Читать книгу Der Heinrich-Plan - Irene Dorfner - Страница 10
5.
ОглавлениеDer Rückflug war sehr ruhig. Anna schlief, während Leo angeschnallt und ohne sich zu bewegen auf seinem Sitz saß. Zitternd und erleichtert stieg Leo in München aus dem Flugzeug und war stolz auf sich: Auch diesen Flug hatte er überlebt.
Leo und Anna fuhren direkt ins Büro. Es war in Sylt schneller gegangen, als sie gedacht hatten. Am Flughafen Sylt mussten sie nur wenige Minuten warten, bis ihr Flugzeug startete und sie waren daher gegen 16.00 Uhr bereits wieder in Ulm. Obwohl sie beide müde und erschöpft waren, kam es nicht in Frage, jetzt schon Feierabend zu machen. Sie waren gespannt darauf, ob sich in der Zwischenzeit irgendetwas Neues ergeben hatte. Auch waren sie neugierig, wer alles auf der Liste der Hafenbehörde Sylt aufgeführt war und mit seinem Boot dort zur fraglichen Zeit angelegt hatte. Sie waren nur noch wenige Minuten vom Präsidium entfernt, als Leos Handy klingelte. Es war Stefan Feldmann.
„Hallo Leo. Ich bin hier in dem abgesperrten Areal auf der Schwäbischen Alb, wo wir den Toten gefunden haben. Wir versuchen, hier unsere Arbeit zu machen. Hier ist eine Frau von Kellberg, die unbedingt mit einem Medium das Areal betreten möchte. Ich gebe auf keinen Fall mein Okay dafür. Bitte klär das so schnell wie möglich ab.“
„Willst du mich verarschen?“
„Keineswegs, ich verstehe das auch nicht. Diese Frau von Kellberg macht keine Probleme, die steht am Rand. Aber dieses Medium will auf das abgesperrte Gelände. Mir ist egal, wer das ist. Keiner betritt das Gelände ohne, dass du das persönlich abgesegnet hast.“
Leo hörte deutlich Stefans Verärgerung, die er durchaus nachvollziehen konnte. Was sollte das?
„Alles klar. Ich komm so schnell wie möglich.“
„Beeile dich, bevor ich gegenüber den Damen ausfällig werde. Lange kann ich mich nicht mehr zurückhalten.“
Leo bremste den Wagen und lenkte ihn in eine andere Richtung.
„Das war eben Stefan, wir haben ein Problem auf der Schwäbischen Alb. Frau von Kellberg und ein Medium möchten auf das abgesperrte Areal.“
„Ein was?“, fragte Anna ungläubig.
„Ein Medium. Ich bin mir auch nicht sicher, was das zu bedeuten hat. Auf jeden Fall ist Frau von Kellberg vor Ort. Wenn das so ein Psychoquatsch ist, mit dem das Fernsehen vollgestopft ist, dann kann das lustig werden.“ Leo war enttäuscht und verärgert, denn er hielt Frau von Kellberg für eine vernünftige Frau. Er musste umgehend herausfinden, was das zu bedeuten hatte.
Kurze Zeit später parkten die beiden den Wagen und machten sich auf zum Fundort der Leiche. Sie mussten sich beeilen, denn die Zeit und somit die Dunkelheit saßen ihnen im Nacken. Anna hatte die falschen Schuhe an. Sie hätte nicht die hochhackigen Stiefel anziehen sollen! Sie schimpfte ständig vor sich hin, wollte es sich aber nicht nehmen lassen, Leo zu begleiten. Er hatte sie mehrmals aufgefordert, auf ihn am Wagen zu warten, die Strecke war mit vernünftigen Schuhen schon schlecht zu gehen. Leo war sauer und Anna neugierig, sodass die beiden die Strecke trotz der Umstände in 40 Minuten schafften.
Schon von weitem konnten sie mehrere Personen ausmachen, die heftig miteinander diskutierten. Leo erkannte Stefan, der wild mit den Händen gestikulierte. Er war 1,75 Meter groß, die wilden schwarzen, kurzen Locken umrahmten sein hübsches Gesicht. Leo kannte ihn schon, seitdem er in Ulm war, und das waren gut vier Jahre. Er schätzte seinen Kollegen sehr und wusste, dass es nicht mehr lange dauerte, bis ihm der Geduldsfaden riss. Neben Stefan stand Frau von Kellberg, die dritte Person musste das „Medium“ sein, was auch zu der chaotischen Kleidung passen würde. Es handelte sich bei der Frau um eine kleine, rundliche Person Mitte 60 mit weißen, langen Haaren, in denen ein langes, rotes Tuch eingebunden war, das fast bis zum Boden reichte. Sie trug ein langes, weißes Kleid und eine riesige Kette mit roten Glaskugeln. Leo war zwar kein Schmuckkenner, aber bei dieser Größe musste es sich um Glas handeln. Wenn diese Steine echt gewesen wären, hätte „das Medium“ ein paar Security-Leute gebraucht. Abseits des Geschehens waren vier Polizisten der Spurensicherung bei der Arbeit, sahen aber immer wieder interessiert zu den Diskutierenden. Mittlerweile war es 17.45 Uhr.
„Guten Abend, Frau von Kellberg. Können Sie mir bitte erklären, was hier vor sich geht?“ Leo war außer Atem und stinksauer. Er nickte Stefan nur kurz zu, der sehr erleichtert war, dass er endlich hier war.
„Guten Abend, Herr Schwartz. Bitte entschuldigen Sie, aber das hier ist wirklich sehr wichtig für mich. Ich arbeite schon seit einiger Zeit mit Madame Esmeralda zusammen. Sie ist ein Medium und verfügt über Fähigkeiten, die über die normale Vorstellungskraft hinausgehen. Wir wollen den Fundort der Leiche meines Sohnes abgehen, aber dieser Polizist hindert uns daran.“ Frau von Kellberg war sehr aufgebracht und Leo versuchte, ihr die Situation zu erklären.
„Selbstverständlich hindert er sie daran. Er hat den Auftrag, das Gelände nicht nur abzusuchen und eventuelle Spuren zu sichern, sondern auch Unbefugte daran zu hindern, das abgesperrte Areal zu betreten. Er muss Unbefugte davon abhalten, dass Spuren durch deren Aufenthalt vernichtet werden oder Spuren dazukommen, die uns nur unnötig aufhalten.“
Erschrocken sahen sich Frau von Kellberg und Madame Esmeralda an, daran hatten sie nicht gedacht.
„Wir müssen trotzdem darauf bestehen, dass Madame das Gelände abgeht. Nur dadurch kann sie Kontakt zu meinem Sohn aufnehmen und irgendetwas wahrnehmen, das uns zum Mörder von Maximilian führt. Je frischer die Spuren sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Madame etwas wahrnehmen kann.“ Sie sah zu Madame Esmeralda, die heftig nickte. „Ich möchte nur, dass Madame das Gelände abgeht. Wir machen nichts kaputt und nehmen auch nichts mit. Sie können selbstverständlich das Ganze überwachen,“ sagte Frau von Kellberg völlig verzweifelt.
Leo runzelte die Stirn. Das war genau das, was er erwartet hatte. Irgendetwas Übersinnliches, an das er sowieso nicht glaubte. Er sah aber auch die Verzweiflung in Frau von Kellbergs Augen und wandte sich Stefan zu.
„Welches Gebiet habt ihr schon fertig?“
„Von hier vorn bis zum Fundort der Leiche, bis rüber zu der Baumreihe,“ zeigte er mit dem Finger.
„Wenn Ihnen das Stück ausreicht, das mein Kollege gerade gezeigt hat, dann können Sie loslegen, Frau Esmeralda.“
Stefan war zwar nicht begeistert, aber er war auch neugierig, was dieses Medium jetzt wohl vorhatte. Er setzte sich zu seiner Freundin Anna, die sich völlig außer Atem auf einen dicken Ast gesetzt hatte. Beide warteten gespannt darauf, welches Schauspiel ihnen jetzt geboten wurde.
Frau von Kellberg strahlte Leo erleichtert an. Madame, die bisher kein einziges Wort gesagt hatte, sagte mit ihrer dunklen, rauen Stimme „Vielen Dank“.
Madame ging langsam über das Gelände, breitete dabei die Arme aus, wobei die Handflächen nach oben zeigten. Sie hatte die Augen geschlossen und den Kopf gen Himmel gerichtet. Trotzdem ging sie kreisförmig um den Fundort und zog dabei den Kreis immer enger. Leo war sich sicher, dass Madame mit den geschlossenen Augen schummelte, denn sie ging so zielstrebig und schloss den Kreis so exakt enger, was mit geschlossenen Augen niemals möglich gewesen wäre. Frau von Kellberg, die neben Leo stand, zitterte vor Aufregung. Anna, Stefan und die vier Polizisten sahen dem Ganzen sehr interessiert zu und Leo konnte sehen, wie sie die Köpfe zusammensteckten, sich unterhielten und zu Madame sahen. Alle schienen von diesem Medium nicht sehr überzeugt und einige machten sich lustig über das ihnen gebotene Schauspiel.
Plötzlich blieb Madame stehen und sackte in sich zusammen. Da sie sich einige Minuten nicht mehr rührte, lief Leo zu ihr und half ihr auf.
„Was ist mit Ihnen, Frau Esmeralda? Geht es Ihnen nicht gut?“
Völlig erschöpft antwortete diese:
„Das war zu viel für mich, ich muss mich ausruhen. Bitte bringen Sie mich weg von diesem Ort.“
Na bravo, dachte Leo. Erst kommt sie ungebeten hierher und dann darf ich auch noch helfen, sie wegzubringen. Da es eh schon spät war, machten sich alle gemeinsam auf den Weg zurück zum Parkplatz. Madame, die sich als ziemlich dick und unsportlich erwies, was ihre weite Kleidung weitgehend verdeckt hatte, keuchte und war knallrot im Gesicht. Frau von Kellberg hielt sich ganz wacker. Sie lief immer in unmittelbarer Nähe von Madame, um vielleicht eine Information von Ihr zu bekommen. Leo war klar, dass sie so, wie sie keuchte, kein Wort rausbekommen würde. Annas Schuhe waren völlig ruiniert und auch die teuren Strümpfe hatten Löcher und Risse. Sie war sauer und mit ihren Kräften am Ende, aber zum Glück war Stefan bei ihr und stütze sie. Trotz ihres Zustandes konnte er es sich nicht verkneifen, sich fortwährend über unpraktische und augenscheinlich unbequeme Schuhe von Frauen lustig zu machen.
Nach über einer Stunde waren sie endlich am Parkplatz angekommen und dort setzten sie sich auf eine für Besucher installierte Bank, die bei schönem Wetter einen gigantischen Blick ermöglichte. Inzwischen war es 19.30 Uhr und dunkel geworden, die Aussicht konnten sie nur noch erahnen. Die letzten Meter hatten sie mit Hilfe von Taschenlampen zurücklegen müssen, die Stefan und seine Männer zum Glück dabei hatten. Frau von Kellberg hatte in ihrem Wagen einige Wasserflaschen, die sie den anderen anbot. Madame trank gierig, erholte sich zusehends und atmete nach endlos langen Minuten endlich wieder etwas flacher, wobei ihr knallroter Kopf zwischenzeitlich zu platzen drohte.
„Bitte Madame,“ flehte Frau von Kellberg sie an, „so sagen Sie doch endlich, was Sie gesehen haben.“
Leo, Stefan, Anna und die anderen Polizisten hatten einen Halbkreis gebildet und starrten Madame an. Sie waren wahnsinnig gespannt auf das, was jetzt kommen würde. Es war totenstill, keiner wollte auch nur ein Wort verpassen, denn darauf hatten sie nun lange genug gewartet.
„Schreckliche Dinge habe ich gesehen,“ begann Madame mit einem jämmerlichen Ton, „schreckliche Dinge. Ich bin noch völlig erledigt. An diesem Ort sind Dinge passiert, die ich mir nicht einmal vorstellen kann. Ich habe Blut gesehen, viel Blut. Und viele junge Menschen, die ein Fest feiern. Dazu viel Alkohol, Aggressivität, Streit, ….. ich muss mich erst einmal beruhigen. Bitte bringen Sie mich weg von hier.“
„Ja natürlich Madame. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie mit meiner Neugier überfallen habe, aber ich konnte nicht anders. Wir fahren ins Hotel und dort ruhen Sie sich aus,“ sprach Frau von Kellberg. Sie nickte Leo, Anna und Stefan zu, hakte Madame bei sich ein und die beiden liefen zu dem teuren, goldfarbenen Sportwagen. Frau Esmeralda brauchte ein paar Minuten, bis sie in dem Wagen Platz genommen hatte, denn der war sehr tief und für eine Frau mit ihrem Umfang überaus ungeeignet.
Die Umstehenden starrten den beiden hinterher und sahen sich ungläubig an. Und schließlich lachten die Polizisten und auch Stefan laut los.
„Was soll das denn jetzt gewesen sein?“, fragte Anna, der wegen ihrer Schuhe das Lachen vergangen war. „Die veräppelt uns doch.“
„Na klar tut sie das,“ sagte Leo verärgert, „das war völlige Zeitverschwendung. Solche Leute nutzen doch nur die Hilflosigkeit und die Angst von verzweifelten Menschen aus. Ich könnte kotzen.“ Er ging zu seinem Wagen und musste erst einmal tief durchatmen und versuchte, sich zu beruhigen. Was war nur in Frau von Kellberg gefahren, dass sie diesem Unfug Glauben schenkte?
Anna hörte Leo nicht oft so reden und wusste, dass er jetzt nicht mehr ansprechbar war. Er war nicht nur verärgert, sondern stinksauer. Anna war überzeugt davon, dass es tatsächlich Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten gab, aber sie wollte mit Leo jetzt nicht darüber diskutieren. Diese Esmeralda war eindeutig eine Hochstaplerin, die es leider in Massen gab.
„Für heute ist für alle Feierabend. Morgen ist auch noch ein Tag,“ entschied Leo. Das Büro musste warten, für heute hatte er genug. Allen waren die Strapazen anzusehen. Vor allem Anna kam es sehr entgegen, dass sie nach Hause fahren und sich umziehen konnte. So, wie sie aussah, konnte sie sich nirgends blicken lassen, vor allem nicht im Büro. Sie wäre das Gespött der Kollegen.
Nach einem kurzen Stopp bei einer Fast-Food-Kette fuhr Leo in sein Appartement. Er setzte sich vor den Fernseher. Er musste sich dringend ablenken, so sehr hatte er sich über dieses Medium aufgeregt. Er zappte durch einige Programme, denn ein Programmheft besaß er nicht. Er stellte zu seiner Freude fest, dass auf einem Programm eben erst ein Tierfilm angefangen hatte; er liebte diese Filme. Er holte sich ein Bier zu seinen Hamburgern und Muffins und ließ sich berieseln. Er hatte an diesem Tag sehr viel erlebt und wollte jetzt auf keinen Fall darüber nachdenken, sondern nur noch seinen Feierabend genießen und zur Ruhe kommen. Nachdem er gegessen hatte, schlief er auf der Couch ein.