt war sie diejenige, die sich hier um den Haushalt kümmerte. Andreas nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
»Ja und nein. Als ich vor fünf Jahren Linda getroffen habe, bin ich bei ihr eingezogen ...«
»Ich habe damals in Herning gewohnt«, warf Linda mit einem vorsichtigen Lächeln ein.
Andreas sah sie an und nickte. »Meine Eltern sind beide bei einem Autounfall gestorben, und dann war die Frage, was aus dem Hof werden sollte. Was die Nachbarn betrifft, die ich als Kind kennengelernt habe, das sind nur Olga und Vagn Mortensen und die, die damals auf dem Nachbarhof gewohnt haben.«
Roland nickte. »Ich habe mit Dorthe und Sam Geisler gesprochen, den Zwillingen. Sie haben etwas von einem Jungen erzählt, der im See in dem privaten Wald ertrunken ist. Kennen Sie die Geschichte?«
Andreas runzelte die Stirn und nickte langsam. »Ja, ich erinnere mich dunkel. Aber das ist passiert, als ich in Herning gewohnt habe, erinnerst du dich?« Er wandte sich an Linda, die ernst nickte.
»Meine Eltern waren schockiert, Marcus war oft bei ihnen, ein netter Junge, und ... sie setzten zusammen mit den anderen Nachbarn durch, dass ein Zaun um den See gezogen wurde.« Er kratzte sich den fast unsichtbaren Kinnbart, der an Schweineborsten erinnerte. »Soweit ich mich erinnere, war das vor vier Jahren im Frühling.«
»Wer war der Junge?« Roland glaubte eigentlich nicht, dass das etwas mit dem Fall zu tun hatte, aber er war neugierig, mehr von dem Unglück zu erfahren, das die Besitzer dazu gebracht hatte, einen ganzen Wald zu umzäunen.
»Er war tatsächlich der Sohn von denen, die auf dem Hof gewohnt haben, wo Signe und Albert jetzt wohnen«, antwortete Andreas und schaute plötzlich erschrocken. »Daran habe ich vorher noch gar nicht gedacht.«
Er starrte vor sich hin.
Anita kam zurück und stellte eine geblümte Zuckerdose auf den Tisch. »Ich glaube, wir können festhalten, dass wir letzte Nacht nichts gesehen oder gehört haben, oder?«, fasste sie zusammen und schaute Brian auf eine Weise an, als forderte sie ihn auf, etwas zu sagen. Roland versuchte ebenfalls, seinen finsteren Blick aufzufangen, aber er war plötzlich damit beschäftigt, Zucker in seinen Kaffee zu rühren.
»Wer am ehesten etwas gesehen haben kann, ist Bjørn«, meinte Bitten, den Blick auf die grüne Olive gerichtet, die sich in einer Sofaecke zusammengekauert hatte.
Er richtete sich auf. »Das stimmt, ich kann tatsächlich einen Teil des Hofes sehen, auf dem es passiert ist, aber ich schlafe nun mal um diese Zeit der Nacht!« Das Letzte sagte er direkt an Bitten gewandt.
»Natürlich«, sagte Roland, »aber für uns ist es auch wichtig zu wissen, ob ihr an den Tagen davor etwas beobachtet habt. Geparkte Autos oder etwas anderes Verdächtiges?«
»Das sind doch diese Scheißosteuropäer.« Brians teilnahmsloser Blick wandte sich von dem Kaffee im Becher zu Roland.
»Das können wir noch nicht wissen, deshalb ist es auch wichtig, Informationen von euch zu bekommen, wenn ihr etwas wisst.«
»Wir wissen einen Scheiß!«
»Und das gilt für euch alle?« Roland betrachtete sie nacheinander. Bjørn nahm einen Keks aus der Packung, als sie ihn erreichte, und vermied es dadurch, ihm in die Augen zu sehen.
»Dann habt ihr die Waffen also nicht gefunden?« Brian lehnte sich im Sessel zurück und verschränkte die Arme, sodass nur die Aufschrift Metal Up Your Ass zu sehen war. In die schwarzen Augen trat ein höhnischer Ausdruck.
»Nein, wir haben die Waffen nicht gefunden. Was weißt du darüber?«
»Nichts. Ich hab bloß in der Zeitung gesehen, dass er damit geprotzt hat.«
»Wann war das?«
»Vor ein paar Tagen. So ein Hirni! Er kann sich doch echt denken, dass dann welche kommen und die holen.«
»Habt ihr diese Zeitung aufgehoben?« Roland schaute direkt Anita an, die am meisten Kontrolle über das Ganze zu haben schien.
»Das weiß ich gar nicht, kann schon sein, dass sie nicht weggeschmissen wurde, wenn es noch nicht lange her ist.« Sie ging in die Küche. Kurz darauf kehrte sie mit der Zeitung zurück und reichte sie ihm. Er blätterte zu dem Artikel mit dem Foto eines breit lächelnden Albert Hovgaard, die Goldmedaille um den Hals, fotografiert vor dem offenen Waffenschrank, wo die Waffen Seite an Seite hingen.
»Darf ich die Zeitung mitnehmen?«
»Klar, die wird sonst eh weggeschmissen.«
»Ja, die gibt euch doch einen Überblick darüber, was in dem Schrank an Waffen war. Hier serviert er die ja irgendwie auf dem Silbertablett«, grinste Brian.
»Doch nur, wenn irgendwelche Kriminellen auf gute Ideen kommen«, knurrte Linda. »Eigentlich sollte es nichts ausmachen, dass andere einen Einblick darin bekommen, was man besitzt, oder?!«
Roland faltete die Zeitung zusammen. Aber es waren ja immer die Kriminellen, die gute Ideen hatten. Er war geneigt, Brian hier Recht zu geben. Es war kein cleverer Zug gewesen, seine Waffensammlung so auszustellen, obendrein mit vollem Namen und Adresse. Natürlich nicht so viel schlimmer als die Homepages von Immobilienmaklern, auf denen sie interessante Flachbildschirme und andere technische Ausstattung vorführten. Aber waren die Waffen allein der Grund für den Einbruch und den Mord? Er stand auf, zog seinen Mantel an und bedankte sich für die Hilfe. Hier war leider nicht mehr zu holen, spürte er. Die meiste Zeit des Tages war mit Gesprächen vorübergegangen, nun musste er zurück ins Präsidium und das Ganze ins System eingeben. Es wurde dunkel und er war gespannt, ob weitere Spuren aufgetaucht waren. Er fürchtete, dass das nicht der Fall war, sonst hätten sie ihn wohl kontaktiert.
Anita brachte ihn zur Tür. »Gibt es überhaupt eine Chance, dass ihr die findet?«, wollte sie wissen.
»Es ist nicht viel herausgekommen, aber wir hoffen doch, das Auto zu finden, das an der Straße gesehen wurde.« Er öffnete die Tür. Ein eisiger Wind fuhr durch die Waschküche und ließ die Mäntel am Kleiderhaken flattern. Bei jedem Windstoß bauten sich auf dem Hof immer neue Schneewehen auf. Anita schlang die Arme um sich, um sich gegen die Kälte zu schützen. Roland zog die Handschuhe an und dankte ihr für den Kaffee. Er hatte das Gefühl, dass sie noch etwas sagen wollte, aber das Wort, zu dem sie ansetzte, formte sich zu einem Lächeln. Dann schloss sie die Tür.