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DOROTHEE

Wir lernten Dorothee auf dem Flug von Iguacu nach Rio kennen. Wir fanden uns sympathisch und verabredeten ein Treffen drei Tage später in Salvador da Bahia. Wir sahen uns wieder. Dorothee war zuverlässig.

Ein paar gemeinsame Ausflüge, dann musste Dorothee zurück nach Kanada. Sie war Musiklehrerin, ledig, wohlhabend und bereiste im Urlaub die Welt mit einer Mords-Fotoausrüstung auf der Brust, die sie offenbar nicht einmal im Schlaf ablegte, aus Angst vor Diebstahl, immer auf der Suche nach den wirklichen Dingen des Lebens, „the real things of life“, wie sie sagte. In Singapur hatte sie jemanden überredet, ihr Zutritt zum Männergefängnis zu verschaffen. Bei der Schilderung der aggressiven Atmosphäre, die sie dort vorfand, begannen ihre Augen zu glühen. Ihr Begleiter hatte sie plötzlich hinausgezerrt. Sie sei in Lebensgefahr gewesen, hatte er ihr gesagt.

Wir planten den Besuch einer Candomblé-Veranstaltung. Dorothee war fasziniert. Morgen war ihr letzter Urlaubstag, heute musste noch etwas passieren.

Als die afrikanischen Sklaven nach Brasilien verschleppt wurden, brachten sie ihre Götter, Geister und Riten mit. Im Laufe der Zeit wurden sie zwar Christen, aber sicherheitshalber stellen sie sich außer mit der Jungfrau Maria und den Heiligen auch noch mit den Gottheiten ihrer Vorväter gut. Am Strand von Rio werden jeden Abend Opfergaben ausgelegt: frisches Obst oder ein Huhn, gebettet auf Blütenblättern, von brennenden Kerzen feierlich oder auch gespenstisch beleuchtet. Ob die Geister die Gaben annehmen, vermag niemand zu sagen. Am nächsten Morgen sind sie von Fliegen befallen und beginnen in der heißen Sonne zu verwesen, bis sie von den Ligeros, den Männern, die den Abfall am Strand beseitigen, entfernt werden. „Macumba“ heißt das hier, und obwohl die armen Leute zu ihrer „Feijoada“ kaum jemals Fleisch zu essen bekommen, vergreift sich niemand an der „Götterspeise“, den ausgelegten Nahrungsmitteln, um vielleicht einmal richtig satt zu werden.

In Bahia werden die Geister im „Candomblé“ beschworen. Zu dumpfen Trommellauten und rhythmischen Gesängen, die langsam beginnen, immer schneller werden und schließlich einem ekstatischen Höhepunkt zustreben, tanzen einige Frauen stundenlang, mit dem Ziel, vom Geist beseelt zu werden. Endlich ist es so weit, eine Art epileptischer Anfall zeigt an, dass der Geist von einem Körper Besitz ergriffen hat. Schrilles Kreischen, zuckende Bewegungen, verdrehte Augen, kurz gesagt: „the real thing“ für Dorothee.

Vom Touristenbüro hatten wir eine Liste der offiziell zugelassenen Veranstaltungen bekommen, mit dem strengen Hinweis, ja nicht auf eigene Faust in eine der „favelas“, den Elendsvierteln, zu gehen. Oft genug wurden Besucher wegen ein paar Cruzeiros von den bitterarmen Bewohnern der Slums umgebracht.

Wir erschienen bei der angegebenen Adresse. Kein Laut, kein Licht, kein Mensch. Wir hatten uns im Datum geirrt. Die Veranstaltung war erst am nächsten Tag. Dorothee war außer sich. Morgen musste sie zurück. Gab es denn nicht heute noch irgendetwas Aufregendes zu erleben? Also fragten wir, erhielten Hinweise – irgendwo schlugen Trommeln – und wir folgten schließlich unserem Gehör. Als wir vor der Hütte standen, in der sich einige Dorfbewohner zum Candomblé versammelt hatten, waren wir so erregt, dass wir alle Vorsichtsmaßnahmen vergaßen. Freundlich wurden wir eingeladen herein zu kommen, erhielten einen Ehrenplatz und saßen plötzlich in einem Kreis von Schwarzen, die klatschten, sangen und trommelten. In der Kreismitte einige tanzende Frauen, die das Erreichen der Ekstase durch kräftigen Alkoholkonsum zu beschleunigen suchten. Plötzlich baute sich eine von ihnen provozierend dicht vor uns auf und verlangte Geld. Mein Mann zog sein Portemonnaie heraus und gab ihr einen größeren Schein. Er hatte unser gesamtes Geld dabei, auch aus Sicherheitsgründen. Die Frau hatte gesehen, wie viel Geld in der Börse steckte. Ich bekam plötzlich Angst. Dorothee mit ihrem unvermeidlichen Fotoladen um den Hals und dann das viele Bargeld. Ein solches Vermögen hatte die Hütte noch nicht gesehen. Niemand wusste, wo wir waren. Unsere knapp zweijährige Tochter allein im Hotel. Panik stellte sich ein. Ich beobachtete die Schwarzen: Zuckende Gesichtsmuskeln, Augen ins Leere gerichtet. Die meisten hatten die Situation noch nicht erfasst. Nur eine der Tänzerinnen flüsterte mit jemandem und schaute zu uns herüber. „Lass uns gehen. Wir müssen weg, schnell“, drängte ich. Meinem Mann war es recht. Der ganze Spuk missfiel ihm. Ich blickte zu Dorothee. Eine der Tänzerinnen wischte sich mit der Hand den Schweiß ab und schmierte ihn Dorothee ins Gesicht. Sie strahlte. Das war wieder einmal „The real thing“. Auf mein Drängen reagierte sie unwirsch. Jetzt gehen, wo es gerade so richtig spannend wurde.

Betont lässig und langsam, krampfhaft lächelnd erhoben wir uns, sagten freundlich „obrigada“ blieben kurz vor der Krippe mit Maria, Josef und dem Jesuskind am Hauseingang stehen, und bevor die Versammlung es richtig begriffen hatte, waren wir draußen .Ich raste wie eine Wahnsinnige los Richtung Auto. Die beiden anderen erklärten mich zwar für verrückt, stürzten aber keuchend hinter mir her. Im Auto erklärten wir Dorothee die Lage, in der wir uns gerade befunden hätten, und erzählten alles, was wir an Schrecklichem über Mord in Favelas gehört hatten. Sie war verärgert. So ein Quatsch. Hatten wir ihr doch die schönste afrikanische Geisterbeschwörung vermasselt. Was sollte sie jetzt zu Hause erzählen. Langsam aber begriff sie, dass diese Geschichte ja noch viel besser war. Sie hatte sich in echter Lebensgefahr befunden, sagte jedenfalls diese übergeschnappte Deutsche. Na, wenn das nicht „The real thing“ war.

Dorothee reiste ab. Im nächsten Jahr stand Europa auf dem Programm. Ganz bestimmt würde sie sich bei uns melden. Seitdem haben wir nichts mehr von ihr gehört. Oder vielleicht doch?

Einige Jahre später las ich eine Zeitungsnotiz. Zufällig hatte man im Labyrinth einer ägyptischen Pyramide das Skelett einer kanadischen Lehrerin gefunden. Sie hatte sich vor längerer Zeit bei einer Besichtigung trotz Warnung von der Gruppe entfernt und sich verirrt. Tagelang hatte man vergeblich nach ihr gesucht und schließlich aufgegeben. Sie galt als verschollen. Anhand der Gegenstände und Papiere neben dem Skelett konnte man sie eindeutig identifizieren. Bis zum Schluss hatte sie Notizen gemacht und ihre Empfindungen geschildert. Ihr Tod muss qualvoll gewesen sein.

„Dorothee“ dachte ich. Dorothee auf der Suche nach „the real things in life“. Wenn sie es nicht war, diese Geschichte würde ihr gefallen. Wenn sie es war, dann hatte sie es endlich gefunden.

Damals in Südamerika.

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