Читать книгу Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 10

Kapitel 6

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Er war sich nicht ganz sicher, ob sie es war, die er durch das Fenster auf der Treppe vor dem Bahnhof zusammen mit Martin Dalum und der TV-Crew stehen sah. Er kniff die Augen vor dem blendend hellen Licht zusammen, das in den Schmelzwasserpfützen über dem Betonsteinpflaster reflektierte.

Doch, sie war es. Ihr Haar war länger geworden. Es sah aus, als wäre sie geschminkt, was ihr gar nicht ähnlich sah. Vielleicht war es nur die Entfernung, die sie besser aussehen ließ. Doch was machte sie da mit der bekannten Journalistin von TV2 Ostjütland? Hieß es nicht, dass sie gerade erst bei Media House Denmark gefeuert worden war, noch bevor sie dort so richtig angefangen hatte? Er hatte gehört, dass der Auslöser dafür ein Artikel gewesen sein sollte, den sie über eine Angelegenheit geschrieben hatte, die sein Leben grundlegend verändert hatte. Scheinbar auch das ihre. Sie hatte einen guten Freund verloren und war obdachlos geworden, als ihre Wohnung in der Frederiks Allee abgebrannt war. Er selbst musste damals eine der schwierigsten Entscheidungen treffen, vor die er in seinem Arbeitsleben je gestellt worden war. Auch sie hatte offenbar eine Entscheidung getroffen. Hatte sie bereits den ersten Fuß in der TV-Branche? Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Anne Larsen ging durch jegliches Feuer und Wasser – buchstäblich.

Roland Benito konzentrierte sich wieder auf den Fall auf seinem Bildschirm. Ein Disziplinarverfahren aus Odense, in dem ein Mann wegen des Sprachgebrauchs eines Polizeibeamten während der Festnahme klagte. Der Festgenommene war angeblich aufgefordert worden, seine beschissene Fresse zu halten. Man hatte den Beamten verhört, der erklärt hatte, wie es dazu gekommen war und unter welchem Druck er in der Situation gestanden hatte. Zu wenig Schlaf, ein heftiger Migräneanfall, Probleme mit seiner Frau, die sich scheiden lassen wollte und mit der Tochter, die Spastikerin war und an jenem Morgen einen ihrer schlimmsten Anfälle seit Langem gehabt hatte. Außerdem gab es Schwierigkeiten mit dem Wohnheim, in dem sie untergebracht werden sollte. Davor hatten er und ein Kollege – nach eigener Aussage – eine halbe Stunde damit zugebracht, eine Gruppe Jugendlicher aufzufordern, einen Platz zu verlassen, an dem sie ein paar Gleichaltrige schikaniert hatten. Ein Händler eines nahegelegenen Geschäfts hatte sich darüber beschwert. Der Festgenommene hatte die Beamten als Idioten, Panzerschweine, verfickte Rassisten und Schlimmeres beschimpft. Doch das rechtfertigte das unkorrekte Verhalten des Beamten noch nicht. Roland wusste das nur allzu gut. Wie oft hatte er selbst tief durchatmen müssen, um nicht auszurasten, sondern sich wie ein dazu ausgebildeter Beamter zu verhalten, der gelernt hat, Provokationen solcher Art zu ignorieren. Er schielte auf den Heiligenschein über seinem Kopf, als er sich daran erinnerte, wie er selbst einmal nahe dran gewesen war, die Grenze zu überschreiten. Sehr weit zu überschreiten. Nicht nur verbal. Doch das wusste nur Irenes Angreifer, der nun hinter verriegelten Türen in einem der sichersten Gefängnisse des Landes saß – und sein früherer Partner Mikkel Jensen. Und eigentlich war damals ja auch nichts passiert …

„Was ist los, Benito? Ist was passiert? Bist du eingeschlafen?“

Erschreckt sah Roland seinen Kollegen, Mark Haldbjerg, an; er hatte ihn überhaupt nicht zurückkommen hören.

„Nichts Großartiges, aber ich habe einen Fall abgeschlossen. Woran arbeitest du?“

„An einem Polizeieinsatz. Ein Polizeibeamter aus dem Präsidium hat scheinbar bei einem Raub in einem Sportladen gestern Abend einen Schuss abgegeben.“

„Wer?“, platzte es aus Roland heraus.

„Daraus wird kein Fall für dich, Roland. Das weißt du doch. Willst du ein Lakritz?“

Er streckte ihm ein blaues Gajol-Schächtelchen entgegen.

Roland bejahte beides mit einem Nicken. Sein Mund war vom Kaffee ganz ausgetrocknet und er hatte das Verlangen nach einem frischen Geschmack im Mund. Er kannte die Regeln, über die er bei seiner Einstellung äußerst gründlich informiert worden war. Wenn ein Ermittler dem unter Verdacht stehenden Beamten zu nahestand oder wenn er auch nur auf der gleichen Polizeistation tätig war, durfte er den Fall nicht bearbeiten. Es war ein ewiges Spannungsfeld, in dem sie sich ständig bewegten. Die Polizei betrachtete die Ermittler an der Beschwerdestelle als viel zu beflissen und emsig, während die Öffentlichkeit, also die Seite, die gegen die Polizei klagte, das glatte Gegenteil behauptete und sie beschuldigte, der Teamgeist würde sie parteiisch und zu milde der Polizei gegenüber machen. Für die DUP, immer zwischen den Stühlen, hatte niemand Verständnis. So war es nun einmal. Mark hatte früher an der Kopenhagener Polizeistation City gearbeitet und hatte keinerlei Beziehungen zu den Beamten der Polizei von Ostjütland, daher sollten sich er und ein Kollege um den Fall kümmern.

Roland pickte eine schwarze Pastille aus der Packung.

„Danke. Ist jemand zu Schaden gekommen?“

„Einer der flüchtigen Täter ist getroffen worden. Ich und Kjær, wir haben uns den Tatort am Telefonplatz angesehen, weil wir diese Woche ja Bereitschaftsdienst hatten, aber das Projektil ist nirgends zu finden. Die Techniker der Reichspolizei hatten bis jetzt auch kein Glück. Armer Dalum – er ist für diesen Fall zum Pressekontakt berufen worden. Hast du nicht gesehen, wie er dort unten von der Presse ausgesaugt wurde?“

Roland nickte. „Was ist mit dem Opfer passiert?“

Mark setzte sich. „Anscheinend nichts, jedenfalls sind die Diebe in einem gestohlenen Wagen geflohen. Nimm dir ruhig noch ein paar“, ermunterte er ihn und streute ein paar Lakritzpastillen auf den Tisch neben Rolands Tastatur.

„Möchtest du den Spruch hören? Der Gerechtigkeitssinn der meisten ist vorbildlich, solange sie selbst kein Teil der Angelegenheit sind“, las er laut vom Deckel der Packung ab. „Der ist gut!“, grinste er.

„Stimmt. Sollten wir fast vergrößern und einrahmen lassen“, antwortete Roland und benutzte Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand dazu, noch ein paar von den kleinen, schwarzen Lakritzstücken vom Tisch aufzusammeln. Die Finger seiner rechten Hand folgten ihm nicht immer so, wie er es wollte. Die Ärzte hatten ihm gesagt, er würde von der verhängnisvollen Begebenheit auf Sizilien keine dauerhaften Schäden davontragen, und er hatte auch niemandem davon erzählt – nicht einmal Irene. Doch dieses Problem hatte zur Entscheidungsfindung, sich bei der DUP zu bewerben, beigetragen, als er gesehen hatte, dass sie einen neuen Ermittler suchten. Er wollte nie wieder die Möglichkeit haben, eine Waffe zu benutzen, und das hatte er hier nicht. Ermittler machten keinen Gebrauch von Machtinstrumenten, weder von Pistolen noch von Handschellen, Schlagstöcken oder Pfefferspray. Es hatte ihn gefreut und auch verwundert, dass er den Job bekommen hatte – dass er mit seiner Vorgeschichte überhaupt in Betracht gezogen wurde. Die Entscheidung hatte sich auch ziemlich lange hingezogen, sodass er schon fast die Hoffnung verloren hatte und sich nach etwas anderem umsehen wollte, doch dann war er zu einem weiteren Gespräch eingeladen worden. Man kannte ihn in der Polizeibeschwerdestelle und wusste, dass er ein guter Ermittler mit einer hohen Erfolgsquote war und dass er einen guten Ruf im gesamten Korps hatte. Die DUP hatte einen der Anklagepunkte in seinem Disziplinarverfahren behandelt und großen Wert darauf gelegt, dass er kooperativ war. Das war eine der wichtigsten Eigenschaften ihrer Ermittler: ein sehr hoher Grad an Integrität. Er war gebeten worden, sich zu überlegen, ob er sich von seinen alten Kollegen losreißen könnte, die ihn danach vielleicht schief ansehen oder gar als Verräter betrachten würden, aber er hatte nicht lange gezögert. Und nicht eine Sekunde lang hatte er seine Entscheidung bereut. Bis jetzt hatte er auch noch keinen der Kollegen aus dem Präsidium getroffen. Bewusst? Er wusste es nicht recht und grübelte oft darüber nach, wie es werden würde, wenn es geschah. Stimmte es wirklich, dass sie ihn als einen Verräter ansahen? Er diente ihnen doch auch. Dem Recht. Er arbeitete im Namen der Wahrheit. Es war seine Aufgabe, die Wahrheit in den zu untersuchenden Fällen ans Licht bringen, ohne dabei Partei zu ergreifen. Die Wahrheit für alle Beteiligten. Konnten seine ehemaligen Kollegen das wirklich als Verrat bezeichnen?

„Aber weiß man mit Sicherheit, dass es der Polizist war, der geschossen hat?“, fragte er kauend.

„Zeugen, Roland. Heutzutage gibt es zu jeder Tages- und Nachtzeit Zeugen. Smartphones hat man schnell zur Hand und einer, der dort auf den Bus gewartet hat, hat die ganze Szene aufgenommen.“

„Haben sie wirklich einen Einbruch in so einer stark belebten Gegend durchgezogen? Das ist doch total riskant.“

„Eigentlich gar keine so schlechte Idee. Keiner rechnet damit und der Adrenalinkick ist bestimmt auch größer. Einige Mitarbeiter waren gerade am Zuschließen, als vier Typen reingeplatzt sind und Pfefferspray versprüht haben. Einer der Verkäufer ist gestorben. Er litt an einer Lungenkrankheit und hat das Spray nicht vertragen.“

„Stimmt einen nachdenklich, dass die Kriminellen nun auch schon Pfefferspray benutzen.“

„Naja, man kann es eben legal und billig in Deutschland kaufen.“

„Hmm. Ein gewöhnlicher Raub endet also in Totschlag?“

„Ja, aber das ist wirklich nicht unser Bier, Roland. Darum muss sich das Präsidium kümmern. Du spielst doch nicht etwa mit dem Gedanken, wieder zurückzugehen, oder?“ Mark lächelte scherzhaft.

„Nein, gar nicht, wir …“

Er wurde vom Telefon unterbrochen, das klingelte. Mark hob ab und lauschte ernst, nickte und legte nach ein paar kurzen Kommentaren, denen Roland keine Informationen entnehmen konnte, wieder auf.

„Wer war das?“

„Der Chef. Sie haben drei der Räuber gefunden. Alles Jugendliche. Die Beschreibung trifft zu. Einer von ihnen hat offenbar in diesem Laden gearbeitet, in dem der Raub stattgefunden hat. Ein anderer ist von einer Kugel am Arm getroffen worden. Man kann jedoch noch nicht sagen, ob er aus der Dienstwaffe stammt. Nicht solange das Projektil noch nicht gefunden nicht, es ist jedoch erst kürzlich passiert, also …“

Mark starrte gedankenverloren aus dem Fenster.

Roland räusperte sich.

„Werden die Jungs auf dem Präsidium verhört?“

„Das ist leider nicht mehr möglich. Man hat sie alle drei erhängt im alten Tulip-Gebäude aufgefunden.“

Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8

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