Читать книгу Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 6

Kapitel 2

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„Verdammter Köter!“

Er hasste ihn. Es war der Hund seiner Frau. Hätte er die Wahl gehabt, hätte er sich sicher nicht für diese Rasse entschieden, sondern für einen großen Hund. Einen, der den Leuten Respekt einflößte, wenn man mit ihm spazieren ging. Kein Kampfhund natürlich. Nicht diese Art von Respekt. Vielleicht ein Schäferhund, oder ein Dobermann – eben einer, der auch im Privatheim Wache halten konnte. Kein Schoßhündchen wie Kvik – allein schon der Name! Er wollte doch nicht mit dem Schweinehändler aus der dänischen TV Serie Matador verwechselt werden, auch wenn so manch einer darauf bestand, dass er Ähnlichkeit mit dem Darsteller Buster Larsen hatte. Kvik war ein dänisch-schwedischer Gaardhund und hätte bestimmt ein guter Wachhund werden können, wenn er von klein auf richtig erzogen worden wäre. Aber wer hatte schon Zeit für so etwas? Das Gassi gehen war jedoch eine gute Möglichkeit, um von zu Hause wegzukommen und bei sich selbst zu sein, in Ruhe seine Zigarette zu rauchen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Deshalb machte er es freiwillig.

Sigurd Karlsson nahm noch einen Zug und hörte die Bahn auf der anderen Seite des Hains vorbeiheulen. Er zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht. Er ging fast jeden Tag die gleiche Route auf den Pfaden hinter dem grünen Wohngebiet Helenelyst.

Noch einmal rief er den Hund und versuchte dabei, den Ärger in seiner Stimme zu verbergen. Es war zwecklos; der Hund folgte sowieso nicht. Er hatte sich losgerissen und war abgehauen, während Sigurd beide Hände gebraucht hatte, um, sich eine Zigarette anzustecken, weil er die Flamme vor dem Wind schützen musste. Er schaffte es nicht mehr rechtzeitig, die Leine zu schnappen, die mitsamt Kvik auf dem schneebedeckten Pfad zwischen den Bäumen aus seinen Augen verschwand. Das hatte das Vieh noch nie gemacht. Es war, als würde es von etwas Unwiderstehlichem angezogen. Auf der anderen Seite des Hains stand das verlassene Schlachthaus der Tulip-Fabrik in jämmerlichem Zustand. Wenn nun Kvik dort hineingelaufen war … dort wollte er wirklich keinen Fuß hineinsetzen. Nie wieder. Einst herrschte dort drinnen Leben und Bewegung bei der Produktion von Abendgerichten und Dosenschinken. Rund 190 Mitarbeiter bestritten dort ihre täglichen Arbeitsabläufe – unter ihnen er selbst und seine Frau bis Tulip beschloss, den Schinken von nun an billiger im Ausland zu produzieren.

Es war nicht schwer, der Fährte des Hundes durch den tauenden Schnee zu folgen. Außer dessen frischen Pfotenabdrücken waren keine anderen Spuren zu sehen. Er beruhigte sich selbst damit, dass vor dem Fabrikgebäude ein Stahlzaun angebracht war, sodass der Hund bestimmt nur davorstehen und gaffen würde.

Vorsichtig bahnte er sich einen Weg durch die Bäume, schob Zweige zur Seite und erreichte den Weg. Kvik war nicht am Zaun zu sehen, doch als er näherkam, sah er, dass ein großes Loch hineingeschnitten war. Die Spuren führten durch das Loch hindurch, hinein in das Gelände und verschwanden im Wasser, wo der Schnee schon geschmolzen war. Tulip hatte vor Jahren seine Pforten geschlossen, daher konnte es wohl kaum Fleischgeruch sein, der ihn angelockt hatte. Verflucht noch mal! Er hatte Lust, umzudrehen und seiner Frau zu erzählen, dass der Hund abgehauen war und schon seinen Weg nach Hause finden würde, wenn er hungrig wäre. Doch was, wenn er auf dem Weg zu den Bahnschienen war? Er sammelte sich, folgte dem Zaun und blieb längere Zeit höchst verwundert vor der geöffneten Schranke und dem mit Graffitis übermalten Fabrikgebäude stehen. Der Zugang war frei. Zögernd steuerte er auf den nassen, schwarzen Asphalt zu und zog seine karierte Outdoorjacke fester um sich. Seit die Fabrik zugemacht hatte, hatte er sich nie mehr so nahe an sie herangewagt. Er hatte hier nichts mehr zu suchen; niemand hatte das. Nur dubiose Gestalten trieben ihr Unwesen in diesem Gebäude, das gleichzeitig als lebensgefährlicher Spielplatz von den Kindern im Viertel missbraucht wurde. Junge Randalierer stahlen Eisen aus der Ruine und schraubten auf dem Gelände an Autos herum. Obdachlose zogen hierher, um Schutz vor Schnee und Wind zu suchen, und hinterließen abgenutzte Matratzen, leere Konservendosen und anderen Müll. Er hatte auch gehört, dass die Naturschutzvereinigung Pläne zu einem Bauprojekt über rund 400 neue Wohnungen verhindert haben sollte, mit der Begründung, es handle sich hier um ein Naturschutzgebiet. Die Natur in all ihrer Schönheit – genau! Wie konnte man so etwas durchgehen lassen? Warum wurde dieses Gebäude nicht einfach abgerissen? Lieber Ziegeltrümmer als diese gefährliche Ruine! Unter seinen Schuhen knirschte es. Sämtliche Scheiben waren mit Steinen eingeschlagen worden, die inmitten tausender Glassplitter über den Boden verstreut lagen. Einige dieser Steine waren kreisförmig platziert worden, wie eine Art okkultes Symbol. Seine Brille beschlug. Verzweifelt fluchte er erneut und rieb die Gläser am Futter der Jacke.

„Kvik, verdammt noch mal, komm her, du dummer Köter!“

Diesmal war seine Wut deutlich hörbar. Die Stimme hallte im leeren Gebäude nach. Plötzlich erblickte er Blut zwischen den Glasscherben. Genug, um ihn erschaudern zu lassen. Weiter vorn war ein deutlicher Abdruck einer blutigen Pfote am Boden zu erkennen. Ein Tier musste sich geschnitten haben. Eine Katze vielleicht. Oder Kvik?

„Kvik, komm schon! Kviiik?“

Seine Stimme hatte ganz automatisch einen sanfteren Ton angenommen, beinahe entschuldigend und tröstend, vielleicht auch ein wenig ängstlich. Er wollte nicht hier drinnen sein, in diesem verlassenen Schlachthaus. Was hatte Kvik bloß hier hineingezogen? Gemischte Gefühle an eine Vergangenheit am Arbeitsmarkt, den er sowohl hasste als auch vermisste, kamen in ihm hoch. Graffitikünstler hatten sich mit bunten Farben an den weißen Fliesen ausgetobt. Vielleicht sollte das schön aussehen, er hatte jedenfalls kein Gespür dafür. Ein seltsamer Kontrast zwischen Verfall und Kunstinstallation. Immer wieder pilgerten Amateurfotografen zu diesem Gebäude, um Bilder zu schießen, wie ihm zu Ohren gekommen war; jetzt verstand er besser, warum.

Er betrat einen großen Raum. Die Schlachthalle. Er stellte sich vor, wie sie damals ausgesehen hatte: die toten Schweine, wie sie an ihren Haken hingen und die Schlachthausmitarbeiter, die fleißig mit ihren scharfen Messern zugange waren; der Geruch von Blut und rohem Fleisch, das Geräusch der Sägen; die Kollegen, die er nie mehr wiedersah. An dieser Stelle am Boden musste kürzlich ein Feuer gebrannt haben. Bestimmt ein paar Obdachlose, die sich warmhalten wollten. Die Decke war hoch. Teile des Stahlrohrsystems waren noch erhalten. Andere Streben waren heruntergebrochen oder hingen wie unbrauchbare Fallrohre von der Decke. Es könnte riskant sein, sich hier aufzuhalten, konnte doch jederzeit mehr davon herunterfallen. Er überlegte, ob er nicht doch umdrehen sollte, vielleicht war es ja gar nicht Kviks Blutspur gewesen, doch dann ließ ein lautes Hundegebell seinen angespannten Körper aufschrecken.

„Kvik, wo bist du? Komm her!“

Er pfiff.

Weiter hinten in der Halle erblickte er ihn endlich. Der Hund kläffte und sprang in die Höhe, als wolle er nach etwas schnappen, das Sigurd wegen des eingestürzten Plafonds von hier aus nicht sehen konnte. Nun erkannte Kvik auch ihn und kam ekstatisch wedelnd angelaufen. Er hatte etwas in der Schnauze. Es war ein Schuh. Ein brandneuer Sneaker in einer Herrengröße. Er nahm einen tiefen Atemzug und folgte dem Hund mit hölzernen Bewegungen.

Der Junge war bestimmt nicht älter als fünfzehn oder sechzehn. Sein Kopf hing schlaff über seiner Brust herab. Die Arme baumelten kraftlos in der Luft. Die Füße waren ein wenig unbeholfen gekrümmt, als stünde er, in Verlegenheit geraten, auf seinen Zehen. Einem der Füße fehlte ein Schuh. Mit diesem fuchtelte Kvik vor seiner Nase herum und wollte spielen, ihn auffordern, den Schuh zu werfen, damit er ihn voller Elan wieder zurückholen konnte. Wie sie es zu Hause mit dem Ball immer machten. Doch er stand wie gelähmt da und starrte den Jungen an. Seine Socke war grauschwarz gestreift, der große Zeh hatte ein Loch durch ihn gebohrt. Er wusste nicht, was er machen sollte. Es war zu spät, das Seil durchzuschneiden. Halb geschmolzener Schnee lag auf den Schultern der nassen Jacke. Er musste die ganze Nacht lang so dort gehangen haben. Der Schnee war wohl durch die eingeschlagenen Scheiben in Deckenhöhe hineingeweht worden. Das Seil hatte sich tief in die weiße Haut des Halses gebohrt. Kvik bellte erneut, sprang nach dem anderen Schuh und stieß den Toten an, sodass der Junge plötzlich aussah, als würde er sich bewegen. Sigurd befürchtete, das Seil würde sich mitten durch den dünnen Hals schneiden.

„Hör auf, Kvik! Lass das! Komm, wir gehen heim.“

Das war sein erster Einfall. Er wollte sich in nichts einmischen. In letzter Zeit hatte es mehrere Selbstmorde in der Stadt gegeben. Die Lokalzeitung schrieb von nichts anderem mehr. Selbstmord war seiner Meinung nach eine zynische und egozentrische Problemlösung und für die, die diesen Ausweg wählten, hatte er nichts übrig. Schon gar nicht für die jungen Leute, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Doch heutzutage waren sie einfach zu verwöhnt und ertrugen keine Misserfolge mehr. Aber bitte, wenn sie nicht mehr leben wollten … Er versuchte, Kviks Halsband zu schnappen, doch der Hund entwischte wieder und lief noch tiefer in das Gebäude, wo er wieder zu bellen begann. Getrieben von – er wusste nicht was – folgte er passiv dem Gebell. Schon wieder sprang Kvik in Richtung Decke. Langsam richtete Sigurd seinen Blick nach oben. Ein Tropfen Schmelzwasser traf ihn im Gesicht, doch der Anblick dessen, was er über sich sah, machte den kalten Schauder bedeutungslos. Sie hingen nebeneinander. Die Pfütze unter ihnen war bestimmt kein Schmelzwasser. Hier stank es nach Pisse. Sowohl Darm als auch Blase entleeren sich, wenn man stirbt, hatte er gehört. Kein angenehmer Gedanke. Mittendrin lag eine gestrickte Mütze. Auf dem Kopf des anderen Jungen saß eine schief über das eine Auge gerutschte Baseballmütze. Handelte es sich hierbei um Massenselbstmord? Davon hatte er schon einmal etwas gelesen, aber das war in den USA gewesen. Wie waren sie da hinaufgekommen und wie hatten sie sich von den Rohren mit den Seilen, an denen sie jetzt hingen, hinuntergestürzt? Sein Hirn versuchte eine logische Lösung für das zu finden, was er sah, doch es fiel ihm keine ein. Letztendlich war Kviks Gebell das Einzige, was er noch verstand.

Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8

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