Читать книгу Blaue Iris - Roland Benito-Krimi 11 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 10

Kapitel 6

Оглавление

Roland Benito war auch unter den Teilnehmern des Gedenkgottesdienstes in der Mallinger Kirche gewesen. Natürlich. Anne ärgerte sich immer noch darüber, nicht mit ihm gesprochen zu haben, aber er hatte sich am entgegengesetzten Ende der überfüllten Kirche befunden, wo mehrere Trauergäste an den Wänden entlang stehen mussten, und sie wollte nicht den Gottesdienst stören, indem sie sich einen Weg zu ihm bahnte. Als die Zeremonie vorüber war, hatte er sich lange mit einem Teenager unterhalten, den Anne schließlich als seine Enkelin Marianna wiedererkannt hatte – und plötzlich war er weg.

Nun tröstete sie sich damit, dass er bestimmt ohnehin noch nicht viel Neues zu berichten hatte seit der Pressekonferenz, als Iris gefunden worden war. Dabei hatte er an die Presse appelliert, ihre Familie nicht zu stören, die das Schlimmstmögliche erlebt hatte, was eine Familie sich vorstellen konnte, und selbstverständlich in tiefer Trauer war. Anne hatte gestern Abend einen etwas anderen Eindruck gehabt. Natürlich hatten August, Kaja und ihr Sohn Jakob während der Zeremonie Tränen der Rührung in den Augen gehabt, aber wer hatte das nicht? Sie selbst eingeschlossen. Als sie den leuchtenden Strom Fackeln sah auf dem Weg, den Iris nach Hause genommen hatte, war der Kloß in ihrem Hals so groß geworden, dass ihre Interviews mit den Teilnehmern des Zuges warten mussten, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte – und sie hatte Iris nicht mal gekannt.

„Bist du bald fertig?“, fragte Jytte Thomson und riss sie jäh aus ihren Gedanken. Anne war dabei, einen Bericht über einen weiteren Überfall auf dem Brabrandpfad zu redigieren, wo ein junger Mann niedergeschlagen und seines neuen iPhones und Portemonnaies beraubt worden war. Es gab also noch über anderen Kriminalstoff in der Stadt zu berichten als ausschließlich über die beiden Mordfälle.

„Ja, gleich. Warum?“

„Ich habe eine Besprechung mit dem Nachrichtenchef gehabt. Wir sollen in der kommenden Zeit den Fokus auf ein Thema legen, zusammen mit dem Hauptkanal.“

Jytte setzte sich an ihren Platz und spielte mit ihrem roten Kugelschreiber, der zu ihrem Brillengestell, dem Nagellack und ungefähr zu der Farbe der roten, lockigen Haare passte.

„Es geht um das Selbstwertgefühl der Jugendlichen und Mobbing. Immer mehr – selbst Kinder im Teenageralter – unterziehen sich plastischen Operationen, weil sie mit ihrem Aussehen nicht zufrieden sind. Es ist der Kampf darum, perfekt zu sein, auf den wir den Fokus legen sollen. Es muss ans Licht kommen, wie schwer viele Jugendliche es damit haben. Und du sollst mir helfen, Anne.“

Anne runzelte die Stirn.

„Und was hat das jetzt mit Kriminalfällen zu tun? Die

Polizei arbeitet an zwei Morden. Ist das nicht wichtiger als dass ein paar verwöhnte Tussis eine Schönheits-OP machen lassen, bloß weil ein Haar in einer Augenbraue in die falsche Richtung wächst?“

„Es geht ja nicht nur um verwöhnte Tussis, die Jungs sind auch in der Statistik vorne mit dabei. Natürlich ist es wichtiger, über die Morde zu berichten, wenn sich in den Ermittlungen etwas Neues tut, aber was willst du bis dahin machen? Hier rumsitzen und in der Nase bohren?“

„Ich will mich an den Kriminalstoff halten, der ist nun mal mein Fachgebiet. Ich finde, das ist viel wichtiger als die Sprösslinge von Tierkarten-Eltern, die nicht ihren Willen kriegen.“

„Tierkarten-Eltern?“

„Ja, die Sorte Eltern, die sich darüber beschwert, dass ihre Sprösslinge nicht alle Tierkarten für das Sammelalbum kriegen können, das Føtex und Bilka in der Werbung hatten. Oder Curling-Eltern oder Helikopter-Eltern – nenn sie, wie du willst.“

Anne sagte das, weil Jytte selbst so ein Elternteil war. Auch ihr Sohn wurde von vorn bis hinten bedient, ohne dass die geringsten Anforderungen an ihn gestellt wurden.

„Okay, dann kümmere ich mich einfach selbst um diese Sache hier“, sagte Jytte und zeigte Anne den Bildschirm ihres iPhones. Darauf war das Foto eines jungen Mädchens mit langen, schwarzen Haaren und einem netten, runden Gesicht.

„Was ist mit ihr?“

„Sie hat gerade versucht sich umzubringen, nach Aufforderung der Nutzer einer Hassgruppe, die gegen sie auf Facebook erstellt wurde.“

Anne riss die Augen auf. „Und die macht das einfach?“

Jytte legte den Kugelschreiber auf den Tisch und lehnte sich zu ihr herüber.

„In den sozialen Medien gibt es viel Mobbing, Anne. Einige der sensibleren Jugendlichen kommen damit psychisch nicht klar und dann kann es enden wie hier im Fall von Mille Søndervang – dass der Gemobbte versucht, sich das Leben zu nehmen. Glücklicherweise ist ihr das nicht gelungen, anderen aber schon. Meinst du immer noch, dass das nicht zum Thema Kriminalität gehört?“

„Ich habe natürlich von Selbstmord aufgrund von Mobbing gehört. Warum wurde sie überhaupt Opfer einer Hassgruppe?“, fragte Anne etwas interessierter.

„Es muss keinen besonderen Grund geben, es reicht, wenn du dich blamiert hast oder nach Meinung der anderen falsch aussiehst – ja, vielleicht, dass ein Haar in der einen Augenbraue in die falsche Richtung wächst. Milles Gesicht war wohl ein bisschen zu rund, um den Idealen zu entsprechen. Melonenkopf wurde sie unter anderem genannt.“

„Ich finde, sie sieht richtig nett aus, gerade wegen des runden Kopfes.“

„Ja, nicht wahr? Aber das Schlimmste war wohl auch, dass ein Ex-Freund ein Video von ihr auf YouTube gestellt hat. Sie war unter der Dusche.“

„Ach Gott, na und“, meinte Anne und gestikulierte dabei unwillkürlich mit den Armen.

„Ja, das sagst du! Aber so etwas kann ein junges, unsicheres Mädchen völlig aus der Bahn werfen. Besonders, wenn es nicht weiß, dass es gefilmt wird, und das ausgerechnet in einer Situation, wo es die Brause benutzte …“

Jytte sah sie an und hob vielsagend eine Augenbraue.

„Die Brause benutzte? Das macht man doch, wenn man duscht.“ Dann ging ihr ein Licht auf. „Ah, du meinst, Mille benutzte die Brause …“

Anne deutete auf ihren Schritt.

Jytte nickte. „Genau. Das war natürlich peinlich für sie und das Video wurde schnell überall im Internet geteilt. Erinnerst du dich nicht an sie?“

„Ich folge keinen Hassgruppen auf Facebook, Jytte.“

„Nein, aber sie war hier im Studio, um davon zu erzählen, dass sie in den sozialen Medien gemobbt wurde. Danach ist die Hassgruppe entstanden.“

„Was hat sie denn erwartet?“

„Wohl, dass das Mobbing aufhört. Dass sie einigen leid täte und sie mit ihr sympathisieren würden, aber es trat exakt das Gegenteil ein, und dann hat ihr Ex-Freund mit diesem Video sein Übriges beigetragen. Das war wahrscheinlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.“

Anne wusste nicht recht, ob sie sich in die Situation hineinversetzen konnte. Was war denn falsch daran, in der Dusche zu masturbieren? Das machten doch wohl alle? Natürlich war das eine private Situation, aber trotzdem. Selbstmordversuch?

„Es muss mehr dahintergesteckt haben. Wo sind ihre richtigen Freunde und ihre Eltern in dem Ganzen hier?“

„Tatsächlich war ihre Mutter diejenige, die sie aufgefordert hat, mit ihrem Problem ins Fernsehen zu gehen. Sie war damals mit im Studio.“

„Und du bist dir sicher, dass die Mutter nicht bloß ins Fernsehen wollte?“, fragte Anne und machte einen Punkt in ihrem Beitrag über den Überfall am Brabrandpfad.

„Jedenfalls hat sie ihre Tochter unterstützt. Mille war damals neu in der Schule, sie waren gerade in die Innenstadt gezogen. Daher dachte die Mutter, dass sie deswegen gemobbt wurde, aber nachdem sie versucht hat, sich das Leben zu nehmen, ist das Mobbing an dieser neuen Schule jetzt nur noch schlimmer geworden. Und unser Chef meint, dass wir die Episode des Themas dafür nutzen sollen, den Zuschauern zu vermitteln, wie schief es gehen kann, wenn man so etwas nicht Einhalt gebietet.“

Anne lehnte sich auf dem Stuhl zurück, verschränkte die Arme im Nacken und streckte sich. Das tat gut am Rücken.

„Wobei soll ich helfen – ja, also, nur während ich darauf warte, dass in der Ermittlung der Mordfälle etwas passiert?“

„Du kennst dich besser mit diesen sozialen Medien aus als ich. Könntest du versuchen herauszufinden, wer diese Hassgruppe initiiert hat? Es wäre mal eine andere Perspektive, den Mobber näher zu beleuchten, statt immer nur über das Opfer zu hören.“

„Ja, aber ich kann ja auch nicht einfach so …“

„Dir fällt schon was ein, Anne“, unterbrach Jytte, setzte die Brille auf und wandte sich ihrem Computerbildschirm zu. Anne wusste nur zu gut, was Jytte mit dieser Anspielung meinte; dass sie sich etwas einfallen lassen sollte. Etwas, auf das Jytte selbst sich nie einlassen würde. Und das war sicher auch richtig, denn Anne konnte sich nicht vorstellen, dass Jytte sich in einer Hassgruppe bei Facebook anmeldete. Anne holte einen roten Apfel aus ihrem Rucksack und polierte dessen Oberfläche an ihrem Pullover, bis sie glänzte.

„Weißt du wenigstens, wie diese Hassgruppe heißt?“, fragte sie und biss knackend in den Apfel.

Jytte blätterte in ihrem Notizblock. „Die heißt einfach ‚Hassgruppe für alle, die Mille Søndervang hassen‘.“

„Wie originell“, kaute Anne und loggte sich bei Facebook ein. Aber konnte sie sich einfach so anmelden? War sie mittlerweile nicht schon zu bekannt, wodurch alle wissen würden, dass sie ‚diese Journalistin‘ von TV2 Ostjütland war? Aber zum Glück konnte man sich bei Facebook ja problemlos als jemand anderes ausgeben.

Die geschlossene Gruppe hatte knapp 50 Mitglieder. Unter dem Namen Der Fink, von dem sie meinte, er würde gut in eine Hassgruppe passen, registrierte sie sich als Mitglied und wählte eine graue, anonyme Silhouette als Profilbild.

Es dauerte nicht lange, bis die erste Nachricht aufpoppte.

„Woher kennst du die peinliche Mille?“, fragte ein Mädchen, das Puk Gren hieß, falls das ihr richtiger Name war.

Anne dachte kurz nach.

„Aus der Schule, die ist echt so megapeinlich“, antwortete sie und tröstete sich selbst damit, dass sie das im Dienste einer guten Sache tat.

„Von ihrer alten Schule?“

„Ja, von der alten Schule“, antwortete Anne und dachte, dass die Schüler von dort den aktuellen Klassenkameraden wohl unbekannt waren.

„Gehst du immer noch auf die Schule?“

Anne zögerte mit den Fingern auf der Tastatur. „Ja.“ „Welche Klasse? Wenn das die gleiche ist, in die Peinlich-Mille ging, muss es immer noch schlimm riechen.“

„Es stinkt“, antwortete Anne und schickte ein kotzendes Emoticon mit grünem Kopf hinterher.

Puk Gren antwortete mit einem lachenden Smiley und schrieb: „Willkommen in der Gruppe.“

„Das war leicht“, bekannte Anne.

Jytte sah sie über den Brillenrand hinweg überrascht an. „Hast du schon herausgefunden, wer der Administrator ist?“

„Eine Puk Gren hat mich gerade in der Gruppe willkommen geheißen, aber ob sie der Admin ist, weiß ich natürlich nicht.“

„Finde es heraus, Anne. Mit diesem Mädchen müssen wir mal reden. Sie kann bestimmt sagen, warum sie so etwas macht. Wer schreibt sonst noch in der Gruppe?“

„Es sind 50 Mitglieder. Der eine schreibt etwas Schlimmeres als der andere, als ob sie sich in Grausamkeiten gegenseitig übertrumpfen müssten. Ich hoffe, Mille ist so klug, dass sie nicht mehr auf Facebook ist. Warum hat sie ihr Profil nicht einfach gelöscht und gesagt ‚Fick dich, Facebook und Hassgruppe‘?“

„Sie hätte es versucht, sagte sie damals, als wir sie interviewt haben, aber es gibt ja auch noch andere Arten, in unserer digitalen Welt bombardiert zu werden, daher kamen dann einfach Nachrichten per Messenger, E-Mail, SMS und Anruf.“

„Dann schalt das Handy aus!“

„Die Jugendlichen leben in einer anderen Welt, Anne. Es ist ihr Leben, in den sozialen Medien beliebt zu sein. Das ist wie eine Droge.“

Es irritierte Anne, dass Jytte mit ihr sprach, als ob sie steinalt wäre und so etwas nicht verstünde. Sie fühlte sich immer noch als eine der Jugendlichen, aber mit Mitte dreißig musste sie einsehen, dass sie weit hinterherhinkte. Womit konnte diese Hassgruppe verglichen werden, aus der Zeit, als sie selbst in diesem Alter war? Es hatte immer Mobbing gegeben, aber damals war das anders gelaufen. Man stand dem Opfer von Angesicht zu Angesicht gegenüber, wenn man nicht gerade einen Brief per Post schicken wollte, der tagelang unterwegs war. Und wenn man nur einen Funken Empathie besaß, konnte man schnell sehen, wie sehr die Worte den anderen verletzten. Wenn es hinter einem Computerbildschirm ablief und nur um Worte ging, war es viel zu leicht, andere zu beleidigen, und es war deutlich zu sehen, wie die negative Stimmung in der Gruppe ansteckte. Anne war nie gemobbt worden und soweit sie sich erinnerte, hatte sie auch niemanden gemobbt, war allerdings Zeuge gewesen, wie andere jemanden mobbten und hatte nur passiv zugesehen. War man dann so nicht irgendwie ein bisschen mitschuldig?

Anne las weiter in den vielen Beiträgen. Manchen gab sie ein Like, nur um zu zeigen, dass sie würdig war, in der Gruppe zu sein. Sie stieß auch auf das YouTube-Video. Das brauchte sie nicht zu sehen; sie wusste, wie man die Brause in der Dusche benutzte. Aber dann hielt sie plötzlich bei einem Namen inne, der ihr bekannt vorkam. Marianna Eriksen hatte ein paar Posts geliked. Natürlich hießen einige Marianna Eriksen, aber als Anne die Profilbilder der Gruppenmitglieder durchging und Marianna Eriksen fand, hatte sie keinen Zweifel. Das war sie; die Teenagerin, die sie gestern Abend zusammen mit ihrem Opa in der Kirche gesehen hatte. Roland Benitos Enkelin. Anne suchte nach dem Namen, um zu sehen, wie eifrig sie sich beteiligte und ob sie selbst etwas Fieses gepostet hatte. Anscheinend nicht. Aber ob Benito wusste, dass seine Enkelin Mitglied einer Hassgruppe auf Facebook war, die beinahe ein junges Mädchen in den Selbstmord getrieben hatte? Wahrscheinlich nicht.

Blaue Iris - Roland Benito-Krimi 11

Подняться наверх