Читать книгу Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 8

Kapitel 4

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Schneehaufen, Eis und Schmelzwasser vermischten sich in der Sonne auf den dem Winter trotzenden Feldern mit grau verdorrtem Gras. Der Himmel war klar und blau, die Luft rau und mit einem Hauch Frost versetzt, der die ländlichen Gerüche verharmloste, von denen er wusste, dass sie da waren.

Benjamin Trolle kniff die Augen zusammen, denn er wollte nicht nach seiner Sonnenbrille suchen, die sich irgendwo in seiner Tasche befand. Mit resolutem Schritt marschierte er vorwärts, nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, und plötzlich überkam ihn das enttäuschende Gefühl, dass es nicht so war, wie er es sich all die Jahre lang vorgestellt hatte. Er hatte den festen Entschluss gefasst, sich, wenn der Tag einst käme, nicht mehr umzudrehen. Er wollte nicht zurückschauen. Doch der Drang war zu groß; noch bevor er den Parkplatz verlassen hatte, hatte er es getan, hatte sich umgedreht und die topmodernen Gebäude angesehen, die gar nicht mehr dem glichen, was sie einmal gewesen waren. Rechteckige, gelbe Backsteinfassaden und an die ländliche Umgebung angepasste Zinkdächer. Nur die sechs Meter hohe, beidseitig mit Stacheldraht versehene Ringmauer, die Masten mit den Kameras und die mit Sensoren ausgestatteten Kabel, die an den Zaun aus Jurassic Park erinnerten und jeglichen Gedanken an Flucht lächerlich machten, verrieten, dass es sich hierbei nicht um einen modernen Kurort, ein Krankenhaus oder etwa einen hübschen neuen Wohnkomplex handelte, sondern dass hier wilde Tiere eingesperrt waren. Monster, die nicht das Recht hatten, gemeinsam mit normalen, rechtschaffenen Menschen zusammenzuleben, die einer sicheren Umgebung bedurften. Vor hier aus sah die Strafanstalt Ostjütlands leer und verlassen aus, doch er wusste nur zu gut, dass sich hinter den Mauern viel mehr abspielte, als sich in der prächtigen Fassade widerspiegelte.

Vögel erhoben sich von der Umzäunung und flogen gen Himmel. Er dachte an die Schwalben im Sommer. Sie wirkten immer so unbeschwert und sorgenfrei, wenn sie fröhlich am Himmel tanzten. Jeden Morgen hatte er sie durch die Gitterstäbe des Balkons beobachtet und beneidet, wie sie über den kleinen See mit seinen Schwänen und Enten und über den fein säuberlich getrimmten Rasen zwischen den Gebäuden schwebten. Noch mehr sogar, wenn sie im Herbst dann Richtung Süden zogen. Wie ein Verrückter hatte er sich nach dieser Freiheit gesehnt. Doch die Vögel kamen ihm noch immer viel freier vor als er sich selbst, obwohl er jetzt direkt unter ihnen stand und den Wind in seine Haut beißen spürte. Er war aus seiner Zelle freigelassen worden und trotzdem fühlte es sich nicht wie Freiheit an. Das, was passiert war, würde ihn weiterhin gefangen halten, bis er ausgleichende Gerechtigkeit bekam. Die gleiche Gerechtigkeit, die denjenigen, die ihn hier hineingebracht hatten, ihrer Ansicht nach zuteil geworden war. Oder war es Rache, was er sich herbeiwünschte? Was war eigentlich der Unterschied?

Er drehte dem Gebäude wieder seinen Rücken zu und versuchte, in den Rhythmus desselben entschlossenen Schrittes wie früher zu kommen, doch plötzlich waren seine Schritte zögerlich geworden. War er dafür bereit? Hatte ihn der Zustand der letzten vier Jahre so sehr verändert, dass er nicht einmal einen gewöhnlichen Tag, ohne ums Überleben kämpfen zu müssen, genießen konnte? Wie Soldaten, die nach ihrer Heimkehr wieder ihr normales Leben aufnehmen sollten. Hatte er es geschafft, sich ausreichend zu verbessern?

Die Tasche war schwer und der Riemen schnitt in seine Schulter. Die Haltestelle des Busses Nr. 110 lag an der Frodesdalstraße, ein Stück weit von den zwei „Unbefugten ist der Zutritt untersagt“-Schildern entfernt, die an beiden Seiten des Weges angebracht waren. Erst nach diesen Schildern fühlt man die Freiheit, hatte ein Häftling einmal gesagt, einer, der kurze Zeit nach der Entlassung wieder in die Falle getappt und zurückgekommen war. Er musste diesen knappen Kilometer hinuntergehen und er hatte genug Zeit. Der Bus fuhr nach Horsens, wo er den Zug nach Aarhus nehmen sollte. Der Schlüssel zu ihrem Reihenhaus befand sich in seiner Manteltasche. Sie hatte ihn ihm diskret zugesteckt, als ihm seine Sachen und das Geld, das er sich bei der Arbeit in der Werkstatt verdient hatte, übergeben wurden. Niemand hatte es gesehen. Zuerst ließ sie ihn auf den Boden fallen und tat, als wäre es sein Schlüssel, als sie ihn aufhob und ihm überreichte. Eine listige Füchsin war sie. Aber das musste man sein, wenn man an so einem Ort arbeitete. Besonders als Frau.

Er trippelte mit tief in den Manteltaschen vergrabenen Händen auf der Stelle hin und her, um sich warm zu halten, während er nach dem Bus Ausschau hielt. Hier gab es keinen Schutz vor dem Wind, der die Frostgrade noch kälter wirken ließ. Wohin man auch sah, hier gab es nur offene Felder. Unfruchtbarkeit und Tod warteten hier auf bessere Zeiten, genau wie er selbst. Mit gefrorenen Fingern wühlte er nach der Zigarettenschachtel in seiner Manteltasche. Mit dem ersten Zug unter freiem Himmel fühlte er sich endlich wieder lebendig. Vor vier Jahren war es ihm gelungen, mit dem Rauchen aufzuhören und ein halbes Jahr lang nach seiner Verhaftung hatte er keine Zigarette angerührt, doch im Gefängnis war es unvermeidbar. Ohne sie hätte er es nicht ausgehalten.

Endlich kam der Bus. Schnell ließ er die Zigarette auf den Boden fallen, obwohl sie erst zur Hälfte abgebrannt war, trat die Glut auf dem Asphalt aus, rückte die Tasche zurecht und betrat die Stufen, die zum Busfahrer führten. Er trug eine moderne Brille in seinem fetten Gesicht und hatte sein Haar über die Glatze gekämmt. Verachtung schimmerte in seinen blassen Augen, als er das Geld entgegennahm. Er wusste ohne Zweifel, dass es mit Gefängnisarbeit verdient war, wie es auf die meisten zutraf, die an dieser Haltestelle zustiegen. Nicht viele Leute waren im Bus. Es roch nach Leberwurst und Banane, als hätte jemand gerade einen Snack verdrückt. Vielleicht der Fahrer in seiner Pause. Benjamin Trolle setzte sich auf den hintersten Sitz. Der Bus fuhr an. Er fühlte den Blick des Fahrers oben im Spiegel, wusste, dass der gerade überlegte, wofür er gesessen hatte. Der Fette hörte ein Wunschkonzert im Radio. Ungesunder Job, zu viele Zigaretten, Alkohol und zu wenig Bewegung, schätzte er. Willkommen zurück in den Trivialitäten des Alltags. Ausgelaugt ließ er den Kopf in den Sitz sinken und schloss die Augen. Diesmal drehte er sich nicht um.

Der Hauptbahnhof von Aarhus war einer größeren Renovierung unterzogen worden, seit er das letzte Mal dort gewesen war. Jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, dass die Verstrebungen über den Gleisen rot gewesen wären. Auch die Anzeigetafeln waren neu und die Beleuchtung anders. In vier Jahren hatte sich viel getan. Der Verkehr war jedoch derselbe. Lange blieb er auf der Treppe stehen und schaute sich um, wie ein Krieger, der nach einem Marsch ins Feindesland in die Heimat zurückkehrte. Jedoch ohne Siegesgefühl. Im Gegenteil. Was macht man am ersten Tag in Freiheit? Er umklammerte ihren Schlüssel fest in der Manteltasche; das Metall war kalt und bohrte sich in seine Handfläche. Der Schmerz tat gut. Er lenkte ihn von dem Schmerz in seinem Inneren ab. Dann fasste er einen Entschluss, warf sich die Tasche über die Schulter und machte sich auf den wohlbekannten Weg ins Dr. Watson, von dem er hoffte, dass es noch existierte. Dort konnte er sich in der Dunkelheit und dem Geruch der Kneipe verbergen, bis er nach Hause kam.

Erneut blieb er stehen und nahm alle Eindrücke auf. Betrachtete eine ganze Weile lang die Fassade und den Fries mit den hüpfenden Melonen über den Fenstern – oder waren es Ufos? Darüber hatten er und seine Kumpels oft gewitzelt, wenn sie betrunken von hier aus nach Hause gegangen waren. Das war lange her. Eine Ära. So kam es ihm vor.

Das Personal war natürlich nicht mehr dasselbe. Die Jukebox schwieg, funktionierte bestimmt nicht mehr, doch der Fernseher lief mit leisem Ton, der sich mit dem Geräusch aus einem der drei Spielautomaten vermischte. Er bestellte einen „Aarhuser Satz“, denn da wusste er, was er bekam – das gängige Lokalbier Ceres Top und einen Schluck Arnbitter. Seine Augen klebten am Bildschirm, ohne wirklich wahrzunehmen, was sie sahen. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er die Person am Spielautomaten. War das etwa Skipper? Selbstverständlich würde er jetzt schon hier auf einen von ihnen stoßen. Nicht gerade das, was er jetzt brauchte. Er hatte gehofft, es wäre noch zu früh am Tag gewesen. Oder dass sie diese schlechten Angewohnheiten hinter sich gelassen hatten. In ihrem Leben weitergekommen waren. Es war ihm zu früh, jetzt schon zur Rechenschaft gezogen zu werden. Seine erste Überlegung war, aufzustehen, zu bezahlen und sich aus dem Staub zu machen, doch dann entdeckte ihn Skipper ebenfalls. Seine Augen wurden groß und rund und sein Mund öffnete sich halb, als hätte er ein Gespenst gesehen. Einen Moment lang war auch er versucht, wegzulaufen, das war ihm anzusehen, oder zumindest so zu tun, als würde er ihn nicht erkennen. Vielleicht tat er das wirklich nicht, nach all den Jahren. Trolle hatte keine Ahnung, wie sehr er sich über die Jahre eigentlich verändert hatte. Doch dann erhob sich der große Mann doch noch, holte sein zur Hälfte geleertes Glas aus der Ecke des Schanktisches und wankte auf ihn zu. Es war nicht sein erstes Glas. Er musste sich auf dem Weg zu ihm an der Theke abstützen.

„Was zur Hölle, Trolle! Bist du abgehauen?“

„Natürlich nicht, niemand kommt da raus, Mann.“

Er betrachtete seinen alten Freund. Der Lauf der Zeit hatte eine Veränderung mit sich gebracht, jedoch bestimmt keine Renovierung. Der Bierbauch war größer geworden, die Haare auf dem Kopf spärlicher und die Augenringe dunkler. Seine Kapitänsmütze, die ihm den Namen Skipper verlieh, hatte er jedoch immer noch auf. Er zog sich den Stuhl neben Trolle zurecht und setzte sich.

„Stimmt, das habe ich in einer Fernsehserie auf TV2 über euch gesehen. Die Gefangenen.“ Er sprach das Wort aus, als wäre es der Titel eines Horrorfilms. „Heutzutage sagt man anscheinend ,Hotel‘ zum Gefängnis. Ihr werdet da ja zu richtigen TV-Stars, da werd’ ich ganz neidisch. Warum hat man nichts von dir gesehen?“

Trolle zuckte mit den Schultern.

„Wir sind gefragt worden, ob wir mitmachen wollen.“

„Und für’s Rampenlicht hattest du noch nie was übrig, was, Trolle? Aber wie ich sehe, hast du eine Tätowierung gekriegt. Gehört wohl dazu, oder?“

Trolle zog unwillkürlich seinen Ärmel weiter nach unten.

„Das ist eine längere Geschichte“, murmelte er.

Ja, es gehörte dazu, um in dieser Welt zu bestehen. Es war schwer, das zu erklären, denn was wusste Skipper schon? Er hätte an so einem Ort nicht lange durchgehalten.

Auch Skipper richtete seinen Blick auf den Bildschirm. Trolle sah flüchtig, dass der Ehering an seiner Hand, die sich um das Bierglas klammerte und an eine zu groß geratene Babyhand erinnerte, fehlte. Vielleicht passte er ihm einfach nicht mehr, so sehr, wie er zugelegt hatte.

„Und, fühlt es sich gut an, ein freier Mann zu sein?“, fragte Skipper schließlich, ohne ihn dabei anzusehen, und zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht, als wollte er seine Gedanken verbergen oder sich in Gegenwart eines Ex-Häftlings unsichtbar machen.

Trolle zuckte erneut mit den Schultern.

„Ist schwer, das jetzt schon zu sagen. Es ist mein erster Tag heute.“

Er leerte sein Glas Arnbitter und betrachtete Skippers Profil. Es umgab ihn etwas Abweisendes. Er wollte ihm ganz offensichtlich nicht in die Augen sehen.

„Wie geht’s dir sonst so, Skipper? Warum bist du nicht auf der Arbeit?“

Skipper schnaubte und wischte sich mit dem Ärmel die Oberlippe ab.

„Bin im Herbst gefeuert worden.“

„Dann arbeitest du nicht mehr am Hafen?“

Er schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem TV-Reporter am Bildschirm abzuwenden. Ein alter, routinierter Journalist berichtete enthusiastisch von der bevorstehenden Wahl in Italien, auch wenn die meisten Dänen damit nichts am Hut hatten. Danach kamen die Lokalnachrichten, deren Absicht es war, das Interesse der Zuschauer durch die Meldung zu wecken, dass ein Polizeibeamter einen Schuss gegen Zivilisten ausgelöst hatte und drei erhängte Jungen gefunden worden waren, die Selbstmord begangen hatten. Die Welt hier draußen war auch nicht besser geworden.

„Wie geht es Vibe?“, fragte er.

„Wir haben uns scheiden lassen.“

„Das tut mir leid. Und was ist mit – den Kindern?“

Er hätte gerne ihre Namen gesagt, konnte sich aber plötzlich nicht mehr an sie erinnern.

Skipper betrachtete ihn wachsam aus dem Augenwinkel.

„Die hat sie natürlich. Warum willst du das wissen?“

„Bin nur neugierig, ich kenn’ doch deine Mädels. Wie alt sind sie denn jetzt?“

Skipper schaute wieder zum Fernseher. Seine Mundwinkel zuckten und fiebrig nahm er einen Schluck Bier, ohne zu antworten. Plötzlich richtete er seinen Blick auf den Grund des Glases und stammelte.

„Zum … Teufel, Trolle. Ich habe dich … verteidigt. Bis zum Schluss … bis …“ Ungeschickt ließ er seine Hand über das rote Gesicht gleiten.

„Aber Skipper. Du glaubst doch nicht, dass …“

Zum ersten Mal sah er ihn richtig an. Seine Augen waren rot, wässrig und brauchten eine Weile, bis sie fest blickten. Der Ausdruck in ihnen war voller Wut und Verachtung.

„Vibe hat dir von Anfang an nicht getraut. Sie hat mir ständig gesagt, dass … aber ich hab dich verdammt noch mal immer verteidigt. Wir haben uns die ganze Zeit gestritten, wir …“

„Tut mir leid, wenn es meine Schuld war“, murmelte er.

„Deine Schuld! Vibe und Cecilie sind Busenfreundinnen, unzertrennlich – und das weißt du …“

„Siehst du sie noch? Und Lærke?“

Die Wörter purzelten ihm aus dem Mund, bevor er darüber nachdenken konnte.

„Natürlich nicht. Seit Vibe abgehauen ist, gucken sie mich an, als hätte ich die Pest! Wenn sie mich überhaupt beachten.“

Trolle zupfte am Etikett der Bierflasche herum – er hatte schon das ganze Kronenmotiv abgepult, bis er seine Sprache wiederfand.

„Das … das tut mir leid, Skipper. Aber es hat sich anders abgespielt, als du offenbar glaubst.“

„Warum bist du dann verurteilt worden, Trolle?“

„Sowas passiert – dass Unschuldige verurteilt werden.“

„Du bestehst also immer noch darauf, dass du es nicht getan hast?“

„Natürlich habe ich es nicht getan. Wie kannst du das überhaupt glauben! Wir kennen einander ein Leben lang, Skipper. Natürlich bin ich unschuldig! Ich könnte doch nie …“

„Und was ist mit Lærke? Wie kannst du das erklären?“

Skipper stand auf, schwenkte sein Glas und leerte es im Stehen, während er sich am Barhocker festhielt. Ein Teil des Biers lief ihm am Kinn herab und landete auf dem Manchester-United-Logo seines Shirts. Das Mädchen hinter der Bar warf ihm einen besorgten Blick zu, schüttelte stillschweigend den Kopf und drehte sich wieder um. Es war wohl nicht das erste Mal, dass sie ihn in diesem Zustand sah. Er nahm seine Jacke.

„Ihr sagt alle, dass ihr unschuldig seid, aber man wird nicht einfach für vier Jahre eingebuchtet, wenn man das auch wirklich ist, oder, Trolle?“

Er schaffte es nicht mehr zu antworten. Skipper war bereits gegangen. Durch das Fenster sah er, wie er sich an der Mauer draußen abstützte und beinahe ein Schild hinter einem abgestellten Fahrrad umstieß. Dann war er weg.

Benjamin Trolle stieg in ein Taxi vor dem Bahnhof. Der Fahrer war ein freundlich lächelnder Mann mit indischem Aussehen und Akzent. Er half ihm, seine Tasche in den Kofferraum zu werfen und schwatzte heiter über Wind und Wetter, obwohl sich Trolle absichtlich auf den Rücksitz setzte, um jegliche Form von Kommunikation zu vermeiden. Glücklicherweise wurde das dem Inder bald klar, also drehte er das Radio lauter und konzentrierte sich stattdessen auf die Fahrt durch den Aarhuser Hauptverkehr.

Der Mercedes holperte über die Bremsschwellen des St. Bilchers Wegs, bis der Chauffeur plötzlich anhielt. Trolle sah aus dem Fenster. Jetzt verstand er es. Warum hatte er dem Fahrer diese Adresse gegeben? Vielleicht aus einer alten Gewohnheit heraus? Das Haus sah aus wie immer. Nichts hatte sich verändert. Nicht einmal das Grünzeug in den Gartentöpfen. Der vereiste Bürgersteig benötigte eine kräftige Portion Salz. Das war immer seine Aufgabe gewesen. Ein bitteres Gefühl machte sich in seiner Brust breit, als er das rosarote Fahrrad erblickte, das auf seinem Ständer neben dem offenen Carport stand. Es war kein Dreirad mehr. Es war ein richtiges Mädchenfahrrad. Lærke war im Dezember neun Jahre alt geworden. Er hatte ihr ein Geschenk und eine Karte geschickt, aber keine Antwort zurückbekommen. Nur das Paket.

Es war nicht Cecilies Auto, das dort im Carport stand. Es war ein schwarzer Opel Insignia. Sie war also immer noch mit ihm zusammen. Das Gefühl in seiner Brust veränderte sich. Noch nie zuvor hatte er eine stärkere Rachsucht in sich verspürt, die nun in seinen Adern pochte. Es fühlte sich gut an. Er lebte, trotz allem. Der Inder musterte ihn prüfend im Rückspiegel, offenbar hatte er seinen Preis schon gesagt und wartete nun auf sein Geld.

„Soll ich Ihnen mit der Tasche helfen?“, fragte er und wollte bereitwillig die Autotür öffnen.

„Nein danke. Können Sie mich wieder zurückfahren? In die Bushøj-Straße.“

„Welche Nummer?“, fragte der Chauffeur verdutzt und fuhr los, während seine kohlrabenschwarzen Augen den merkwürdigen Passagier noch immer überwachten.

Benjamin Trolle suchte nach dem Zettel in seiner Tasche. Er fand ihn, las ihre hübsche Handschrift und gab dem Fahrer die Adresse. Bald würde sie zu Hause sein. Durch Heckscheibe warf er einen letzten Blick auf das Haus. Stand da nicht jemand am Küchenfenster und guckte verwundert dem Taxi nach? Lærke? War das Lærke? Das Haus verschwand hinter den Bäumen. Sein Herz hämmerte und er bekam Atemnot.

Er musste sich merken, niemals mehr zurückzuschauen.

Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8

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