Читать книгу Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!!! - Irina Melchat - Страница 10
4. Sitzung
ОглавлениеSie setzt sich.
Rückt ihren Stuhl zurecht, lockert ein buntes Tuch um ihren Hals.
Wieder ist sie viel zu dünn nach meinem Geschmack angezogen, rüge ich innerlich gleichwohl mütterlich wie blöd. Temperaturen werden von Menschen durchaus unterschiedlich empfunden. Dennoch bleibe ich versöhnlich, thematisiere dieses Thema noch nicht in der Sitzung.
„Da täuschen auch dicke Schals, bunte Tücher oder auch dicke, oder füllig wirkende Mäntel nicht darüber hinweg...!“
„Dünn ist Programm, in jeder Hinsicht. Möglicherweise will sie schon mal die Jahreszeit symbolisieren mit ihrer Kleidung, die sich temperaturmäßig leider, leider noch nicht hat sehen lassen!
Heute trägt sie ein Baumwollhemdchen mit tiefem Ausschnitt und dünnem, gehäkelten Strickjäckchen darüber. Die schönen Haare trägt sie wieder hochgesteckt, nach hinten gekämmt. Steht ihr gut, obwohl die Haare nicht lang sind. Die dünnen Beine, die immerhin in Wollstrumpfhosen unter dem bunten Wollrock stecken, kokett übereinander geschlagen und die Arme auf den Armlehnen abgelegt, schaut sie mich keck an, nach dem Motto::
„Worum soll‘s heute gehen? Mir geht‘s gut!"
Ich könnte sie mir sehr gut in einer Anzeige in der Werbung vorstellen. Sie hat ein schönes, klassisches Gesicht, schmal, dunkler Teint. Sie würde super in einem SUZI WONG KLEID aussehen mit ihren dunklen, kinnlangen Haaren. Oder mit einem Tuch über der Stirn. Diesen Hippi-Style könnte sie auch gut tragen. Innerlich sehe ich sie tanzen. Ja, genau, diese Lebensfreude, Selbstvergessenheit und das Schäumen von Freiheit, das alles fehlt noch.
„Wie ist es gelaufen? Wie ist es Ihnen ergangen in der letzten Woche bis heute?“
„Gut. Ich hatte kaum noch Essstörungen. Habe in den letzten sieben Tagen nur einmal erbrochen. Vorwiegend habe ich mich wohl gefühlt. Es tut mir irgendwie gut, zu erzählen, was in mir vor sich geht...“
„Wie ist es Ihnen in ihrer Beziehung zu ihrem Freund ergangen?”, nehme ich den Teil zu ihrem Leben auf, zu dem ich bisher nichts hörte..., möchte gern meine Anamnesedaten ergänzen, Material sammeln.
„Wir sind ja heute erst in unserer vierten Sitzung und ich verschaffe mir gern einen weiteren Überblick über ihr Leben. Die erste Sitzung war ja doch ziemlich auf ihre Familie im Allgemeinen, die zweite auf die Beziehung zu ihrem Vater und die dritte auf Mutter und Bruder zentriert“, setze ich lächelnd hinzu.
„Ja, dann würde ich gern über meine Beziehung zu Karli sprechen. Also, er ist auch 28 Jahre alt, bekommt sein Studium nicht fertig, ebenso wenig wie ich. Karli bekommt von seinem Vater immer nur Ablehnung, weil er schon früh gekifft hat. Der Vater glaubt ihm nichts mehr und behandelt ihn wie Luft. Er arbeitet sich kaputt, kann Nähe nicht gut aushalten. Wir sehen uns nur wenige Stunden in der Woche, weil er mit seinem Chor im ganzen Land unterwegs ist. Er singt sehr gut und es macht ihm sehr viel Spass, an unterschiedlichen Orten zu sein. Die Beziehung geht erst seit Anfang des Jahres. Wenn wir uns sehen, ist er meistens bekifft. Seine Probleme stehen dann im Raum. Ich scheine ihn auch nicht so zu interessieren...“
„Wie fühlen sie sich denn, wenn Sie bei ihm sind?“
„Ich fühle mich allein. Ich tue dann alles, damit er sich wohl fühlt und ich ein wenig körperliche Nähe zu ihm bekomme..., oder besser, wir uns näher kommen.“
„Wie oft sehen Sie sich denn so in der Woche?“
„Das ist sehr unterschiedlich und hängt davon ab, ob er mit seinem Chor unterwegs ist oder nicht. In jedem Falle sehen wir uns in einem Job, den wir im selben Projekt haben. Das ist einmal pro Woche. Ansonsten vielleicht noch einen Abend in der Woche.“
„Wie kommen Sie damit zurecht, wenn er unterwegs ist?“
„Wenn ich von ihm komme, fühle ich mich völlig allein, leer und versuche krampfhaft, wieder in meinen Rhythmus zu kommen... Ich fühle mich meist nicht gut. Stopfe alles an Essen in mich hinein, was da ist und kotze alles wieder aus... Mir geht es dann völlig dreckig. Wenn ich dann zwei, drei Tage wieder mit mir allein bin, geht es langsam wieder.“
„Dann haben Sie keine Essanfälle?“
„Ich versuche mich zu kontrollieren, unterdrücke sie solange es geht.“
„Sagten Sie nicht vor ein paar Sitzungen, Fressanfälle hätten Sie nur mal so ein halbes Jahr lang gehabt?“, frage ich irritiert nach.
„Ja. Das stimmt. Ich werte diese Anfälle, wenn ich von ihm komme nicht so als Essanfälle, wie diejenigen, von damals. Da wechselte ich stündlich zwischen alles in mich hineinstopfen und dann schleunigst wieder ausbrechen hin- und her. Das ist jetzt nicht mehr so.“
„Was tun sie sonst noch so um Kontrolle zu erlangen über sich?“, und nehme jetzt erst einmal ihre Erklärung so an, wie sie sie mitgeteilt hat.
„Ich laufe jeden Morgen mit meinen Hunden. Dann esse ich mein Hanuta und fahre zur Uni oder zu einem meiner Jobs.“
„Hanuta?”, frage ich ungläubig.
„Ja, ich esse so gern etwas Süßes. Die Kalorien ziehe ich dann woanders ab...“, lacht sie.
„Ich wollte noch sagen, und mal eben noch mal ganz kurz dazwischen geschoben haben, damit ich es nicht vergesse: Meine Mutter hat gesagt, sie habe die Rechnung eingereicht. Aber ich habe immer noch nichts von ihr gehört... Mein Vater trägt notfalls die Differenz...“, stolziert sie, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, dass Papa zahlt.
„Sie wiederholt also, was sie schon einmal sagte..., scheint ihr doch wichtig zu sein“, notiere ich innerlich nebensächlich.
„Hat er das gesagt?”, frage ich aufhorchend noch einmal misstrauisch nach.
„Ja. Und ich soll unbedingt die Therapie machen!“
„Gut“, pausiere ich und frage dann:
„Was hat Hanuta und das Zählen von Kalorien mit Geld zu tun?“
„Keine Ahnung! Wie kommen Sie darauf?“
„Es war die Reihenfolge, die mir auffiel. Erst erzählen Sie von Ihrem Hanuta und dem Zählen der Kalorien. Dann schwenken Sie plötzlich zu ihrem Vater über, das heißt, erst zu ihrer Mutter, die sich um die Rechnungen kümmern will, und dann zu ihrem Vater hinüber - und der verdient ja das Geld für die Familie?”, gebe ich wieder, was ich gehört und auch verstanden habe.
„Nein, ich sehe da eigentlich keine Verbindung...!“
„Gut. Belassen wir es vorläufig dabei...! Es ist mir halt aufgefallen, dass Sie sich offenbar an eine festgelegte Kalorienzahl orientieren, die Sie vermutlich strikt einhalten. Und ebenso, was Sie essen! Irgendwie hörte sich dies für mich so an, als sei es Ihnen nicht so wichtig, was Sie Essen. Hanuta würde ich jetzt mal nicht zu Nahrungsmitteln zählen. Eher gefühlt als irgendeine Belohnung oder vielleicht auch Trost einsortieren, aber das kann ja anders sein...“, ziehe ich etwas zurück, was ich gehört hatte.
„Wenn es wichtig war, wird diese Kombination bestimmt wieder auftauchen...!”, nehme ich ihre resultierende Verunsicherung aufgrund meiner Nachfrage wieder in meine Hände.
Pause.
„Sie sprachen gerade von ihren Hunden? Was haben Sie für Hunde, also welche Rasse?“
„Zwei Lagotto Romagnolo! Ein Männchen, Buxy und ein Weibchen, Petsy!“, freut sie sich, dass ich nachfrage.
„Ah, die italienischen Wasserhunde, die Trüffel suchen!”, sage ich erfreut.
„Oh‘, das ist aber selten, dass jemand diese Rasse kennt!”, meint sie dann nochmals erfreut.
„Ja, ich kenne diese Rasse. Eine Freundin hat einen mit blauen Augen. Der schaut echt wie Django, alles inspizierend und einfordernd. Er bewegt sich auch so!“, lache ich, „da müssen Sie aber jeden Tag mit ihnen Spaziergehen“, meine ich pflichtbewusst, wie ich manchmal, nein, meistens sein kann.
„Ja, dass ist kein Problem. Jetzt zumindest noch nicht. Aber wenn ich mit dem Studium fertig bin muss ich sehen, wie ich das regle. Jetzt laufe ich morgens mit ihnen, mittags und abends“, erfahre ich, „jetzt kann ich mir das einteilen, wann ich mal für eine Stunde nach Hause fahre und mit ihnen gehe“, teilt sie mir ihre Organisation und ihr Ziel, alles unter Kontrolle zu haben, mit.
„Ja dann. Die sind ja nicht ganz preiswert, wenn ich jetzt mal an das Futter denke...!”, hole ich diese Seite der Medaille hervor.
„Ja. Aber das Geld bekomme ich von Opi und Omi. Die haben mir die beiden auch nach einem Urlaub in Ober-Italien geschenkt. Dafür liebe ich sie noch mehr. Wir waren in Rimini am Strand, als ich diese Rasse das erste Mal sah. Wir machten uns sofort auf zu einem Züchter. Da habe ich diese gelockten Hunde zum ersten Mal gesehen“, berichtet sie munter wie ein Fisch im Wasser, „und mich verliebt in sie!“
„Ja, Tiere können einen in Trab halten...!”, meine ich dann nebensächlich.
„Ja. Aber wenn ich die beiden nicht hätte, ich wüsste gar nicht, wie es mir dann ginge!”, höre ich dann wie erwartet und bekomme ihre emotionale Ressource, ihren Akku genannt.
„Ja, dass kann ich mir vorstellen. Im Studium hatte ich auch einen Hund, der viel Auslauf brauchte, viel Pflege und natürlich viel Spass, auch wenn ich schlechte Laune hatte“, locke ich weitere.
„Ja, die sind so lieb. Wenn die beiden merken, dass ich nach Hause komme, begrüßen sie mich schon auf der Treppe mit ihrem Bellen. Wenn ich zur Tür herein komme, springen sie an mir hoch, bekunden ihre Zuneigung. Ja, die beiden liebe ich und die lieben mich! Auch wenn es viel Arbeit ist mit ihnen!”, erzählt sie begeistert.
„O.k.“, hake ich das Thema Hunde vorläufig ab, „wollen wir mal noch einmal zurück zu ihrem Freund?“
„Ja, was soll ich denn erzählen?”, fragt sie nun etwas hilfloser geworden.
„Na, wie es ist, wenn sie mit ihm zusammen sind...“, und denke an die Hunde, die Frederice so lieben und Frederice sie.
„Ich erzähle ihm nicht viel, weil er mehr im Mittelpunkt unserer Beziehung steht. Er erzählt und problematisiert. Ich muss für ihn da sein...!“
„Das hört sich für mich so an, als seien Sie mit Ihrer Familie zusammen...“
„Wie meinen Sie das?“
„Na, ihre Mutter steht in ihrer Familie im Mittelpunkt, so wie Karli in ihrer Beziehung und gleichzeitig sagen sie, er interessiert sich nicht für Sie: Zwei Fliegen mit einer Klappe würde ich sagen. Da haben Sie den Vater auch noch gleich mit in der Beziehung zu Karli...“
„Ja, stimmt“, bestätigt sie überrascht, „so habe ich das noch gar nicht gesehen...“, und setzt nach einer Weile hinzu:
„Stimmt“, sie sortiert sich neu auf ihrem Stuhl, trinkt einen Schluck Tee.
„Sie müssen immer tun, was von ihnen verlangt und erwartet wird, oder?“
„Ja, ich traue mich nicht, etwas von mir zu zeigen, meine Gefühle, meine ich... einfach rum‘ erzählen kann ich schon, aber erzählen, was mich beschäftigt, kann ich kaum...“
„Ja, aber hier tun sie es doch auch...“
„Bei Ihnen ist das was anderes! Hier erzähle ich von mir!”, höre ich befriedigt und nicke, dass ihr der Unterschied klar ist.
„Sie tun es. Prima! Üben Sie weiter...., und behalten Sie bitte: Sie tun es und können es!”, setze ich leise und freundlich bestimmt hinzu.
Tränen treten in ihre Augen.
„Wir streiten oft...! Sagen Sie jetzt bitte nicht, auch so wie Ihre Eltern...“, lächelt sie mich unsicher dennoch fragend an und führt dann, gesammelt fort ohne ein Wort von mir erwartet zu haben.
„Wäre auch überflüssig“, laufen Tränen über ihr Gesicht, „gestern ging es wieder darum, dass, wenn er von seiner Tour mit seinem Chor zurück kommt, er sich erst mal einen Joint dreht und mir erzählt und erzählt, wie es war. Was, wer gemacht hat, wie es ihm damit ging. Ich höre dann zu und irgendwann bricht es aus mir heraus:
Warum sagst du mir nicht, dass Du Dich freust, mich zu sehen?‘ von ihm kommt dann:
Wieso‘, ich sehe doch, dass du da bist und erzähle dir, was unterwegs los war...! Was willst du noch mehr? Ich bin doch mit dir zusammen...! Mehr geht nicht. Ich ziehe mich dann zurück...“
„Sie sind dann enttäuscht, dass er nicht explizit fragt...“
„Ja, ich interessiere ihn überhaupt nicht. So fühlt sich das für mich an.“
„Und das kennen und können Sie gut, die Rolle des Zuhörers spielen...“
„Ja. Ich habe aber immer die Hoffnung, dass es sich diesmal anders entwickelt. Tut es aber nicht. Er fragt nichts, und sagt nichts...“
„Was tun Sie dann, wenn es sich wieder auf den gleichen Punkt hinbewegt?“
„Ich mache dicht. Bin reserviert, manchmal richtig beleidigt...!“
Pause. Ich kann nachvollziehen, wie sie sich fühlt.
„Oder gekränkt...?“
„Ja, ich werde dann zum Eisblock. Er kommt dann nicht mehr an mich heran...! Er merkt das dann meistens auch schon gar nicht mehr, weil er bekifft ist und in der Erzählung mit seinen Geschichten weitermacht....“
„Weiß er eigentlich von Ihrer Essstörung?”, kommt mir in den Sinn, es nicht als selbstverständlich vorauszusetzen, dass er von ihr weiß..., obwohl es ja nicht einfach ist, es zu verbergen. Das bedeutet immer sehr viel Stress für Menschen, die unter dieser Symptomatik leiden.
„Nein! Ich habe ihm nichts davon erzählt!”, steigt Panik in ihr hoch.
„Nein. Das habe ich nicht", wiederholt sie.
Schweigen.
„Wie gesagt, es geht ja um seine Probleme mit seinen Eltern, um Geld und Fertigwerden mit dem Studium. Er muss ebenso wie ich auch nur noch die Abschlussarbeit schreiben“, berichtet sie schleppend und niedergedrückt weiter.
„Das ist aber schwierig, wenn er nichts weiß...“
„Ja, aber ich kriege das schon geregelt...“
„Sie meinen, er merkt nichts? Heißt, Ich kriege das schon geregelt, dass Sie es verbergen?"
„Was glauben Sie denn wohl, wie er reagiert, wenn ich es ihm sagen würde?”, greift sie hilflos an.
„Er würde sich zurückziehen, denken, dass ich doch einen Knall habe, und er ein Problem mehr!”, wird sie langsam wütend, versucht sich und ihr Vorgehen, ihr Schweigen zu verteidigen.
„Aber Sie ziehen sich doch zurück! Von ihm wissen Sie es ja noch gar nicht...“
„Ja, stimmt auch wieder...! Ich habe Angst, ihn zu verlieren...“, setzt sie geknickt hinzu.
„Nun, aber so brauchen und lieben Sie ihn doch nicht, oder?“
„Doch! Ich liebe ihn! Es ist schön, nicht allein zu sein...", verteidigt sie ihre Gefühle und das Zusammensein mit ihm.
„Ich nehme, was ich kriegen kann! Verdammt, was soll ich denn machen?”, fragt sie und führt fort:
„Scheint eine Illusion zu sein. Ich kriege ja nicht viel von ihm....“, schließt sie traurig. Tränen rinnen über ihr Gesicht.
„Aber immerhin, sie sitzen zusammen in der Küche, trinken Tee... und scheinen doch irgendwie zusammen zu passen: beide haben sie ein Problem! Er mit Drogen und sie mit Essen. Beide haben sie ein Problem, dass man unter einem Begriff wie ,Abhängigkeit‘ fassen könnte, wenn man das wollte.“
„Wie? Wir haben ein ähnliches Problem? Was meinen Sie?”, fragt sie neugierig und traurig zugleich.
„Er glaubt, ohne Drogen nicht leben zu können, das Leben nicht ertragen zu können, vernebelt sich seinen Verstand, versetzt seine Gefühle und Wahrnehmungen in andere Spähren...“, sage ich, und warte einen Moment, bis ich das Gefühl habe, sie ist da angekommen, wo ich den Satz beendet habe. Sehe, wie Szenen mit ihrem Freund innerlich in ihr in Windeseile vorbeiziehen. Ich fahre dann jetzt fort:
„Und Sie können mit den Gefühlen nicht leben, die in Ihnen freigesetzt werden, wenn Sie ein Gramm mehr wiegen... Oder ein normales Mittagessen essen. Dann wallen Gefühle auf, die sie nicht ertragen können...“
„Genau“, übernimmt sie, „dann läuft der Film in mir ab:
Ich bin nicht schön!
Ich bin schlecht!
Ich mache alles falsch!
Ich bin zu doof!
Ich falle allen zur Last!“
Ich weiß' nicht, wer ich bin!
Nicht einmal, ob das deutsch oder griechisch ist, wie ich fühle oder was ich mir wünsche!
Ich weiß nicht, wie man halb so, und halb so, sein kann!
Ich weiß‘ nicht, was ich darf! Ich fühl‘ das nicht.
Ich fühl‘ mich einfach scheiße!“
Schließt sie den Schwall, gekrönt mit nationalen Identitätsfragen. Schweigt traurig. Kauert sich zusammen. Macht sich klein und kleiner:
Ich weiß nicht einmal, wo, also in welchem Land ich eigentlich leben will!“
Schweigen.
Ich fühle, wie viel Hoffnungslosigkeit, Wut und auch Unverständnis sie in sich trägt, wie viel Zerrissenheit und Heimatlosigkeit - trotz zweier Nationalitäten und zwei Pässen. Dennoch lasse mich nicht von unserem Thema ablenken. Ich nehme den Faden leise auf:
„Ein Wust von Gefühlen, Gedanken und Vorstellungen, vielleicht so ähnlich, wie Sie sie gerade aufgezählt haben, fällt in Sie hinein, mit denen Sie nicht anders umgehen können, als sie es tun? Erbrechen symbolisch? Damit es nicht so kommt, wie ihnen die Gefühle vorgaukeln? Sie fliehen auch, wie er, vor Ihren Gefühlen... Ihrem Leben... vor Ihren Bedürfnissen... und vor ihren Konflikten...“, ich unterbreche kurz, trinke auch einen Schluck Tee, so, wie Frederice jetzt, und füge hinzu:
„Nur anders als Ihr Freund...!“
Ernst schaut sie mich an. Tränen kullern über ihre Wangen und ihr Mund zieht sich weinerlich von einem Schrei, den sie offenbar innerlich spürt, zurück.
„Würden Sie am liebsten schreien, oder habe ich da was falsch wahrgenommen?”, frage ich leise und vorsichtig und da sie nicht antwortet, setzte ich noch einmal leise nach:
„Haben Sie den Schrei gerade heruntergeschluckt?“
„Mensch, Ihnen entgeht aber auch gar nichts“, spricht sie ebenfalls leise, mit schwachem Widerstand, den sie selbst nicht möchte, sich mit ihm unwohl fühlt, wie ich ihren Bewegungen im Sessel entnehme, aber dennoch etwas entrüstet, leicht den Kopf in meine Richtung hebend, in den Raum.
„Ja. Ich habe den Schrei herunter geschluckt“, kommt weiter fast trotzig zu mir herüber geweht.
„Ich kann doch hier nicht schreien!”, hängt sie an.
„Doch, das können Sie hier auch...!”, eröffne ich ihr eine neue Möglichkeit des Ausdrucks ihrer Gefühle.
„Ja, dann...! Ja, dann weiß ich schon mal Bescheid...", meint sie dann befriedigt und überrascht, das sie das hier auch könnte, wenn sie wollte. Sie steckt Grenzen des Möglichen in der Therapie ab. Lehnt sich tiefer in den Sessel hinein, versinkt. Es arbeitet in ihr. Ich lasse ihr Zeit.
„Hm, was möchten Sie?”, frage ich sie dann nach einer ganzen Weile leise und behutsam.
„Schreien, brechen oder mit Ihrem Freund sprechen?“
Der Satz weht im Raum, lässt sich nieder in ihren Gedanken. Lässt sich auf beiden Seiten ihres Konflikts nieder, nimmt Platz. Probiert aus. In ihrem Gesicht arbeiten die Alternativen und die emotionalen Vorstellungen, wie das eine oder andere wäre: wieder zu schlucken, runterzuschlucken, was sie schmerzt oder auszusprechen, was es mitzuteilen gibt.
„So, wie mit meinem Vater?”, fragt sie dann unvermittelt.
„Ja. Wenn Sie möchten?“
„Ich will dann lieber sprechen...“, sucht sie mit ihren Augen fragend die Kissenparade ab, welches sie nehmen möchte. Zeigt sich plötzlich sehr sicher und eloquent.
„Sie müssen nicht! Aber sie dürfen, wenn Sie wollen...!”, nehme ich sanft den letzten Druck, den ich in ihr angesichts ihrer Entscheidung wahrnehme, heraus.
„Ja. Ich möchte“, höre ich ihre feste und klar Stimme, so, wie ich sie auch inzwischen kenne.
„Nein“, verscheucht sie noch den letzten Zweifel und festigt mit,
„Ich will!”, ihre Entscheidung. Lässt sie förmlich herausschießen!
„Gut. Welches nehmen Sie?“
„Das da!”, zeigt sie auf ein großes, weiches, fast weißes Kissen, von denen mehrere im Raum liegen. Die dunklen, großen Grünen lässt sie links liegen, auch die runden, festen und bunten kommen nicht in Frage. Sie steht auf, nimmt es, rückt den leeren Designerstuhl zurecht, so, dass er ihr gegenüber steht, rückt ihren Stuhl noch etwas zurück. Sie reguliert und kontrolliert ihre Distanz, die sie zu dem anderen Stuhl möchte, schiebt heran und wieder weg und hat dann den für sie richtigen Abstand gefunden. Sie setzt das Kissen auf den Stuhl. Ihre Hoffnung, die darin mitschwingt, ist natürlich die, dass es so läuft, wie in ihrer ersten Stuhlarbeit.
„Karli, ich möchte Dir heute etwas von mir erzählen“, beginnt sie, nachdem sie sich hin- und her rutschend auf ihrem Stuhl in einer eher zurückhaltenden Position gefangen hat und sich traut, etwas zu sagen. Ein paar Sekunden später muss sie dabei fast würgen... Die Worte fallen wie Backsteine in den Raum hinein. Ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen, die sie bemüht ist, festzuhalten.
„Frederice“, sage ich sanft, „wir haben eine große Schublade mit Taschentüchern... Die können Sie alle vollweinen. Sie müssen sich nicht so zusammenreißen...“
Die Worte öffnen Schleusen, die sie hart in all' den Jahren kontrollierte. Tränen laufen, und sie erzählt ihrem Freund, wie ihr Tagesablauf aussieht, was sie tut und was sie nicht tut, wie sie sich dabei fühlt.
„Ich bin so einsam. Ich habe so eine Angst, dass Du mich jetzt nicht mehr magst und sagst:
'Dich will ich nicht haben! Ich habe genug Sorgen und Probleme...! Mach‘ dich vom Acker...!"
Sie weint den Rest der Sitzung. Die zerknüllten Taschentücher liegen achtlos auf dem Boden.
„Meinen Sie, ich könnte ihm das tatsächlich mal sagen, oder ihn fragen?”, schaut sie mich mit verweinten Augen zaghaft fragend an.
„Was meinen Sie denn selbst? Können Sie?”, antworte ich leise mit einer Gegenfrage.
„Mal sehen...“, meint sie dann entspannter, dennoch die Schultern kurz hochziehend und dann wieder fallen lassend.
„Frederice, Sie müssen nichts übers Knie brechen“, sage ich während ich fühle, wie sehr sie bemüht ist, alles richtig machen zu wollen..., und nehme ihr weiteren Druck:
„Hier in der Therapie müssen sie einfach mal nichts leisten. Es geht hier auch nicht darum, etwas richtig oder falsch zu machen. Oder schnell oder langsam."
Ihre Tränen fließen weiter. Laut schluchzt sie vor sich hin und Tränen und Schleim aus der Nase fließen in die Taschentücher.
„Sie können und dürfen hier so sein, wie Ihnen gerade zumute ist...", unterstreiche ich noch einmal das vorher Gesagte.
„Lassen Sie es sich entwickeln, lehnen Sie sich innerlich etwas zurück, atmen Sie aus und schauen, ob es für Sie einen richtigen Moment gibt, mit ihm zu sprechen oder nicht.“
„Spüren Sie nach, was Ihr Bedürfnis ist...!“
„Egal, ob und wie Sie es sagen, oder nicht sagen. Es ist alles ist in Ordnung!“
Pause.
„Wie wäre es, wenn Sie sich ein kleines Pflänzchen oder Samen und Erde kaufen und in einen Blumentopf pflanzen? So als Symbol für Ihren eigenen Prozess oder Ihre eigene Entwicklung. Ein Same braucht Erde, Sonne, Wasser und Aufmerksamkeit. Und Sie brauchen auch etwas, um zu leben. Jeden Tag! So, wie kleine Pflanzen oder Samen in der Erde. Sie können dann sehen, wie Sie sich parallel entwickeln: Der Same und dasjenige, was Sie für sich hier in der Therapie erarbeiten...“, versuche ich, Bedürfnisse in ihr anzuregen und ihre Wahrnehmung auf sie selbst zu lenken. So wirkt in diesen Minuten sehr zerbrechlich. Als hätte sie sich selbst vergessen und spürt sich gerade in diesen Minuten seit langer Zeit wieder neu.
„Oh, das ist eine schöne Idee. Das werde ich machen", begeistert sie sich.
„Ich liebe nämlich Blumen, Pflanzen, Bäume...“, leuchten ihre verweinten Augen tief grün auf und das Leuchten greift auf ihr Gesicht über, „das Töpfchen kommt auf die Fensterbank in die Küche. Das ist vielleicht der richtige Ort um etwas wachsen zu lassen...!”, meint sie zweideutig verstohlen schelmisch lächelnd.
„Dann viel Vergnügen...“, lächele ich sie behutsam an.
Wir verabschieden uns still, noch benommen von den intensiven Gefühlen, die so lebendig durch den Raum fuhren.
„Bis nächste Woche...!”, steht sie zart und entschlossen vor mir, als strecke sie Arme aus, die aus ihren sehnsüchtigen Augen herauswachsen. Ich umarme sie vorsichtig und sage:
„Ja, bis nächste Woche.“
Ich schließe leise die Praxistür hinter ihr, nachdem wir uns noch im Hausflur tonlos zuwinkten.
Ich atme durch. Schreibe Notizen zur Sitzung auf.
Der nächste Patient scheint eine Verspätung zu haben. Ich ziehe mir den Mantel an und gehe ein wenig vor die Tür, in den Wind und den Nieselregen. Schaue mir Blumen im Blumenladen die Straße weiter hinuntergehend im Vorübergehen an. Entspannt schaue ich, was so erblüht in diesem Monat und zum Verkauf angeboten wird. Aber die Blumen kommen ja aus fernen Ländern. Es ist nicht mehr am Angebot abzulesen, welche Jahreszeit gerade ist.
Menschen drücken sich an Häuserwände. Versuchen, sich vor dem Regen zu schützen. Reflexhaft unliebsamen Güssen und Wind aus dem Weg gehen wollend, dränge ich mich gleichfalls eng an die bunt angestrichenen, nun aber grau und kalt erscheinenden Häuserwände. Denke an die Malediven, als wir abends, als es tatsächlich mal regnete, in strömenden Regen unter stockfinsteren Himmel am Strand tanzten. Es war so warm und es war so egal, ob wir nass wurden oder nicht. Es war herrlich. Die Umstände sind doch wichtig, wann etwas als angenehm oder unangenehm empfunden wird und wie man dann als Mensch reagiert. In Erinnerung an den warmen Regen auf der Insel, erscheint mir jetzt auch der Regen erträglicher und ich höre einfach auf, mich wie blöd unbedingt an Häuserwänden entlang winden zu wollen. Indem ich mich gerade anfreunde, prasselt plötzlich ein Wolkenbruch auf mich ein und ich laufe fluchend die Straße entlang Richtung Praxis.
Da sehe ich aus dem Augenwinkel einen schwarzen Cayenne einparken.
„Na, da ist er ja“, notiere ich und drehe mich weg, um die Praxistür aufzuschließen, hänge den feuchten Mantel und nassen Hut auf und da schellt es auch schon. Er kommt mir mit verwildertem Gesichtsausdruck entgegen gestürmt und ich höre ihn schon auf den Treppen rufend:
„Ist das ein Sauwetter!“, betont er entgeistert das Klima.
„Ja! Stimmt!“, komme ich ihm in seinem Urteile stimmlich in der Melodie entgegen, „ich habe gerade auch noch etwas vom dem Guss abbekommen!“, und lache über unsere Empfindlichkeiten bezogen auf das Wetter.
Wasser tropft ihm über das Gesicht, das er mit seinem Jackenärmel fortwischt und mich dann ansieht und meint:
„Schön, dass ich jetzt hier bin und mich nicht mehr draußen herumtreiben muss! Hallo! Guten Tag erstmal!“
Der Wind zerzauste und zerlegte seine sonst akkurat gekämmte Frisur in ein wildes Nest aus dunklen Locken. Seine Hand fährt in die nassen Haare und versuchte sie zu ordnen, zu glätten. Er schüttelt sich wie ein nasser Hund, und zieht seine Jacke aus, die von dem kurzen Stück vom Parkplatz bis in die Praxis triefte.
„Ja, hallo! Guten Tag!“, erwidre ich seine unentschiedene Begrüßung, „schön das Sie da sind! Stau gehabt?”, nehme ich ihm seine Hektik und er nickt nur getroffen von Einflüssen, die wir nicht in der Hand haben.