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Wie ich unerwarteten Gefahren begegnete und auf unerwartete Weise mit ihnen fertigwurde

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Wer je eine hohe Stellung bekleidet hat, ohne in sie hineingeboren worden zu sein, weiß, wie heimtückisch sich der Boden des Olymp für bloße Besucher erweisen kann. Ein kleiner Fehltritt, ein starker Gegenwind, und man purzelt wieder hinab. Louis XV. schätzte meine Berichte, aber seine Hofschranzen, die nichts von unserer Beziehung wussten, kritisierten schon bald die Selbstverständlichkeit, mit der ich die Botschafterstelle als mein dauerhaftes Eigentum ansah, und mehr noch, dass ich frei über Staatsgelder verfügte.

Leider Gottes wurde der König von Liebesdingen abgelenkt und vernachlässigte seine militärischen Ambitionen. Seine neidischen Minister übernahmen das Ruder. Als ich mein inzwischen drittes Jahr der Macht in London genoss und im Ruf eines Mannes stand, der auf äußerst entspannte Weise das Sagen hatte – schließlich wusste ich, dass man mir in jedem Saal den Weg freimachte und dass ich auch große Männer von oben herab behandeln konnte –, setzte ein einfacher Sekretär mich eines Tages darüber in Kenntnis, der König habe an meiner Stelle einen neuen und diesmal Ständigen Botschafter ernannt.

Ich sandte ihm umgehend meine Protestnote. Der König antwortete nicht. Als ich seine königliche Aufmerksamkeit mit einem verärgerten Brief endlich auf mich ziehen konnte, reagierte er optimistisch. Insgeheim solle ich für ihn weiterarbeiten, aber in der Öffentlichkeit müsse ich mich von meiner Stelle zurückziehen. Mir nichts, dir nichts. Natürlich konnte sich ein König die Tragweite einer solchen Entwicklung überhaupt nicht vorstellen, ergo tat er sie mit einem Achselzucken ab. Ich musste acht Angehörige meines Personals entlassen, und man erwartete von mir sogar, dem wahren Botschafter das Geld für die Möbel zurückzugeben, damit er sich eigene anschaffen konnte.

Das war aber noch nicht das Schlimmste. Der neue und wahre Botschafter war ein alter Idiot aus einem uralten Geschlecht, ein Graf, ein feistes Zipfelhirn, der kein Wort Englisch sprach und selbst dann keinen anständigen Satz herausbekam, wenn sein Leben davon abhing. Der Außenminister fürchtete seine Depeschen wie die Pest, weil er wusste, dass sie seinen Ruf und sein Werk beschädigen konnten. Ein Mann in einer ranghohen Position wird nicht nach seinen Leistungen beurteilt, sondern nach seinen Leistungsberichten; der Graf indes konnte nicht einmal schreiben. »Daran gibt es nichts zu deuteln«, lamentierte der Außenminister beim König. Der frisch Bestallte hatte sich aber als kriecherischer Tugendbold bei der allmächtigen Maitresse des Königs eingeschmeichelt, Madame Pompadour, er buckelte und hielt ihr Hündchen, wenn sie sich erleichtern musste. Sie war es, die über die englische Botschafterstelle entschied, und zwar nach dem Tonfall, in dem er »Ja« sagte, und sie informierte auch den Minister, der ihr gehorchen musste. Wird die Regierung in Ihren Tagen etwa nicht mehr von Flatteuren gelenkt? Ich wurde zum Sekretär und Adlatus von Graf Zipfelhirn und, schlimmer noch, zu seinem Sprachrohr degradiert. Ich musste meinen Schreibtisch aus dem großen Botschaftsbüro entfernen und im Korridor in eine Nische stellen lassen. Und Sie müssen sich vor Augen halten, dass ich bei dem Mann, für den ich arbeitete, hoch verschuldet war – das überstieg mein Demutsvermögen.

Auf Morandes Rat hin nahm ich meine Mahlzeiten weiterhin in der Botschaft ein, kam früh in den Speisesaal, setzte mich an den Kopf der Tafel, überprüfte die Gelassenheit meiner Gesichtszüge in der blank polierten Oberfläche, arrangierte die Spitzenserviette, handhabte Besteck und Weinglas mit gewandter Selbstsicherheit, war bemüht, die mir anhaftende Aura der Macht nicht zu verlieren, und rührte mich nicht von der Stelle, wenn Zipfelhirn angedackelt kam. Ich ließ mir keine Verärgerung anmerken. Ich begrüßte ihn freundlich und erkundigte mich nach seiner Gesundheit. Er war gezwungen, an der Längsseite Platz zu nehmen. Als der frustrierte Graf mir einen Brief des Außenministers überreichte, der mich unverzüglich nach Versailles zurückbeorderte, versetzte ich: »Ich befolge nur die Befehle meines Königs, nicht die seiner Minister«, und tat weiterhin so, als hätte ich das Sagen. Morande applaudierte und war sich meines Erfolgs sicher.

Ebenfalls auf Morandes Vorschlag hin – ich stand in seinem Bann, war gefesselt davon, wie er Worte schleudern konnte – beschrieb ich in zierlichen, poetischen Wendungen, wie ich die Fähigkeiten des neuen Botschafters einschätzte, und stellte diesen Berichten sowohl seine Briefe an mich gegenüber als auch die all der kleinen Jupiters in seinem Dunstkreis, die ihn eingesetzt hatten. Ihre eigenen Schreiben gaben aus erster Hand Auskunft darüber, wes Geistes Wickelkind die Autoren waren und über wie viel Esprit und Staatskunst sie geboten. Ich vertraute sie Morande im Entrée der Botschaft an, vor den Augen Zipfelhirns, der sein Tagwerk gerade beenden wollte und bemerkte: »Das wird eine finstere und stürmische Nacht«, und der dann, als er Morande sah, stehen blieb und sagte: »Ich dachte, jemand wie Ihr hätte einen Regenschirm dabei!«

Eine gehässige und alles andere als unbedarfte Äußerung, gab sie doch zu verstehen, Morande könne sich keine Kutsche leisten. Zipfelhirn war verschwunden, bevor Morande majestätisch seine herrschaftliche Equipage mit Familienwappen an der Wagentür besteigen konnte, während sich der Botschafter mit einer Mietdroschke begnügen musste. Trotz meiner Degradierung hatte ich meine Kalesche noch nicht preisgegeben, machte aber lieber einen belebenden Regenspaziergang, zumal Morande nicht angeboten hatte, mich in seinem Fuhrwerk nach Hause zu bringen. Allzu ungeduldig brannte er darauf, ans Drucken zu gehen, und beteuerte, bis zum Morgen wäre mein Dossier fertig.

Zu Hause zog ich mich in die Bibliothek zurück. Ich trug den goldenen Hausrock, den die Zarin mir in Sankt Petersburg geschenkt hatte und der eine genaue Nachbildung ihres eigenen war. Dieser Hausrock beschützte mich vor allen Kümmernissen. Ich setzte mich an den Kamin und vertiefte mich wieder einmal in Abaelards Historia Calamitatum. Sie ist bis auf den heutigen Tag mein Lieblingsbuch – die Leidensgeschichte eines denkenden Menschen. Mein halbes Leben lang habe ich nicht begreifen können, welche Beweggründe Abaelard hatte, den Untergang zu riskieren, seinen engsten Freund zu hintergehen und seine Arbeit als Philosoph zu vernachlässigen, und all das nur, um mit einer närrischen jungen Frau im selben Zimmer sein zu können. Abaelard hielt sich nicht damit auf, seine Ekstase zu erklären, sondern ging einfach davon aus, seine Leserschaft würde ihn schon verstehen, wie sie ja auch Hunger und Kälte verstand. Von achtzehn bis vierundvierzig, sechsundzwanzig Jahre lang habe ich immer zum dritten Kapitel vorgeblättert, in dem der Held für seine Leidenschaft bestraft, von vier Männern festgehalten und entmannt wird. Ich fand immer, dass das Buch erst danach richtig interessant wird, wenn Abaelard sich mit dem Leben als Eunuch abfindet. Erst in meiner Lebensmitte sollte ich auf den Anfang des Buchs zurückkommen und daraus lernen.

Der Türklopfer zu später Stunde riss mich aus meiner ergötzlichen Lektüre. James war fort und sah nach einer mir unbekannten erkrankten Ehefrau, und ich musste selbst die Tür öffnen. Morandes riesige Erscheinung stand zerzaust und mit nackten Beinen im Platzregen. Er verlangte, ich solle ihm nach draußen folgen.

Dem gebieterischen Ton eines großgewachsenen Mannes konnte ich noch nie widerstehen. In Hausrock und -schuhen folgte ich ihm in den Wolkenbruch hinaus, wo er mir bedeutete, in seine Kutsche zu steigen. Das Luxusgefährt war ihm wichtiger als seine Kinder. Sie brauchten neue Schuhe, aber Papa sparte, um die erdrückende neue Radsteuer zahlen zu können. In meiner Überraschung vergaß ich nachzufragen, als er erklärte, er brauche mich bei sich zu Hause. Dorthin hatte er mich noch nie eingeladen. »Das ist keine Ehre, sondern ein Muss«, sagte er. »Gib mir deinen Rock, mir ist kalt.« Der Rock der Zarin war ihm in den Schultern viel zu eng, und ich hörte die Nähte krachen, aber sogar in der Dunkelheit musste ich zugeben, er stand ihm gut. Übergangslos fing er an, gegen die Arbeiter zu wettern, die allesamt faul und undankbar seien. Stumm und fügsam saß ich in meinem dünnen Hemd und der Kniehose da, lauschte dem Hufgetrappel der Pferde auf der Straße und dem Trommeln des Regens auf dem Dach. Als seine Tirade endlich versiegte, fragte ich: »Wo ist denn deine Hose geblieben?« Daraufhin zog er vom Leder, wie ich eine so »dämliche« Frage stellen könne, und zeigte schließlich auf das Häufchen in einer Ecke der Kutsche. »Da. Besudelt mit dem Blut meines Arbeiters. Er hat immerzu Fehler gemacht. Ich war so edelmütig, ihn bei seiner Bruchbude abzusetzen. Du wirst mir helfen müssen. Es ist übrigens dein Meisterwerk.« Wir waren angekommen. Morandes Haus gehörte zu den schmalen umgebauten Stallungen hinter dem Hanover Square. Kaum war die Haustür hinter uns ins Schloss gefallen, hielt er mir eine tintenbespritzte Druckerschürze hin und befahl: »Anziehen.«

Kein Wunder, dass er nie Gäste empfing; im Wohnzimmer stand seine große gusseiserne Druckerpresse. Seine zart gebaute Frau kehrte uns den Rücken zu und mühte sich an der Maschine ab, reinigte sie und bereitete alles vor. Druckertinte hat ihr eigenes Bouquet, verführerisch wie Galle, die mit verrottendem Wurzelwerk gemischt worden ist – ein öliger Sud aus Ruß, Terpentin und Walnussöl. Alle Flächen waren dem nötigen Zubehör vorbehalten. »Meine Frau erklärt dir alles«, erklärte Morande. »Eine Lage hat sie schon gesetzt. Ich bin müde und muss schlafen. Außerdem sorgt das für deine Unsterblichkeit, nicht meine.«

Ich behielt die Frage für mich, woher die Blutergüsse in ihrem Gesicht und das blaue Auge stammten. Sie war schlicht gekleidet, trug einen braunen Wollkittel, und ihr blondes Haar türmte sich auf dem kleinen Kopf; eine kleine, sehr hübsche Frau, ein Landeskind der Bretagne, das nicht wie eine Kuh aussah. Sie schien von unverfälschter Fröhlichkeit und wandte sich über die Schulter an mich, während sie mit zwei schweren Kugeln hantierte, aus denen sie die Tinte auf den Druckstöcken verteilte. »Man braucht Augenmaß, das ich mitbringe, um die Tinte gleichmäßig einzuwalzen, man braucht Fingerfertigkeit, die ich mitbringe, um den Pressdeckel aufzusetzen, und Körperkräfte, um den Pressschwengel zu bedienen. Die Kräfte habe ich nicht!« Sie zeigte mir, wo ich mich hinstellen musste, um den schweren Hebel zu betätigen.

Danach blieb sie stumm und entzog sich stundenlang jedem Gespräch. Als wir fertig waren, dämmerte es, und meine Handflächen waren vom Pressschwengel geschunden. Sie erwies sich als ziemliche Draufgängerin, umarmte mich fest von hinten und meinte: »Na, das hat doch Spaß gemacht, oder?« Ein Baby fing an zu greinen, Kinder kreischten, und sie ließ mich los. Das Familienleben kann ein rauhes Gefängnis sein. Ich fragte Morande gar nicht erst, ob ich meinen Hausrock zurückhaben könne, da er darin ins Bett gegangen war und Rotwein auf ihm verschüttet hatte, und seine Frau berichtete, die Ärmel wären abgerissen.

Eine Woche später hatte Morande zehn Exemplare meines Dossiers nach Frankreich geschmuggelt, wo Hunderte sie einander weitergaben. Der erwähnte Zirkel der Zipfelhirne konnte die eigenen Namen lesen und tobte.

Ich hatte keine Geheimnisse vor Seiner Majestät und sandte ihm persönlich eines meiner eigenen Exemplare mit dem Vorschlag, Versailles könne meine Schulden übernehmen. Die Minister brüllten zwar im Chor, ich müsse auf der Stelle nach Versailles zurückkehren, aber ich war mir absolut sicher, dass ich wegen meiner geheimen Beziehung zum König Erfolg haben würde. Und weil Morande mir versichert hatte, die Strategie, andere durch Druckwerke zu beschämen, könne ihr Ziel nicht verfehlen.

Die militante Madonna

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