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Kapitel 12

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Die Dunkelheit war hereingebrochen. Er hasste die Dunkelheit, sie versetzte ihn in einen Zustand der Atemnot und Klaustrophobie. Als wäre er eingesperrt in einer schwarzen Kiste. In seinem Zimmer brannte die ganze Nacht lang Licht. Eine schwache Birne, die er sich selbst gekauft und in eine Tischlampe geschraubt hatte. Er hatte die Lampe auf den Boden gestellt, sodass man sie von außen nicht sehen konnte. Der Heimleiter verlangte totale Finsternis in der Nacht. Es musste gespart werden.

Arne versteckte sich hinter einem Baumstamm, kauerte sich in seiner schwarzen Daunenjacke zusammen und fror, während er den Haupteingang des Wohnheims Elmelund observierte, das so weit entfernt von hier war, dass er die Treppe nur erahnen konnte. Näher heranzugehen wagte er nicht. Er hatte sie hinein-, jedoch nicht wieder hinauskommen sehen, und so lange sie vielleicht noch da drinnen waren und bestimmt mit dem Heimleiter sprachen, traute er sich nicht. Wer waren sie? War es die Polizei? Waren es die von gestern Nacht? Die, die Christoffer, Malte und Rune umgebracht hatten? Jetzt jagten sie auch ihn, würden ihm das Gleiche antun.

Als er, wie abgesprochen, endlich auf seinem Mofa bei der Schlachtanlage angekommen war, hatte er sie gesehen. Er hatte große Lust gehabt, hineinzustürmen, sie zusammenzutreten und seinen neuen Freunden zu helfen, war stattdessen aber nur wie versteinert dagestanden.. Während sie gingen, hatte er sich versteckt und gewartet, bis es ganz still geworden war. Er war hineingegangen, um seinen Freunden zu helfen, doch sie waren schon tot – da war er sich sicher. Heulend hatte er ihre Mobiltelefone und Geldbeutel genommen. Warum, wusste er eigentlich nicht, er handelte im Affekt. Eine Stimme hatte ihm gesagt, er müsste das machen, um sie alle zu retten. Diese Stimme hatte ihm dann geraten, wegzulaufen. So schnell er konnte. Aber sie mussten ihn gehört haben. Auf ihn gewartet haben. Vielleicht sein Mofa draußen haben stehen sehen. Er war davongehastet und in einen Haufen Glasscherben gestolpert. Seine Hände taten weh und bluteten. Jetzt hatten sie ihn bestimmt bemerkt und waren ihm in ihrem Auto gefolgt. Viel zu schnell war er mit verkrampft um die Griffe des Lenkrads geballten, schmerzenden Händen und blutenden Handflächen, die voller Glassplitter waren, auf seinem Mofa über Schnee und Eis gerast. Er hatte die Orientierung verloren und war plötzlich über die Brücke der Aarhuser Au und an dem See vorbeigefahren, den er nur allzu gut kannte. Der Årslev-Eng-See, um den er mit seinem Großvater spaziert war, als er noch lebte und sie gemeinsam in der Au fischten. Dann hatte er den Wald gesehen, war hineingefahren und hatte die Lichter abgedreht. Es war komplett finster geworden. Einen Augenblick lang hatte er geglaubt, das Auto gehört und die Scheinwerfer zwischen den Bäumen aufleuchten gesehen zu haben, aber er war sich nicht ganz sicher. Er war tief in den Wald hineingelaufen, hinein in die Dunkelheit und weg von der Straße, obwohl er solche Angst gehabt hatte, dass er zu sterben glaubte, bis er Schutz vor Wind und Schnee in dieser wundersamen Indianerhütte fand, die jemand aus langen Ästen gebaut hatte. Erst viel später am nächsten Tag hatte er bemerkt, dass er die Tüte mit den Mobiltelefonen und Brieftaschen im Wald vergessen hatte. Doch er konnte die Hütte nicht mehr finden, als er noch einmal zurück zum Wald gefahren war, um danach zu suchen. Es war hell geworden und alles sah anders aus. Er hatte lange gesucht. Als er dann zurück zum Heim gekommen war, hatte er die Männer durch den Haupteingang kommen sehen und hatte sich hinter den Ulmen versteckt.

Aber wie hatten sie herausgefunden, wer er war und dass er hier wohnte? Fragen schwirrten ihm durch den Kopf, wie unzählige Stimmen, die quälend von allen Seiten auf ihn einredeten. Er hielt sich die Ohren zu und hätte gerne laut geschrien, wie er es immer zu tun pflegte, wenn die Stimmen auftauchten und der Heimleiter kam und ihm Medizin gab, die abscheulich schmeckte, ihn aber zur Ruhe brachte. Aber das wäre keine gute Idee gewesen. Nicht heute Abend. Sie hätten ihn vielleicht hören können. Immer wieder vernahm er Geräusche, wie Schritte im Laub. Es sah sich um, doch außer Baumstämmen und Dunkelheit war da nichts. Vielleicht war es nur das Tauwetter, das das Schmelzwasser von den Zweigen tropfen ließ. Um die Einrichtung herum standen viele Ulmen, sie hatten ihr den dänischen Namen Elmelund, also Ulmenhain, gegeben. Ein ganzer kleiner Wald stand dort, in dem die Jüngsten oft spielten, diejenigen, die konnten, die ohne physische Handicaps. Meist jedoch nur im Sommer. Erneut spähte er zum Gebäude hinüber und versuchte, Konturen in der Dunkelheit auszumachen, die nun noch dichter geworden war. Vielleicht könnte er sich in sein Zimmer schleichen, sodass er nicht noch eine Nacht draußen im Freien verbringen musste. Es war so verdammt kalt und die Stimmen in seinem Kopf hörten nicht auf zu rufen, sodass er nicht klar denken konnte. Er hatte schon lange keine Medizin mehr bekommen. Bestimmt war das der Grund.

Ein schneller Schatten glitt vor seine Augen vorbei und schon schnürte sich sein Hals zusammen. Sie standen direkt hinter ihm. Als er einen Schritt zurücktrat, stieß er gegen etwas, gegen einen Körper, und als er seine Hände an den Hals legte, spürte er, dass da ein Seil war, jemand hatte es ihm umgelegt und zog es immer fester zu. Sie waren es! Sie hatten ihn gefunden!

„Dreh dich um“, sagte die Stimme hinter ihm. Er tat, was ihm befohlen wurde und sah in das Gesicht des Mannes. Hinter ihm tauchten mehrere Personen auf.

„Arne Buk Dalsgaard, nicht wahr?“, fragte der Mann, der vor ihm stand.

Arne nickte verständnislos.

„Folge mir hier rüber.“

Der Mann zog ihn am Seil mit sich, er gehorchte wie einfolgsamer Esel. Die anderen folgten ihm nach. Das Einzige, was ihm jetzt auffiel, war, dass die Stimmen in seinem Kopf verstummt waren. Es war wie eine Befreiung. Vielleicht brauchte er die Medizin gar nicht.

Sie waren ein paar Minuten gegangen, als sie endlich stehen blieben.

„Stell dich auf den Baumstumpf dort“, befahl der Mann und deutete auf einen Wurzelstock.

„Lass gut sein“, sagte einer der anderen Männer, er war jünger als die anderen. „Er ist nicht ganz normal. Sollen wir ihn nicht einfach gehen lassen?“

„Ihn gehen lassen? Warum sollte er entkommen dürfen? Weil er nicht normal ist?“, sagte der Mann, der das Seil noch immer festhielt. „Das ist ja noch schlimmer. Dann kann man ihn nicht einmal auf normalem Wege bestrafen und er kann weiterhin seine kriminellen Spielchen treiben.“

„Sollen wir ihn nicht einfach mitnehmen?“, drängte der Jüngere weiter.

„Warum das denn? Wir wissen doch, dass er es ist, oder?“, sagte ein anderer, den Arne in der Dunkelheit nicht sehen konnte.

„Wir können ihn ja fragen. Arne, warst du an dem Mord an dem Mann im Sportladen beteiligt?“

Er schüttelte energisch den Kopf.

„Stimmt doch nicht, Arne. Du glaubst, dass dir niemand was anhaben kann. Auch die Polizei nicht, weil du ein behinderter Minderjähriger bist und die Behörden nicht wissen, was sie mit dir machen sollen. Du fährst die Mitleidsschiene, gib’s zu!“

Wieder schüttelte er den Kopf.

Der Mann warf das Ende des Seils in der Dunkelheit einem anderen Mann in einer Lederjacke zu, der neben dem Baum stand.

„Übernimmst du? Dann werden wir schon noch ein Geständnis aus ihm rausbekommen.“

Geübt ergriff der andere das Seil und warf es über einen Ast, der sich genau über Arne befand. Er spannte es und Arne schnappte nach Luft. Er versuchte erneut, das Seil um seinem Hals zu fassen, um es abzustreifen, doch ein anderer, der sicher die ganze Zeit schon hinter ihm gestanden hatte, verdrehte ihm blitzschnell die Arme hinter dem Rücken und schnürte sie mit Kabelbindern fest zusammen. Es tat weh, als sie um sein Handgelenk gezurrt wurden.

„Seht mal, er hat lauter Verletzungen auf den Handflächen. Bestimmt von den Glasscherben. Jetzt haben wir jedenfalls Gewissheit, dass er es war, der in der Schlachtanlage gestürzt ist. Du warst dort, gib’s doch endlich zu.“

Die Stimme des Mannes hinter ihm war dicht an seinem Ohr.

„Stell dich auf die Zehen“, befahl die tiefe Stimme vor ihm, die klang, als würde sie bewusst verzerrt werden.

„Versuchen wir’s noch mal. Bist du schuldig?“

„Nein! Also, ich war da, aber ich hab nicht …“

„Er hat gestanden“, unterbrach ihn der Mann und wandte sich halb nach hinten den anderen zu. Dann drehte er sich wieder um und sah ihn triumphierend an.

„Auf die Zehen, hab ich gesagt! Wie eine Balletttänzerin.“

Arne gehorchte und versuchte, die Balance zu halten, doch nun wurde das Seil noch strammer, sodass es ihn augenblicklich erwürgt hätte, hätte er das Gleichgewicht verloren. Die Stiefel waren schwer vom Schneematsch an den Sohlen.

„Könnt … könnt ihr mich jetzt nicht freilassen?“, bat er. Seine Lippen bebten und machten seine Worte nahezu unverständlich, Tränen schossen ihm in die Augen, aber die Stimmen waren immer noch aus seinem Kopf verschwunden. Noch nie zuvor war es so still gewesen wie jetzt.

„Sollen wir ihn nicht gehen lassen“, fragte die junge Stimme noch einmal, „vielleicht weiß er gar nicht, was passiert ist. Er ist ja nicht ganz fit im Kopf.“

Arne konnte ihn nicht sehen, weil er den Kopf zurücklegen musste, damit ihn das Seil nicht erwürgte. Hin und wieder verließ ihn die Kraft in den Füßen, dann spannte sich das Seil noch fester um den Hals und er beeilte sich, sich schluchzend wieder auf die Zehen zu stellen.

„Natürlich weiß er, was passiert ist, nicht wahr, kleiner Arne? Ihr habt den Mann im Laden umgebracht. Er hat das Pfefferspray nicht vertragen. Er ist gestorben!“

Die letzten Worte schrie er so laut, dass Arne die Wärme seines Atems spüren konnte, der nach Menthol roch.

„Das … das war echt nicht ich …!“

Nun begann er richtig zu weinen. War der Mann tot gewesen? Er hatte gesehen, dass er umgefallen war, aber Christoffer hatte gesagt, dass nur das Pfefferspray in seinen Augen brannte. Dann war auf sie geschossen worden und sie waren geflohen.

„Jemanden umzubringen zieht Konsequenzen nach sich!“

Mit zurückgelegtem Nacken hörte er die Zweige unter ihren Stiefeln knacken, als sie begannen, sich davonzumachen. Sie ließen ihn stehen. Einfach so! Er würde sich erwürgen. Er versuchte, einen Schrei aus dem Hals zu quälen, doch alles, was er herausbekam, war ein sonderbar kratziges Geräusch.

„Er kann um Hilfe rufen!“

Sie waren schon ein Stück weit weg, aber nun kam einer von ihnen zurück.

„Hilf mir runter! Mach mich los!“, jammerte Arne weinerlich und hoffte, es wäre der Mann mit der jungen Stimme.

Eine kräftige Hand umfasste sein Kinn und öffnete seinen Mund gewaltsam, indem er seine Kiefermuskeln fest zusammendrückte, wie es der Heimleiter immer tat, wenn Arne einen Krampfanfall bekam und seine Medizin nicht nehmen wollte. Aber was er jetzt in den Mund bekam, war keine Medizin. Er wurde mit Schnee vollgestopft. Die Eiskristalle bohrten sich in die Mundhöhle, es wurde immer mehr, bis er nur noch durch die Nase atmen konnte. Er schnappte gurgelnd nach Luft, der Schnee schmolz schnell in seinem warmen Mund und drohte ihn zu ersticken. Doch bei jeder unfreiwilligen Bewegung schnürte sich das Seil nur noch fester um seinen Hals.

Und wieder hörte er, wie sich ihre Schritte entfernten. Es wurde still. So still, wie ein Wald an einem kalten Abend im Februar nun einmal war. Er war ganz allein und die Zeit verging unendlich langsam, während der Schnee in seinem Mund schmolz und er verzweifelt mehr und mehr Wasser schluckte. Seine Augen waren hervorgetreten und starrten nach oben in die nackten Zweige, die wie helle Silhouetten im Kontrast zu dem schwarzen Himmel weit über ihm standen.

Seine Knie zitterten. Dann verließen ihn die Kräfte.

Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8

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