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Wie ich meine Weiblichkeit bekannte

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Nachdem das Geschworenengericht meine Klage wegen Mordversuchs als rechtens anerkannt hatte, wurde ich zusammen mit meinem Vorgesetzten, dem »Ständigen« Botschafter, vor Gericht geladen. Er war der Beschuldigte, ich der Kläger. Der Richter hielt uns auf Abstand, den fülligen, japsenden, alten Franzosen und den schlanken, leisen, eindringlichen, goldlockigen jungen Englandfreund. Die Geschworenen waren hingerissen, und der heiße und stinkende Gerichtssaal war voll bis unters Dach. Zu meiner Zeit in London dauerten die meisten Gerichtsverfahren keine zehn Minuten, die Geschworenen erledigten sie hintereinander weg und gaben die Liste der von ihnen gesprochenen Urteile am Ende eines langen Tages bekannt. Bei meinem Fall kam es zu zwei Stunden besten Theaters mit zwei Schauspielern. Ich war natürlich der Hauptdarsteller, ein Ausländer, der das Heilige Britische Weltreich bewunderte. Der schurkische Botschafter sprach kaum ein Wort Englisch, vergaß ständig, wo er war, und beschimpfte mich in grässlichem Elsässisch, seiner Muttersprache. Es war durchaus erheiternd, auch wenn die Klage schlussendlich abgewiesen wurde, weil man allgemein vermutete, dass das neue Sprudelwasser abführend wirkte. Bevor er ging, unterschrieb Zipfelhirn Dokumente, mit denen er eine Beleidigungsklage gegen mich anstrengte.

Darauf war ich juristisch nicht vorbereitet. Und es würde bestimmt zu weiteren Mordversuchen kommen.

Dass Morande mir Löcher in den Bauch fragte, Antworten erwartete und Bestätigung suchte, leuchtete mir plötzlich ein. Ja, er wollte mich beschützen, indem er »die Wahrheit« über mich herausfand. Er hatte absolut recht. Ich musste in der Öffentlichkeit Zuflucht suchen.

In aller Eile schrieb ich einen – diesmal unsignierten – Artikel und enthüllte, dass »Yeux d’Ange« beziehungsweise der Chevalier d’Éon in Sankt Petersburg einst als Frau verkleidet für den König von Frankreich gearbeitet hatte.

Ich würzte den Beitrag mit ein paar Rätseln – was war ich nun, eine kräftige Frau oder ein mysteriöser Mann? Diese blonden Locken – welches Geschlecht hatte so dichtes Haar? Das Rätselbröckchen, eine Andeutung, wurde vom leidenschaftlichen Interesse der Londoner an sexuellen Abartigkeiten genährt. Binnen weniger Stunden schwoll es zu beschwingter Enormität an und durchschwebte alle Gespräche, bis bei Einbruch der Nacht Krethi und Plethi davon gehört hatten. Sie waren fasziniert – war d’Éon ein Mann oder eine Frau? Zwei Tage später sammelten sich vor meinem Haus die Menschenmengen, um flüchtige Blicke auf mich zu erhaschen.

Je mehr, desto besser, und umso größere Sicherheit. James erstattete mir Bericht: In diversen Herrenclubs wurden erste öffentliche Wetten auf mein Geschlecht platziert. Junge Männer konnten ein Vermögen verlieren.

»W. Hanger wettet mit Mr Fox um fünfzig Guineen, dass Mr Fox vor Mr Hanger an der Gicht erkrankt«, sorgte kaum für Beteiligung.

»Mr Boothby wettet 25 Guineen zu 20, dass Mademoiselle Heinel nächsten Monat nicht in der Englischen Oper tanzen wird«, bekam schon mehr.

Meine begann, wenn man so will, mit 90 Guineen zu 10, dass ich ein Mann war. Natürlich: ein Mann. Das war nur vernünftig. Vorsicht vor meinem Degen!

Morande drängte durch die Menge, um mir die aktuellen Wettquoten zu melden. Alle Zeitungen brachten die Sensation. Die Menge würde sich garantiert erneut vor dem Gericht formieren und den Gerichtssaal bis zum letzten Platz füllen. Wenn ich den Fall verlor, was ja nicht zu vermeiden war, wie ich wusste, würden die Leute johlen. Sie würden mich auf den Schultern tragen. Ein englischer Patriot musste um GOttes willen beschützt werden! Allein die Möglichkeit, so unwahrscheinlich sie auch sein mochte, dass ich eine Frau war, steigerte nur meine Attraktivität als Mann. Die Polizei würde mich allerdings aus dem schützenden Kordon herauszerren und ins Gefängnis werfen. Ich musste fliehen.

In der Nacht vor dem Prozess zog der Pöbel zum Haus des Botschafters und warf ihm mit Steinen die Vorderfenster ein. Das Splittern der Scheiben war in ganz Westminster und sogar am anderen Themseufer zu hören. Zipfelhirn konnte sein Haus verlassen, aber man folgte seiner Kutsche zur Botschaft und warf auch dort die Vorderfenster ein.

Am selben Abend empfing ich einen Brief von Lord X. Sonst ahmte er gern die blumige und pastose Druckschrift von Samuel Johnson nach, aber dies war in aller Eile und in federweicher Handschrift aufs Blatt geworfen worden. Der Zeitungsartikel über meine Weiblichkeit war offenkundig bis auf seinen Landsitz vorgedrungen. Seine Reaktion darauf erstaunte mich – er schickte nicht die Schmähung, die ich erwartet hatte, sondern eine Bekundung der Liebe und Bewunderung sowie den Wunsch, mich nicht im Gefängnis besuchen zu müssen. »Beeilt Euch!«, schrieb er. Bei Nacht und Nebel kehrte ich auf den Landsitz zurück, wo mich der würdige alte Herr im Nachthemd mit den Worten willkommen hieß: »D’Éon, ich weiß, dass Ihr ein guter Mann seid. Wir werden diese Angelegenheit mit keinem Wort erörtern.« Er umarmte mich noch im Entrée auf zärtliche Weise, sein Atem versengte mir den Nacken, und seine Hände umschlossen meine Pobacken. Frauen kennen das Gefühl nur zu gut, wenn Asterias Scheusal Verschlingungslust zeigt, aber der Anstand zügelt ihr Entsetzen. Lord X verkannte mein Erschauern, sah mir in die Augen wie in einen Spiegel, seufzte, bedauerte die Richtung, in die sein Gewissen seinen Körper zwang – und dieser wandte sich ab. Er wollte noch einen Kurswechsel einleiten, aber auf halber Strecke des Schlingermanövers streifte sein ausladendes Gesäß einen Armleuchter auf einem Tischchen, der Läufer im Entrée geriet in Brand, und dankbar für die göttliche Intervention stob ich davon, um einen Kübel Wasser zu holen.

Beim Frühstück lachten wir alle drei über mein tolpatschiges Umwerfen der Kerzen bei Betreten des Hauses. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Ich blieb bei Lord X und seiner Frau in sicherem Unterschlupf, und nach und nach verblasste die Erinnerung an Lord X’ übergriffige Hände auf meinem Körper; eben erst sind sie mir wieder eingefallen. Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, ob man vergibt, was man vergisst, oder ob man vergisst, was man vergibt. Lord X verbot jedenfalls alle Zeitungen im Haus, bis »dieser Unsinn« verraucht war und hielt einen Sicherheitsabstand zu mir ein. Beim Prozess erschien ich nicht in London, was als Missachtung des Gerichts gewertet und weswegen ich schuldig gesprochen wurde.

Ein Haftbefehl wurde ausgestellt. Ich blieb zuversichtlich. »Schuld ist Geschmackssache«, sagte Lord X. Und bis auf James, der einem Polizeiaufgebot gestattete, mein Londoner Stadtpalais zu durchsuchen, wusste niemand, wo ich mich aufhielt. Nach kurzer Zeit stahlen die Beamten sich wieder davon und wurden von der Menge verhöhnt. James trotzte einem Frühlingssturm und schaute unerwartet vorbei, um »eine Freudenbotschaft« zu überbringen. Seine graue Perücke war pitschnass und vielleicht ruiniert, und als er sie abnahm, sah ich seinen sorgfältig geschorenen Schädel. Ich bat ihn in die Küche, damit er sich am Ofen aufwärmen könne, aber er weigerte sich, den Rock abzulegen, und aus den grünen Manschetten und dem Rocksaum troff es auf den Boden. Ein Koch reichte ihm ein Trockentuch, und er tupfte sich Augen und Hände ab. Sein Gesicht verblüffte mich; ich hatte ihn noch nie lächeln sehen und nicht gewusst, dass er ein vollständiges Gebiss im Mund hatte. Er sprach mit unterdrückter Stimme – nachdem die Londoner Polizei keine Spur von mir hatte ausmachen können, waren die Wetten auf meine Geschlechtszugehörigkeit annulliert worden. Ich versuchte, sein Lächeln zu erwidern. Er verbeugte sich, lehnte alle angebotene Verpflegung ab und begab sich wieder in den Sturm hinaus.

Die Tage vergingen, und meine Gedanken gerieten ins Grau. Ich konnte meiner Gemütslage keine Diagnose stellen. Nachts nahmen die Schmerzen zu. Dass Tausende aus dem sicheren Abstand der Anonymität vom Geschlecht eines Menschen Notiz nehmen, ist eine Ehre, die den wenigsten zuteilwird. Ich hatte die Aufmerksamkeit genossen. Ihr Nachlassen war eine herbe Enttäuschung. Ich blies Trübsal.

Zwei Wochen später stattete James uns – bei schönem Wetter – den nächsten Besuch ab. Gab es diesmal schlechte Neuigkeiten? Ich gab vor, mich mehr für sein durstiges Pferd zu interessieren. Wir warteten darauf, dass der Stalljunge einen Kübel Wasser brachte. »Ist warm heute«, sagte er, wühlte in seinem Tornister und reichte mir als Erstes ein offizielles Dokument. Zögerlich erbrach ich das Siegel. »Großartige Nachrichten, James«, beruhigte ich ihn. »Der Haftbefehl gegen mich ist außer Kraft gesetzt worden. Mein König ist offenbar zur Vernunft gekommen und hat Zipfelhirn dazu verdonnert, seine Klage zurückzuziehen.«

»Da wäre noch einer«, murmelte James. Er reichte mir ein versiegeltes Pergament mit dem Petschaft von Versailles. Ich wandte mich ab, um mit Louis’ Brief allein zu sein. In ihm lag meine Zukunft. Nach den Qualen, die ich durchgemacht hatte, strahlte sie förmlich, fand ich. Der Brief enthielt den liebevoll quengelnden Wunsch, ich möge das Zusenden meiner Geheimberichte wieder aufnehmen; der Verfasser tat so, als wäre nichts zwischen uns vorgefallen. Er hatte Zipfelhirn nach Paris abberufen.

Ich musste ihm keine neuen Möbel mehr kaufen.

Ich wandte mich wieder James zu und rief: »Ich glaube, ich habe meine Stelle zurück!« Ich konnte den Drang, meinen Butler zu umarmen, kaum unterdrücken und lief stattdessen in die Kapelle des Landsitzes und dankte meinem Erlöser mit einer Stunde intensiven Betens.

Ich ahnte nicht, dass mir jetzt die größte Hürde meines Lebens bevorstand.

Die militante Madonna

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