Читать книгу Die militante Madonna - Irene Dische - Страница 4
Wie ich eine hohe Stelle bekleidete und auch behielt
ОглавлениеEs war einmal ein König, Louis XV. von Frankreich, der machte mich, den er Yeux d’Ange, »Engelaugen«, nannte, zum französischen Interimsbotschafter am Hof von St. James. Das kränkte mich tief. Für jahrelange geheime wie öffentliche Dienste belohnte er mich mit einem vorläufigen Amt. Es war nicht seine Idee gewesen – sein Außenminister, gebenedeit mit der noblesse de race, vulgo ein Trampel, steckte hinter der Beleidigung. Im stillen Kämmerlein erhob ich Einspruch beim König. Er kalmierte mich und versprach, sich eines Tages über seinen Minister hinwegzusetzen. Ich ging nach London. Bei meiner ersten großen Soirée in der französischen Botschaft behelligte mich im Ballsaal, wo ich, der anmutigste Mann des Abends, die englischen Gäste voller Schwung lehrte, einen Cotillon zu tanzen, der größte Mann im Saal. Seine turmhohe Perücke fügte seiner Gestalt eine zweite Etage hinzu. In den wenigen Sekunden, in denen ich ihm, nachdem er aus dem Hintergrund in mein Blickfeld getreten war, mein Ohr lieh, plapperte er, meine gegenwärtige Stellung sei eine »Travestie«. Mehr konnte er nicht sagen – das Kompliment wurde ihm mit dem Hinauswurf vergolten. Etliche Stunden später erwartete er mich draußen im Dunkeln. Er folgte mir einige Schritte, bis ich den Degen zog. Er sprach über die stählerne Klinge hinweg und drängte mich in innig vertrautem französischem Dialekt, die Waffe zu senken. Auch er kam aus der Bourgogne. Er nannte sich schlicht »Morande«.
»Wir sind Brüder!«, flüsterte er und trat an mich heran, obwohl meine Degenspitze ihm schon in den rötlich weißen Rock drang. Er war aus dickem Stoff, sonst hätte ich ihn durchbohrt. Ich warf einen kurzen Blick auf seine karmesinrote Reithose und die Seidenstrümpfe über den Storchenbeinen. Dieser Mann konnte mir nicht gefährlich werden. Ich senkte den Degen. Wie sich zeigte, wusste er viel über mich. Es war sein Metier, Dinge über andere zu wissen.
Morande war, was Sie einen Gossenjournalisten nennen. In Ihrem bauchnabelbeschaulichen Jahrhundert könnte es Sie interessieren, dass er das Genre praktisch aus der Taufe gehoben hat. Gossen halten Städte und Häuser rein. Mit ihren Ergüssen über die Geheimnisse der Hautevolée schwemmen diese Tintenkleckser die Illusionen der Öffentlichkeit fort. Morande hatte bei seinem Tun allerdings keine Sozialhygiene im Sinn, sondern wollte Kasse machen. Er verwertete den Klatsch in Spottgeschichten, die er unter Pseudonymen in einem Boulevardblatt publizierte, das er eigens zu diesem Zweck gegründet hatte. Es hatte eine riesige Leserschaft. Er schrieb auf Französisch und für den Bedarf seiner französischen Landsleute, ließ das Blatt aber in England mit seinem liberalen Leumundsrecht drucken. Man konnte sogar den englischen König oder Angehörige seines Hofs beleidigen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Am liebsten beleidigte Morande in aller Öffentlichkeit unseren eigenen Monarchen, Louis XV., aber nicht etwa, weil er einen Rochus auf ihn hatte. Ihm ging es nur um den Reibach. Er bezahlte Spione, die ihm Palasttratsch aus Versailles zutrugen, und beschäftigte einen Tross von Zwischenhändlern, die seine Postillen nach Frankreich schmuggelten, wo sie teuer gehandelt wurden. Bevor er die Skandalgeschichten in den Druck gab, bot er die verleumderischsten Passagen den Betroffenen an; wenn sie ihm noch mehr zahlten, unterließ er die Veröffentlichung. Die meisten zahlten.
»Ich verdiene mit meinen Sachen mehr als Voltaire und Marivaux zusammen!«, prahlte er, als wir gemeinsam weitergingen. Er war zu aufwendig gekleidet, um als elegant zu gelten, zu schrill für ein weltmännisches Auftreten und zu prahlsüchtig, um lange ernst genommen zu werden. Aber er bezauberte mich.
In den ersten Stunden unserer Bekanntschaft gab er meiner Zukunft eine neue Richtung. Mit einem Appell an meinen Stolz brachte er mich dazu, alles daran zu setzen, dass ich Botschafter auf Lebenszeit blieb. Er wusste, dass ich das Vertrauen Louis’ XV. genoss und Zugang zur prall gefüllten Börse des Ständigen Botschafters hatte: Diese Mittel sollte ich unverzüglich abzweigen, statt auf die Ankunft des noch unernannten Vorgesetzten zu warten, der mich ersetzen würde. Gegenwärtig repräsentierte ich den König Frankreichs. Die Botschaft war kein Ort für Geheimverhandlungen egal welcher Art. Ich brauchte eine prachtvolle Privatresidenz, um Würdenträger zu empfangen. Und die dazu passende Garderobe.
Morande wartete mit einer praktischen Lösung auf. Ich sollte jeden Livre und jeden Sou aufzehren. Dann musste ich die Stellung aus finanziellen Gründen behalten.
Ich ließ mich breitschlagen und kaufte mir ohne viel Federlesens eine Pracht und Herrlichkeit, die mir bis dato nichts bedeutet hatte. Wäre das angemessen für Louis XV., fragte ich mich bei der Auswahl der Inneneinrichtung für ein Stadtpalais in Botschaftsnähe mit einer Remise und einem Vierspänner.
Heute können Sie mein Haus in Petty France, dem vornehmsten Teil von Westminster, so besichtigen, wie es mir in Erinnerung geblieben ist. Zwanzig große Kutschen können um den Platz vor meiner Tür herumrauschen. Das Hufeklappern und Räderknarren lässt die Vogelschwärme, die am Brunnen trinken, in die Luft emporflattern. Stabile schwarze Tür, kupferne Einfassungen, weiß behandschuhter Butler, nach Rosenwasser duftendes Entrée. Ein ausladender Treppenaufgang führt zum Herrenzimmer im ersten Stock, die Wände mit blauem Atlas ausgekleidet und goldenen Vögeln verziert. Der Kaminaufsatz mit geschnitztem Obst und Laub gleicht dem Schnitzwerk, das den Altar in der nahe gelegenen St. James’s Church umgibt. Über diesem Kaminaufsatz können Sie in einem Eichenblattgewinde eine kreisförmige Einbuchtung und eine weiße Marmorbüste von Louis XV. erkennen, ein steingewordenes Gespenst. Die Pfeiler zwischen den hohen rechteckigen Fenstern werden von Spiegeln gesäumt, die bei Tag das Sonnenlicht und bei Nacht die brennenden Fackeln draußen widerspiegeln. Zierrat aus Kristall und Silber tupft alle Flächen.
An die eine Seite dieses Empfangssaals grenzt meine Bibliothek, meine berühmte Büchersammlung, die ebenfalls mit Staatsgeldern erworben wurde. Bitte nicht berühren. Bücher sind meine Heimat, und jedes von ihnen bietet mir unabhängig von Umständen und Stimmung sein eigenes Refugium. Wie gemütlich man sein Heim auch ausstatten mag, es bietet weniger Sicherheit als ein gutes Buch. Wenn Sie aus der Bibliothek in den Korridor zurückkehren, stoßen Sie auf ein ausgeklügeltes Wasserklosett mit drei breiten Sitzplätzen aus Mahagoni. Halten Sie sich nicht die Nase zu! Je nach Jahreszeit riecht es üppig nach Lavendel oder Kiefer, ein Duft, der allmorgendlich erneuert wird. Am oberen Ende einer steilen Treppenflucht liegt mein Ankleidezimmer, das an Pracht, mit seinen Ebenholzmöbeln, Spiegeln und schweren roten Damastvorhängen dem restlichen Haus gleicht. Mehrere Wandschränke beherbergen die Seiden- und Wollausstattung, die ein Londoner Gentleman braucht, um den Eindruck exquisiter Eleganz zu erwecken und keine ungebührliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Schauen Sie sich ruhig weiter um. Im hinteren Teil dieses Kleiderschranks lässt sich die Tür zu einem engen zweiten Schrank aufschieben, wo ich meine hübschen Kleider und Hausschuhe, Unterröcke, Seidenbänder und Schnürbrüste verwahre. Mein fabelhafter Kammerdiener James kümmert sich kommentarlos um beide Bereiche. Von Ihnen abgesehen, hat in dieser Zeit nur er Zugang zu meinem Schlafzimmer am Ende des Korridors, das am meisten über meine Person verrät. Es besteht aus einer harten Bretterpritsche, wie sie einem Soldaten ziemt, einer einfachen Wolldecke, einem Kamin und einer mit einem Bärenfell abgedeckten Holzlatrine. Der einzige Schmuck in diesem Zimmer ist ein schlichtes Kruzifix an der Wand, und als einziges weiteres Möbelstück steht mitten im Zimmer ein hölzernes Betpult, auf dem eine Taschenbibel, ein Spiegel und mein Gesichtspuder liegen.
So, jetzt haben Sie alles gesehen. Sie haben einen Blick in meine Seele erhascht. Sie können dann gehen. James wird Sie hinausgeleiten. Versuchen Sie nicht, sich sein Gesicht einzuprägen. Das wäre Intimitätserschleichung.
Ich bezahlte James aus eigener Tasche, gab ihm ein Zimmer hinter dem Treppenhaus und finanzierte ihm auch die rote Livrée mit dem grünen Innenfutter und der Weste. Manche Menschen mögen eine stumme und stupide Dienerschaft. Ich bevorzuge die geistvolle Sorte und war auf der Suche nach meinem James von Pontius zu Pilatus gelaufen. Seine normannische Mutter hatte dem Mischling Französisch beigebracht. Einmal war ich unerwartet nach Hause gekommen und fand ihn in meinem Lieblingssessel in der Bibliothek vor. Tief in seine Lektüre versunken, hatte er mein Kommen nicht gehört. Ich baute mich hinter ihm auf – er begann gerade mit dem Abschnitt, in dem der Pfarrer von Wakefield vom angeblichen Tod seiner Tochter erfährt. Seine Schultern bebten, möglich, dass er weinte. Ich ging auf Zehenspitzen wieder hinaus. Meinen Segen hatte er.
Mit Botschaftsmitteln stellte ich Köche, Lakaien, Portiers, Kutscher und Stallburschen ein und erwarb die erforderlichen Accessoires, darunter diamantene Manschettenknöpfe und Schnallenschuhe. Ich veranstaltete glanzvolle Soiréen, Bälle und Feste in der Botschaft und empfing Würdenträger in meinem Privatsalon. Die mächtigsten Männer und Frauen waren meine Gäste. Versailles mitten in London. Ich kredenzte meinen eigenen Wein. In einem Jahr kaufte ich 2800 Flaschen, um sie in London zu verteilen. Jedermann wusste, dass der Weißwein meiner Heimat Tonnerre zu den besten Weinen Frankreichs zählte. Morande wurde jedes Mal eingeladen.
Ich war damals noch keine vierzig Jahre alt, sehr jung für eine solche Stellung. Alle Welt wusste, dass die d’Éon-Beaumonts aus der Bourgogne, meine Familie, nicht dieselben waren wie die Beaumonts aus der Normandie. Die d’Éon-Beaumonts gehören zum niederen Adel, der für Versailles nicht gut genug war. Man sollte meinen, die beiden zusätzlichen Silben »d’Éon«, die da wie Hoden an ihrem Namen baumelten, hätten mehr aus ihnen gemacht, aber ohne sie wären wir herrliche Comtes gewesen. Weniger ist mehr. Manche Leute glauben, dasselbe gilt für das Geschlecht.
Als junger Aristokrat niederen Ranges, als bloßer Chevalier, musste ich wirklich brillieren. Und wie ich brillierte! George III. bewunderte meine Fähigkeit, mir bei jeder unserer Begegnungen ein neues Kompliment für ihn einfallen zu lassen, seine schüchterne Frau Charlotte und mich einte die Hochschätzung der Tugend, und schon bald ging das Gerücht, sie trüge mein Kind unter dem Herzen. Morande posaunte es natürlich herum, was meinen geheimnisvollen Nimbus noch verstärkte. Ich repräsentierte also nicht nur das Beste, was Frankreich zu bieten hatte, wozu auch die betörende Fama gehörte, der Geliebte der Königin zu sein, ich ließ Louis XV. auch Bulletins mit allem zukommen, was meine Gäste mir im Rausch erzählten. Die Schlafzimmer interessierten mich nicht, diese Weide konnte Morande abgrasen. Ich führte Buch über ministerielle Stellungen, politische Ambitionen, die Planungen der Militärs und die Finanzen des Staates. Diese Kommuniqués waren mein Geheimauftrag. Die langen geselligen Abende waren das Opfer, das ich meiner Vaterlandsliebe brachte, denn in Wahrheit handelte ich am liebsten auf Papier.
Ich bin ein anerkannter Meister der Ars dictaminis. Lange Zeit wusste jedoch niemand, dass ich der vertrauenswürdigste Korrespondent von Louis XV. war. Er hatte eine wunderschöne Handschrift mit langen schmalen Unterlängen und kringeligen Tüpfelchen. Und er brachte stets seine Dankbarkeit zum Ausdruck und drängte mich, neue Recherchemöglichkeiten auszuloten. Wir erlitten eine katastrophale Niederlage, als Großbritannien La Nouvelle France einfach von der neuen Weltkarte wischte. Den König dürstete höchstpersönlich nach Rache; er plante eine Invasion Englands. Es war sein Wunsch, dass ich die britische Kriegsflotte und den Zustand der Häfen genau im Auge behielt. Die unbotmäßigen Siedler in den amerikanischen Kolonien lenkten die Briten ab, und wir warteten nur auf den günstigsten Augenblick, um zuzuschlagen. Louis XV. hatte allerdings auch Inlandsprobleme, die er mir anvertraute. Meine Briefe waren ihm Ergießungen einer reichen Brunnader von Witz und Zuversicht. Und eilends schrieb er mir dann zurück. Wenn ich seine Briefe las, hörte ich ihn immer sprechen, und seine Stimme klang, als hätte sie ein Leck wie ein rissiges Chalumeau. Einmal schrieb er mir: »Ich habe weniger Einfluss auf das Gesetz als ein Rechtsverdreher auf einen Richter und weniger Gewalt über meine Armeen als ein einfacher Oberst. Meine Geheimkommunikation mit Euch gibt mir ein bisschen Macht zurück.« Und er unterschrieb einfach mit »Louis«.
Ich fühlte mich in meiner Stellung sicher.