Читать книгу Die militante Madonna - Irene Dische - Страница 6
Wie mir der erste Verrat entging
ОглавлениеWer ist dieser Morande, werden Sie fragen, dem ich so verfallen bin? Als er mich in der Botschaft erstmals ansprach, nannte das Schlitzohr mich »Bruder«. Er hätte uns »Brüder der Feder« nennen können, aber das tat er nicht. Weniger ist mehr. Er konnte sich denken, was es mir bedeutete, einen Bruder zu haben. In der Bourgogne war allgemein bekannt, dass ich nur Schwestern hatte. Ich begnüge mich mit der Bemerkung, dass er mit dieser raffinierten Anrede Anspruch auf meine Zuneigung angemeldet hatte, die über etwaige Meinungsverschiedenheiten zwischen uns weit hinausging. Mit seinem Rat bewies er mir schon bald seine Loyalität. Und da er eilfertig davon ausging, das Revier meines Herzens befinde sich jetzt ebenso sicher in seinem Besitz wie seine grenzenlose Eigenliebe, behandelte er mich oft grausam. Ich hielt ihm auch die andere Wange hin.
Das taten alle, die ihn liebten. Manchen Menschen auf Erden ist es erwiesenermaßen gegeben, andere zu unterdrücken. Morande, der älteste Hengst im Stall eines sanften Richters in der Bourgogne mit guten Beziehungen, hatte seit seinem sechzehnten Lebensjahr jedes Gatter durchbrochen. Er schwängerte die Mädchen der Gegend, und wenn etwas für ihn dabei heraussprang – Bewunderung war gut, Geld war besser –, konnte er auch leidenschaftlich gerontophil werden. Er bezeichnete sich als Genie, und die Leichtgläubigen sahen ihn auch so. Sie versorgten ihn nur zu gern mit den Luxusgütern, die er sich nicht leisten konnte, und bewunderten seine Dichtkunst, deren Spitzenerzeugnisse nicht auf seinem Mist gewachsen waren, denn er spickte sein dürftiges Geversel mit Zeilen, die er in ausländischen Gedichten fand, übersetzte und als seine eigenen ausgab. Niemand merkte etwas, denn seine dichte blonde Mähne und die gemeißelten Gesichtszüge, seine vollkommen ebenmäßigen Zähne und seine schlanke Gestalt ließen jedermanns Fähigkeit zur Kritik dahinschmelzen. Aber das Alter schmückt einen Hengst nicht. Morande machte eine langsame Metamorphose durch, und mit fünfzig war er ein zahnloses Maultier. Er musste aus Frankreich fliehen und ließ sich in London nieder. Nur seine kluge Frau – die schlagfertiger und witziger war als er, sich von ihm aber beleidigen und manchmal auch schlagen ließ – hielt ihn immer noch für einen schmucken großen Dichter, auch als er dann keine Gedichte mehr schrieb. In Wahrheit hatte er ein herausragendes Talent, das uns beide in den Bann zog. Er war das brillanteste Klatschmaul, dem ich je begegnet bin. Seine Lebhaftigkeit, sein ansteckendes Wiehern, wenn er etwas sagte, was er selber lustig fand, und seine Angewohnheit, einem übermütig die abscheulichsten Privatissima aus seinem Leben anzuvertrauen, verleiteten andere dazu, ihm die ihren anzuvertrauen. Nach kürzester Zeit wusste er alles über jeden! Mit meiner Ausnahme. Ich ließ mir nichts aus der Nase ziehen, spielte wohl mit und tat so, als wäre ich ihm auf den Leim gegangen, erzählte ihm aber nie etwas, was nicht längst allgemein bekannt gewesen wäre, und darin lag für uns beide die unerwartete und langfristige persönliche Herausforderung.
»Du musst mir alles über dich erzählen, damit ich dich beschützen kann«, bestürmte er mich und gab uneigennützige, selbstlose Neugier vor. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sich Selbstlosigkeit anfühlt. Wenn er einem Bettler einen Penny gab, erwartete er dafür eine Gegenleistung, mindestens eine himmlische Belohnung für seine Freigebigkeit.
»Bist du traurig?«, erkundigte er sich, wenn ich offenkundig große Sorgen hatte.
»Oh, durchaus nicht!«, antwortete ich.
Er war enttäuscht. Es mochte sein ehrlicher Wunsch sein, mir die Sorgen zu vertreiben, er würde sie seinem Magazin aber auch als Informationen über mich einverleiben. Bis auf James hatte ich jeden im Verdacht, Einzelheiten über mich zu sammeln. Ein solches Magazin konnte schnell zur Waffenkammer werden.
Ich gab meinem »Bruder« gegenüber garantiert niemals zu, dass ich in regelmäßigen Abständen von Teufeln heimgesucht wurde. Sie nahmen die Gestalt von Selbstzweifeln und Selbsthass an. Sie schlugen nur selten zu. Sie schlummerten in der Tiefe, bis etwas geschah, das sie weckte, dann aber erhoben sie sich und sorgten dafür, dass ich meine Persönlichkeit mit all ihren Ecken und Winkeln erst infrage stellte und dann als hassenswert verabscheute. Sie brachten mich in weit größere Gefahren als jedes feindliche Schwert. Wenn ich von ihnen zerrissen und in der Luft zerfetzt wurde, bewunderte ich andere unverhohlen mehr, als sie verdienten, ein Lakai kam mir groß, bildschön und glücklich vor; o wäre ich doch er! o wäre ich doch so normal! oder ein Morande mit liebender Ehefrau, die sich beschimpfen ließ, oder wäre ich doch seine Frau! Aber das ging nicht. Ich hatte gelernt, diesen Teufeln zu entkommen, indem ich stillhielt und mich in einen gefühllosen Stein verwandelte. Kein Wort kam mir mehr über die Lippen. Tagelang blieb ich im Bett, bis die Teufel gelangweilt abzogen. Was weit komplizierter war, als Morande mit seiner beschränkten Vorstellungskraft je hätte mutmaßen können. Zum Glück schauten die schrecklichen Besucher selten vorbei und auch nur in Augenblicken, in denen sie allenfalls meinem Stolz etwas anhaben konnten. Ich war schließlich ein kampferprobter Soldat.
In diesem Augenblick waren mein Stolz und meine Persönlichkeit in Gefahr.
Während uns der englische Liberalismus zu schreiben erlaubte, was immer wir wollten, und ein Franzose sich in London freimütig äußern durfte, konnte er von seinen Landsleuten gleichwohl nach Frankreich verschleppt und dort in die Bastille geworfen werden. Ein französischer Journalist, der Versailles in der freien englischen Presse verärgert hatte, wurde zu Tode gefoltert, sein Leichnam am schönsten Strand von Bournemouth vor aller Augen aufgebahrt. Man hatte ihm die bourbonische Lilie in die Stirn geschnitten, das Emblem des französischen Königs.
Morande selbst war aus zwei Gründen unantastbar. Erstens: Sein Vater war ein mächtiger Richter in Frankreich, der der Monarchie immer den Rücken gestärkt hatte. Zweitens und wichtiger: Alle Welt wusste, dass seine ihm treu ergebene und von ihm verprügelte Ehefrau ganze Schatzkammern mit den vernichtendsten Informationen veröffentlichen würde, wenn Morande je ein Haar gekrümmt würde.
Ich selbst hielt mich für unantastbar, weil ich der Leibspion von Louis XV. war. Das war eine plausible Schlussfolgerung. Der König brauchte mich, und er brauchte mich bei guter Gesundheit, wenn er seinen Erzfeind Britannien im Auge behalten wollte.
Das sollte sich jedoch als Trugschluss erweisen. Kaum hatte Morande mich in die Kunst des öffentlichen Protests eingeführt, erhielt »Louis« mein gewagtes Dossier und reagierte auf meine jahrelangen treuen Dienste, indem er meine Loyalität von Grund auf infrage stellte. »Illoyalität mir gegenüber verdient den Tod!«, schrieb er.
Stellen Sie sich das vor. Sie sitzen in einem gemütlichen Sessel, und plötzlich werden Sie aus heiterem Himmel, ohne jede Vorwarnung, zu Boden geschleudert.