Читать книгу Blaue Iris - Roland Benito-Krimi 11 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 14

Kapitel 10

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Der Aufzug hielt mit einem Ruck bei Annes Wohnung im Dachgeschoss in der Nordborggade.

Sie stand neben ihrer Tür und kramte nach den Schlüsseln, als sie ein Krachen aus Sabinas Wohnung nebenan hörte. Anne schaute auf ihre Uhr. Sie dachte, ihre Stiefschwester hinge wie immer mit Freunden aus der Journalistenhochschule ab.

Sie und Sabina hatten sich am Tag zuvor gestritten. Das war keine Seltenheit, aber dieses Mal war es ernster gewesen. Sabina war von dem Sachbearbeiter ihres Vaters kontaktiert worden. Torsten war auf Bewährung entlassen und wollte sich mit seiner Tochter treffen. Anne weigerte sich, ihren Stiefvater wieder in ihr Leben zu lassen und hatte Sabina verboten, ihm ihre Adresse zu geben. Es war zu einem heftigen Streit gekommen und schließlich hatte Anne wutentbrannt ihre Wohnung verlassen. Sie hatten noch nicht wieder miteinander gesprochen.

Eigentlich hatte sie ihren Zorn bereut, der wohl eher wilde Panik und Frust darüber war, dass Sabina sich mit dem Mann treffen wollte, der ihrer beider Kindheit zerstört hatte. Aber natürlich wollte sie das, Torsten war ja ihr Vater. Vielleicht hatte er sich durch die Zeit im Gefängnis verändert, wie Sabina sagte, aber Anne bezweifelte es, und wenn er es hätte, dann wohl nicht zum Besseren. Hoffentlich war er nicht schuld an dem Krach, den sie gehört hatte. Vielleicht hatte Sabinas schwarze Perserkatze mit den hässlichen gelben Augen etwas umgeworfen.

Sie ging rüber und klopfte.

„Wer ist da?“, rief Sabina hinter der geschlossenen Tür.

„Deine Schwester!“, antwortete sie. Das machte Sabina umgänglicher. Sie wollte sie nicht Stiefschwester nennen, sie seien mehr als das, sagte sie. Und Anne musste der Tatsache ins Auge sehen, dass sie mittlerweile eine ganze Menge zusammen durchgestanden hatten, was sie enger miteinander verbunden hatte als Anne eigentlich lieb war. Sie waren normalerweise in ihrem Hass auf Torsten vereint, der glücklicherweise lange in einem Gefängnis auf Seeland wegen Mordes hinter Gittern gesessen hatte. Da hätte Anne ihre Verbindung gerne gekappt, aber nun war die Stiefschwester in ihre Fußstapfen getreten, nach Aarhus gezogen, um Journalismus zu studieren, und obendrein ihre Nachbarin geworden. Torsten war zu dieser Zeit in das etwas sicherere Gefängnis in Enner Mark in Horsens verlegt worden, hatte Anne von ihrer Mutter erfahren. Vor einiger Zeit war er auf Bewährung entlassen worden und wieder nach Nørrebro gezogen - schön und gut, solange er sie bloß nicht kontaktierte. Und warum hatte er denn plötzlich Lust, seine Tochter zu sehen? Anne traute ihm jetzt genauso wenig wie damals, als sie als 14-jährige von zu Hause abgehauen war, um seinen Übergriffen zu entgehen. Sie war geflohen und hatte Sabina in seiner Obhut zurückgelassen. Das Schuldgefühl nagte an ihr. Welchen Dingen war das kleine Mädchen ausgesetzt gewesen?

Anne hörte, dass Sabina die Türkette aufhakte. Die hatte sie nach dem Erlebnis letzten Sommer anbringen lassen. Als ob die helfen könnte, wenn Terroristen reinwollten. Nicht mal Torsten konnte sie raushalten. Sie hatte selbst eine an ihrer Tür gehabt, als er damals vor vielen Jahren in ihre alte Wohnung eingebrochen war und sie überfallen hatte.

„Ann“, rief Sabina und öffnete die Tür mit einem überraschten Lächeln, das besonders breit wirkte hinter den schwarz geschminkten Lippen, die zum Augen-Make-up und den kurzen, zerzausten Haaren passten. Anne hatte geglaubt, dass sie den Goth-Look aufgeben würde, wenn sie in die Journalistenhochschule kam, aber für ihre Stiefschwester war das wohl ein Lebensstil, den sie offenbar nicht loslassen wollte. Sie hatte einen Golfschläger in der Hand.

„Störe ich?“

„Aber nein. Natürlich nicht, Ann.“

Auch mit diesem Ann musste Anne sich abfinden, obwohl sie klargemacht hatte, dass sie es nicht mochte. Sie hatte nicht gesagt, dass der Grund war, dass Torsten sie immer so nannte. Sie hieß Anne. Anne mit e.

„Darf ich denn reinkommen?“

Sabina entschuldigte sich verdattert und machte die Tür ganz auf.

„Was habe ich da für einen Krach gehört? War das die Katze? Wo ist sie?“ Anne sah sich nervös um. Normalerweise hatte sie keine Angst vor Katzen, vor dieser aber schon. Sie hatte sie angefaucht, als sie sie das erste Mal anfassen wollte, und Sabina war faktisch die Einzige, die sich ihr nähern durfte. Sie hatte es bei den Vorbesitzern nicht gut gehabt, hatte Sabina erklärt.

„Satan schläft auf dem Bett“, antwortete Sabina.

Anne lächelte. Das war doch ein perfekter Name für diese Tier. Sie stellte ihren Rucksack an die Wand und zog Mantel und Schal aus, während sie über Sabinas Schulter guckte um zu sehen, ob noch jemand bei ihr war. Aber da war keiner.

„Was ist passiert?“, fragte Anne wieder.

„Nichts, ich hab bloß den Tisch umgeworfen, als ich mit dem Schreibtischstuhl zurückgerollt bin. Darauf stand leider eine Vase mit Blumen.“

„Blumen? Blumen zu haben sieht dir ja gar nicht ähnlich!“

„Ich habe sie bekommen.“

„Hast du einen Verehrer?“, neckte Anne und beschloss die Streitigkeiten zu vergessen. Sabina war sicher zur Vernunft gekommen und hatte eingesehen, dass es eine dumme Idee wäre, sich mit ihrem Vater zu treffen. Aber dann bemerkte sie den Strauß weißer Lilien, die auf dem Boden inmitten von Wasser und Glasscherben von der zerbrochenen Vase lagen. Ihr süßer Gestank füllte die ganze Wohnung. Eine kalte Hand umklammerte ihre Kehle. Der Geruch beschwor Erinnerungen herauf. Sie hatte weiße Lilien seitdem gehasst. Torsten hatte ihrer Mutter immer so einen Strauß mitgebracht, wenn er nüchtern wurde und seine gewalttätigen Übergriffe bereute.

„Ich helfe dir“, sagte sie, sammelte schnell den Strauß vom Boden auf, warf ihn in den Mülleimer in Sabinas Küche und knallte den Deckel zu.

„Nein, Ann! Die konnte man doch leicht noch retten“, rief Sabina und riss den Deckel wieder auf, aber Anne hatte die Lilien so gründlich in den Eimer gedrückt, dass es nicht mehr möglich war.

„Die waren von ihm, stimmt’s?“, fragte sie und fing an, die Glasscherben vom Boden aufzusammeln.

„Ich weiß, dass du ihn nicht sehen willst, Ann. Ich müsste auch … aber er ist mein Vater, und …“

„Und warum zum Teufel schickt er dir Blumen? Du erinnerst dich doch sicher, was er dir – uns – angetan hat, oder?“

„Natürlich, aber das ist viele Jahre her. Vielleicht muss ich ihm wieder persönlich gegenüberstehen. Ihm in die Augen sehen. Er kann mir jetzt nichts mehr tun.“

Sabina holte einen Besen und fegte die Glasscherben zusammen. Anne nahm den Lappen und wischte das Wasser auf. Sie dachte, dass die umgefallene Vase und die geknickten Lilien ein Zeichen, eine Warnung vor Zerstörung waren. Sie stand auf und wrang den Lappen aus. Ein kleiner Glassplitter brachte den Daumen zum Bluten. Eine weitere Warnung. Sie warf den Lappen in den Eimer und holte ein Stück Küchenrolle.

„Hast du dich geschnitten?“, fragte Sabina besorgt.

„Nein, nichts passiert.“

„Naja, wenigstens kommt es nicht aus der Nase“, sagte Sabina und bezog sich auf Annes häufige Anfälle von Nasenbluten.

Sie ignorierte den Kommentar.

„Warum sollte er dir jetzt nichts mehr tun können?“

„Ich bin erwachsen, Ann. Was sollte er tun können?“

„Meine Mutter war erwachsen, das hat ihn nicht gehindert.“

„Ich weiß.“ Sabina setzte sich traurig auf den Schreibtischstuhl vor ihren Computer. „Ich wollte nur einfach hoffen, dass alles wieder gut werden könnte. Der Hass macht uns kaputt, das weißt du?“

Anne setzte sich auf die Schreibtischkante. „Klar weiß ich das, aber …“ Sie schaute auf ihren Finger.

„Brauchst du ein Pflaster?“, fragte Sabina.

„Nein danke, es blutet nicht mehr.“

„Magst du dann was anderes haben? Irgendwas Warmes vielleicht? Mokka?“ Sabina rieb ihre nackten weißen Arme, als fröre sie plötzlich.

Anne schüttelte den Kopf. Sie hatte heute in der Redaktion genug Kaffee getrunken. Dann sah sie das Dosenbier auf Sabinas Schreibtisch neben ihrem Computer.

„Hast du noch mehr davon?“

Sabina nickte und holte noch ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank. Sie reichte es Anne.

„Woran arbeitest du?“ Anne schaute neugierig auf Sabinas Computerbildschirm. Sie hatte auch keine Lust mehr, über Torsten zu reden.

„Das ist eine Aufgabe, die wir in der Schule bekommen haben. Wir sollen lernen, wie man einen Webblog macht.“

Sabina drehte eifrig den Schreibtischstuhl zu ihrem Computer. Sie nahm die Logitech-Maus, die genauso schwarz war wie ihr Nagellack. Anne konnte nicht umhin zu lächeln. Es verblüffte sie zu sehen, wie sehr ihre Stiefschwester in den Aufgaben aufging, die sie in der Journalistenhochschule bekam.

„Ich habe einen Krimiblog gemacht.“

„Einen Krimiblog? Wovon handelt der?“

„Ich schreibe über Mordfälle, sodass die Leute es mitverfolgen und Tipps abgeben können, was passiert ist. Es ist ein bisschen abgefahren, es sind schon über 1000 Follower.“

„Krass!“, meinte Anne und nahm einen Schluck von dem kalten Bier.

„Ich schreibe über dieses Mädchen, das sie unter dem Eis in einem Ruderboot im Norsminde Fjord gefunden haben, aber ich weiß nicht besonders viel, weil so wenig rausgekommen ist. Kannst du mir helfen?“

„Ich weiß auch nichts, Sabina. Nicht mehr als das, was in den Nachrichten erwähnt wird. Aber woher weißt du das alles? Und woher hast du die Fotos?“

Der Blog, den Sabina gemacht hatte, ähnelte der Pinnwand einer Mordkommission. Es gab Fotos von Iris Bøgh Lykkegaard, natürlich nicht aus der Rechtsmedizin, aber einige davon sahen privat aus. Es gab auch Bilder von der Polizei, die hinter den Absperrbändern beim Norsminde Fjord arbeitete. Anne erkannte Roland Benito; auf einem der Fotos unterhielt er sich mit einigen Beamten. Es gab Bilder von der Gedenkfeier in der Kirche vom gestrigen Abend. Sabina war nicht da gewesen, also wer hatte sie gemacht?

„Erik hilft mir. Sein Bruder arbeitet bei der Polizei.“

„Das ist sicher nicht ganz legal. Wer ist dieser Bruder?“ Sabina zuckte gleichgütig die Schultern.

„Das könnte eine win-winSituation geben, falls ich etwas auf diesem Blog erfahre, was auch der Polizei helfen kann.“

Anne verschränkte die Arme und sah auf ihre Stiefschwester herab.

„Und was sollte das sein?“

„Du kannst dir einfach mal ein paar von den Kommentaren ansehen, die die Leute schreiben. Hier meint einer, dass die Frau, die auf dem Feld zusammen mit ihrem Hund getötet wurde, Iris ermordet hat. Sie war offenbar Lehrerin an der Askholt Privatschule, auf die Iris ging.“

„Pensionierte Lehrerin. Sie war da nur als Freiwillige“, stellte Anne richtig. „Aber das weiß die Polizei natürlich schon, Sabina.“

„Ja, aber guck dir mal diesen Kommentar von heute Morgen an.“

Sabina deutete darauf und sie stießen beinahe mit den Köpfen zusammen, um am Bildschirm zu lesen.

Der Kommentar stammte von jemandem, der sich Der Poet nannte. Anne schauderte, ohne so richtig zu wissen, warum. Es war fast ein Gedicht:

Iris verwelkt im Tod.

Blaue Iris lebt auf des Grabes Eis im Morgenrot.

Iris ist hübsch und kalt und tot.

In ihrem Schoß breitet sich das Eis rot.

„Da draußen gibt es so viele Verrückte, Sabina. Frag mal deinen Polizistenfreund, wie viele Hinweise sie in Mordfällen von kranken Personen erhalten, die nur Aufmerksamkeit haben wollen.“

„Das ist er sicher auch, dieser Poet hier – falls es ein Er ist. Was bedeutet ‚Blaue Iris lebt auf des Grabes Eis im Morgenrot‘? Iris liegt doch wohl immer noch in der Leichenhalle der Rechtsmedizin? Hast du etwas von irgendwelchen blauen Iris gehört?“

Anne schüttelte den Kopf. Gleichzeitig glitten ihre Gedanken zurück zu den beiden großen Fotografien von Iris’ blauen Augen an August Bøgh Lykkegaards Wand. Sie beschloss, sich morgen bei ihm zu melden und vielleicht die Untersuchung machen zu lassen, über die er gesprochen hatte.

„Nein. Siehst du, Sabina, da will sich nur einer interessant machen“, sagte sie und leerte die Bierdose.

Blaue Iris - Roland Benito-Krimi 11

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