Читать книгу Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!!! - Irina Melchat - Страница 5
Maria
ОглавлениеWir treffen uns am frühen Abend in einem Restaurant. Es liegt ziemlich genau zwischen den beiden Städten, in denen wir wohnen. Ich warte, bin etwas zu früh.
Es ist dunkel in der Grünanlage.
„Na, es ist ja auch Anfang März“, schießt mir durch den Kopf, „da ist es immer noch dunkel um diese Zeit. Was will ich denn da sehen?“
Dennoch versuche ich durch eines der großen Fenster zu schauen, drehe den Kopf über meine Schulter nach hinten rechts und blicke in skurril wirkendes, nacktes Geäst kleiner Bäumchen, die durch die Innenbeleuchtung matt beschienen aus der Dunkelheit hervortreten. Graue Eminenzen, die bei der kleinsten Bewegung meines Kopfes wie ertappt wieder zurücktreten.
Nur der Weg zum Parkplatz ist hell beleuchtet. Die entfernt und gegenüber dem Fenster, an dem ich reserviert hatte und nun saß, liegenden Fenster geben spartanisch, aber dennoch imposant den Blick frei auf leuchtend weiße Pflastersteine. Sie markieren den Weg vom Parkplatz zum Eingang des Restaurants. Die Steine wirken von hieraus wie morgens gescheuert. Halbhohe Buchsbaumhecken säumen und begrenzen den Weg, der durch raffiniert verdeckte Lichtquellen erleuchtet wird.
„Wie sieht der Garten nun aus?”, frage ich mich, obwohl ich genau weiß, da ist sonst nichts weiter zu sehen als das gerade an Eindruck erhaschte. Die Erinnerung vom letzen Sommer und Herbst, mit den noch lauen Abenden, ja, fast gedehnt bis in die Nacht hinein, sind mir noch gut in Erinnerung. Ich rieche förmlich noch Blumen, Wald und das nahe Wasser, und wie Gerüche mir zärtlich wie Parfüm um Gesicht und Nase streichen. Ich liebe es, wenn die Hitze des Tages geht und Gerüche kühl und sehnsüchtig durch die Abendluft wehen. Wie Blätter im Herbst ein letztes Mal aufleuchten bevor sie fallen.
Aber die Scheiben spiegeln ansonsten wegen der Lichtverhältnisse im Raum nur das Interieur wieder, lassen mich so gut wie nichts erkennen.
Ich sehe mich.
Allein am Tisch sitzend, wartend, suchend.
„Na, vielleicht sehe ich ja auch Gespenster", geht mir durch den Kopf.
Diese Sache mit meiner Patientin lässt mir keine Ruhe.
Das habe ich auch noch nie erlebt: Eine Mutter, die ihre Tochter, und nicht nur diese, systematisch zerstört und das Beste, mich hineinzieht, wo ich ihrer Tochter geholfen habe und sie weiterhin behandle, und zwar mit gutem Erfolg! Nicht zu fassen! Ich fühle mich wie eine Schachpuppe, die nun logisch zu funktionieren hat. Zwar kann ich mir so einen Automatismus selbst abverlangen, wenn ich das will, nun aber muss ich mich einer fremden Quelle fügen. Und das widerstrebt mir. Sogar sehr! Es fällt mir keine weitere Steigerung dafür ein: So gar sehr, sehr!
„Die Abendkarte bietet wieder hervorragende Menüs. Wie immer", lenke ich mich ab. Ich kann würfeln, was ich nehme, ebenso wie ich würfeln könnte, was ich weiter in dieser Angelegenheit unternehme. Falls ich etwas unternehme! Ein Schatten huscht schnell über den Weg. Fliegender, heller Mantel. Maria.
„Ah, da bist du ja!”, rufe ich unwillkürlich, winke ihr zu und stehe auf, gehe ihr entgegen um sie zu begrüßen.
„Schööön, dass duuhu schon daaha biiist“, umarmt sie mich. Ihr südamerikanischer Dialekt umfängt mich wie eine andere, irgendwie tröstliche Welt. Ich drücke sie herzlich und rieche ihr Parfüm. Erkenne es nicht sofort, tippe auf Versace, Bright Crystal, frage es kurz ab: „Versace? Rosa Flakon?“, und höre schon einstrahlendes Ja und erkläre mich entschuldigend, damit sie sich nicht entschuldigen muss:
„Ja, ich bin zügig durchgekommen. Es gab mal keinen Stau....!"
Noch beim Ausziehen des Mantels fällt sie mit der Tür ins Haus:
„Was gibt‘ es?“
Ihre Aktentasche versteckt sie mit einem Griff an einem Tischbein unter der weißen, langen Decke, die unseren Tisch bedeckt. Ein Kellner eilt schnellen Schrittes heran, greift in die Schulterpartie ihres Mantels:
„Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?”, hört sie, nickt kurz und kommentiert mit „Danke!"
Sie schaut mich ernst und durchdringend an, will sich schon mal einen Eindruck von dem, was ich erzählen möchte, einfangen, an meinem Gesicht ablesen.
„Kommst' du von einem Termin?”, antworte ich mit einer Gegenfrage auf die Aktentasche anspielend und ablenkend von ihrem durchdringenden Blick.
„Nein. Ich dachte, ich nehme sie mal mit, falls ich schon irgendetwas nachschlagen kann."
Ihre kleine Handtasche landet achtlos auf dem Tisch. Sie zieht an ihren dünnen, schwarzen Lederhandschuhen, die sie oft beim Autofahren trägt, Finger für Finger bis sie sich endgültig gelöst haben und legt sie auf ihr Täschchen.
„Bei dem, was ich zu erzählen habe, gibt es erst einmal nicht viel nachzuschlagen, glaube ich zumindest...!”, teile ich ihr mein Resümee bezogen auf dasjenige, was ich ihr zu Gehör bringen will an diesem Abend, mit.
„Die Mutter einer Patientin, die Theater wegen der Rechnung macht...“, ergänze ich knapp, die Demütigung referierend und unmissverständlich ernst.
„Aber nun setz' dich erst mal! So viel Zeit muss sein!" Der Stuhl wird zurecht gerückt. Sie nimmt Platz und ich sehe ihr beim Durchstrecken des Rückens zu, der von der Autofahrt verkrampft scheint.
„Und, was macht der Vater?”, hakt sie nun schon sitzend nach, die Hände noch auf den Hüften ruhend, ins Hohlkreuz gehend, sich nach vorn und hinten mit der Lendenwirbelsäule bewegend.
„Der hält sich wie immer, wenn ich meiner Patientin glauben darf, raus.“
„Was für einen Beruf hat er?“
„Er ist Kollege, Facharzt, Radiologe!“
„Nee, das kann ja wohl nicht wahr sein!”, quittiert sie den Fachbereich.
Wir lachen mehr entgeistert, als vor Freude.
Wohlwissend, das die Radiologen diejenigen sind, die das meiste Geld unter den Fachärzten verdienen.
„Tja, es gibt nichts, was es nicht gibt!”, füge ich hinzu.
„Vielleicht geht der in eine Spielbank oder hat andere teure Vergnügen, Autos, Frauen...!”, schließt sie halb scherzhaft an, weil derartige Überlegungen in solchen Fällen wohl angebracht sind.
„Du, das könnte sogar der Fall sein...", stimme ich zu, um im nächsten Augenblick zu widerrufen:
„Aber nein, davon gehört habe ich nichts...!”, versuche ich die Leichtigkeit der Mutmaßung, wie sie oft im ersten Schritt routinemäßig und sicherlich oftmals alltagstauglich sich selbst bestätigend geäußert wird, zu vertreiben. Maria erspürt haarfein die nebelige Bedrückung, die ich abstrahle.
„Sie will Lichter zur Orientierung anzünden!”, blitzt es in mir emotional auf und verwerfe einen möglicherweise ernst gemeinten reflektorischen Wert.
„Sie will mich aus der Versenkung holen, in die mich dieser ganze Mist manövriert hat...", ziehen Gedankenwölkchen sekundenschnell weiter durch mich hindurch. Bestünde der Verdacht, würde er zum einen die Lage der Dinge vereinfachen, ein mögliches Motiv klarer offenbaren, oder aber nochmals verkomplizieren.
„Du, da haben wir eine ganze Reihe von Ärzten bei uns“, versucht sie zu beschwichtigen und führt erklärend fort, „wenn die mit ihrem Nachwuchs kommen, den andere Ärzte behandelten, gehen wir schon laufen. Sie streichen Positionen, kürzen Rechnungen, wie sie wollen! Wir haben da Rechtsanwälte, Kollegen, die ich gut kenne, die solche Dinge regeln....“, lacht sie nun erleichtert, offenbar meinend, damit sei das Problem, das ich mit ihr besprechen will, vom Tisch.
„Viiiel Professionalität! Viiiel Erfahrung!”, lockt und triumphiert sie zugleich, weil sie es nicht haben kann, wie mich diese Angelegenheit knickt und quält und sie in ihren Dialekt verfällt.
„Maria, wenn es das mal wäre, wäre es nicht wirklich ein Problem...“, sage ich leise, bedächtig den ganzen Matsch und Dreck, der dahinter steckt und geeignet ist, Menschen in die Klapse oder sich gegenseitig umbringen zu lassen, mitschwingen lassend. Ich schaue mich verstohlen um. Nein, das Restaurant ist ziemlich leer. Die Musik lässt Worte tanzen und Gesprochenes schwimmen gehen. Es kann niemand mithören, versichere ich mir selbst im Blick auf die wenigen Gäste heute Abend.
„Waahas iiist looooss!”, melodisch setzt die dunkelhäutige, immer beneidenswert braune Südamerikanerin entschieden und unterschwellig schon fast beleidigt, die Daumenschrauben an, wackelt mit dem Kopf, als wenn sie alles andere aus dem Kopf nach hinten abschütteln will.
„So kenne ich sie!”, lächele ich in mich hinein.
Da täuscht auch nicht ihr schickes Kleid mit Norwegermuster, dem sie als Krone noch ein weißes zartes Tüllbändchen, gebunden zu einer stolzen Schleife mit irgendeinem schwarzem Klimbimherzchen um ihren schlanken Hals auf den Ausschnitt setzte, bevor sie losfuhr. Nein, sie ist ein Profi, und ich trage weiter vor:
„Die Mutter der Patientin zerstört alles, was ihr lieb‘ und wert sein müsste....!“
„Waaahas meiiinst duhuu?“, springt mir Ungeduld dunkel entgegen. Maria zündet sich endlich die Zigarette an, die sie bereits einige Male auf dem Tisch festgeklopft und zwischen den Fingern mit blinkend rotem Nagellack bemalten Fingernägeln hin und her gedreht hatte, mal Filter-, mal Tabakseite.
„Du weißt, du musst schweigen....! In diesem Fall ganz besonders. Ich weiß nicht, wie diese Geschichte ausgehen wird. Die Mutter ist psychisch krank, was sie jederzeit bestreiten wird, sollte es so weit kommen!“
Die kleine Kellnerin kommt in blinkend weißer Schürze direkt auf mich zu gelaufen.
„Fehlt nur noch ein Häubchen", denke ich bei mir, „dann wären wir in 1930...", steigt völlig unerfindlich dieser Gedanke aus dem Nichts in mir auf.
„Obwohl ich schon zig mal in diesem Restaurant gesessen hatte, war mir eine derartige Assoziation bisher noch nicht untergekommen“, wundere ich mich, meinen eigenen Gedanken einen Augenblick festhaltend, während ich Marias Gesicht entnehme und aus ihrer Mimik lese, wie sie das Gesagte verarbeitet, das ihr auch nicht gefällt, obwohl sie noch nicht genau weiß, was los ist.
Ihr Mund bewegt sich, mal spitz, mal entspannt, aber immer geschlossen; die Kaumuskeln tanzen.
Um den Mund zuckt es, ihre Augen zwinkern zu häufig unabsichtlich und sie stößt die nächste Zigarette rhythmisch mit dem Mundstück auf den Tisch, als würde Tango getanzt. Das Weiß in ihren dunkelbraunen, fast schwarzen Augen blitzt im Dunklen, ein sicheres Zeichen, dass ihr Geist und Verstand arbeiten. Ich sehe förmlich die Infos durch die Ganglien ihres Hirns jagen. Sucht selbst nach Erklärungen, was ich ihr noch mitteilen werde. Sie will nicht überrascht werden, niemals, selbst Hypothesen gebildet haben. Letztens erzählte sie mir, dass sie gleichfalls wie ich auch, Schach spielt - gegen den Computer, der ziemlich gut ist. Man erfährt doch selbst nach Jahren immer noch Neues. Es freut mich. Ich kann mich auf sie verlassen.
„Die Kellnerin kommt. Lass uns was auswählen“, flüstere ich fast und schaue Maria auffordernd an. Sie kann die Kellnerin nicht kommen sehen, da sie mit dem Rücken zur Küche sitzt.
Schnell greifen wir pflichtbewusst zur Karte, stöbern uns durch die Angebote. Leicht strapaziert durch die unliebsame, aber notwendige Unterbrechung, fliegen unsere Nerven über Menüs hinweg. Die Speisekarte ist wie immer auf hohem Niveau, von uns aber heute Abend wenig gewürdigt. Wir stöbern schnell weiter.
„Bitte ein große Flasche San Pellegrino für uns. Und bringen Sie doch bitte Zitronenspalten dazu...“, wimmele ich die Kellnerin vom Tisch um Zeit zu schinden, die Karte zu studieren.
„Was nimmst du?”, fragt Maria, den Blick unverwandt in die Karte gerichtet.
„Ich weiß noch nicht.... Ich glaube, ich nehme Loup de Mer in der Salzkruste. In jedem Falle möchte ich aber als Nachtisch die Variationen von Rhabarber, Himbeeren und Mandel.“
Das Wasser kommt. Gläser werden vor uns aufgestellt und zur Hälfte aufgefüllt. Auf einem Dessertteller liegen Zitronenspalten. Die Kellnerin hält ihn noch in einer Hand, und stellt ihn dann zu den halbgefüllten Gläsern mit dem Wasser. Pfefferminzblätter liegen aufmuntert zwischen der aufgeschnittenen Zitrone.
„O.k.! Ich nehme den Seeteufel. Und du den Loup de Mer, wird bestimmt sehr saftig sein“, bestätigt Maria mir meine Wahl, und bestellt bei der Kellnerin in einem Rutsch auch unseren Nachtisch. Sie entscheidet sich für Ziegenfrischkäsesoufflé mit Mandarinenkompott.
„Wünschen Sie die Weinkarte?”, fragt die Kellnerin verzagt, weil sie uns so kurz und bündig selten erlebt hat.
„Nein, danke...", antworte ich freundlich um sie nicht zu verschrecken, „heute Abend besser nicht!"
Maria ist Rechtsanwältin und hat ebenso Schweigepflicht bezogen auf ihre Mandanten einzuhalten wie ich in meinem Beruf als Psychotherapeutin wegen meiner Patienten.
Aber diese Schweigepflicht ist natürlich bei Psychotherapeuten enger als bei Rechtsanwälten. Rechtsanwälte können sich wegen ihrer Mandanten, die sie aus irgendwas rausgehauen haben, rühmen oder stehen in den Zeitungen, wenn sie die Schlacht für ihre Mandanten gewonnen haben. Bei Menschen, die sich in einer Psychotherapie befinden, ist Schweigen eine absolute Notwendigkeit. In Hinsicht auf dasjenige, was man über Familien, politische und ökonomische Auswirkungen und generell Gesellschaft erfährt, sicherlich nicht. Obgleich ich inzwischen fast geneigt bin anzunehmen, dass die Schweigepflicht im Sinne eines Schutzes mehr dem Erhalt eingefahrener Strukturen in der Gesellschaft, als den Patienten dient. In der Psychotherapie bleiben die Informationen, die in Gesellschaft und in Menschen notwendig für sinnvolle Veränderungen zu wissen wären, in Akten und in den Köpfen und Herzen der Psychotherapeuten wie im Kerker gefangen. Nach zehn Jahren dürfen die Akten in der Praxis vernichtet werden, Krankenkassen müssen sie keine zwei Jahre aufbewahren. Aber dasjenige, was wir gehört, gefühlt und gesehen haben, kann nicht gelöscht werden. Schreit stumm nach Worten, die nichts mehr wünschen, als gehört und verstanden zu werden. Und nicht nur das: Die Seele schreit danach, gehört zu werden, damit korrigiert wird, was nicht tragbar, nicht auszuhalten, nicht zu leben ist. Aber oftmals ist nicht von Interesse, was Menschen bewegt, ist Schall und Rauch für die Gesellschaft. Seele und Psyche werden durch viele und sehr unterschiedliche Einflüsse verhunzt. Kenntnisse über die Psyche werden zu einem kleinen Bächlein, das durch die Gesellschaft fließt und man lässt ab und zu Steine auf seinem Wasser tanzen und zeigt mit dem Finger darauf und sagt:
„Ach, wie schön Gefühle sind, wie schöne Menschen es gibt, ach, wie schön ist unsere Welt und unser Leben!"
So steht es oftmals verführerisch in Wort und Bild auf dem Hochglanzpapier der Zeitschriften, die sich dann bedeutend besser, gleichfalls wie Autos, Häuser, Interieur, Kleider, kurz alles, was Menschen gern haben oder hätten, verkaufen lassen. In anderen Zeitschriften oder Zeitungen sieht man Zerstörung, Verletzung, Tot, Armut, Krüppel. Steve McCurry, ein Kriegs- und Reportage-Fotograf, ein Magier der Farben, gelang der Mix aus Schönheit und Krieg in seinem berühmtesten Foto, auf dem er ein afghanisches Flüchtlingsmädchen abbildete. Ein begnadetes Werk, wie ich finde und dem Art-Director Johannes Erler im STERN-Magazin zustimme. Die faszinierend blaugeränderte Iris, die rund um die großen, schwarzen und aufgerissenen Pupillen hellbraune, gelbe und manchmal weiße Flecken gleich Kriegsschauplätzen freilegt. Als sei die Bildung der Farbe für die Iris zerstückelt, zerrissen worden. Die irrwitzig leuchtenden, aufgerissenen Augen der jungen Frau wirken mit den vor Angst geweiteten Pupillen, möglichst alles wahrnehmen, aufnehmen und beurteilen zu wollen, übergroß wie Teller. Erfahrungen spiegeln sich in ihnen wieder. Angst. Misstrauen, weniger zu sehen, als zu erschließen aus den an sich gefühlsneutral wirkenden Augen, die fest auf Umgebung und Gegenüber geheftet, Gefahr einschätzen, die Bereitschaft zu handeln ablesen lassen. Einatmung und Luftanhalten der jungen Frau strömen dem Betrachter des Fotos förmlich entgegen. Angstatem wird hörbar. Spürbar. Ich kann nur raten, worauf die junge Frau blickt. Vielleicht auf eine überdimensional große Kamera, zu der ihr vom Fotografen in fremder, vielleicht für sie fragmentarisch bleibender Sprache etwas mitgeteilt wurde und sie nicht weiß, ob sie dem Mann trauen soll? Ob da nicht doch eine Art Gewehr darin steckt und es gleich knallt?
„Bleiben oder weglaufen?“
Dann gibt es diejenigen, die Tips in Büchern geben oder sonst, wo.
„Ja, und wir wissen jetzt auch, das es eine Psyche gibt."
Wenn sie wirksam wären, stünden die Menschen bei uns nicht Schlange. Aber wie viel Mühe es Menschen kostet, sich aus psychischen Schieflagen wieder herauszudrehen, ist unsäglich. Nein, über die geistige und emotionale Handarbeit in Behandlungen und deren Erkenntnisse will man dann doch nicht so viel wissen. Es könnte ja sein, es müsste etwas aus Sicht des Seelenleben geändert werden. Nein, das will man nicht. Mit seiner Psyche soll mal jeder selbst klarkommen. Und wenn er nicht allein klar kommt, ist er eben ein Fall für die Praxen der Psychotherapeuten. Dann haben die eben einen Knall. Damit ist man dann am Ende der Betrachtung von Mensch und Gesellschaft.
Die Seele bleibt weggeschlossen.
Wird vernichtet.
Interessiert nicht.
So wenig, wie das Leben der einzelnen Menschen. Sie müssen allein klar kommen. Psychisch gehen sie vor die Hunde.
So, wie überall in der Gesellschaft und im Leben. Wie sich der Mensch zu seinem menschlichen Wesen bekennen soll, und wie Fortschritte für viele Menschen zu erzielen wären, die zeitgleich zum Leben stattfinden, ist unerfindlich. Kaum Erfolgsmeldungen von irgendwelchen Verbesserungen.
„Maria, Seele und Geld sind wie Kontrahenten aufgestellt“, sage ich leise, um Festigkeit bemüht, „meine Patientin ist über ihre Eltern versichert! Die Mutter stellt sich quer. Sie begleicht die Rechnungen nicht! Ich müsste meine Patientin verklagen!“, sage ich gequält, weil es das Letzte ist, was ich möchte und fahre nun weiter fort, die Rechtsbeziehung darzustellen:
„Oder meine Patientin müsste ihre Eltern verklagen. Ich weiß‘ nun nicht genau, über wen meine Patientin versichert ist, ob über ihre Mutter oder über ihren Vater. Meine Patientin müsste im Prinzip vor Gericht gegen mich verlieren, falls es gerichtlich werden sollte. Und zwar deshalb, damit sie gegen ihre Mutter gewinnt! Verstehst‘ du?“, frage ich eindringlich und unbewusst an Maria appellierend, im Vorgriff die Tragweite der Angelegenheit intuitiv zu erfassen, ohne nun schon die Einzelheiten zu wissen. Unglaublich, dass ich so etwas nach über 30 Jahren psychotherapeutischer Arbeit erleben muss“, setze ich entgeistert nach, „seit Wochen hat mich nichts so in den Bann geschlagen, wie diese Konstellation.“
„Ach‘ du meine Güüthhe!”, stößt sie aus, „welche Diagnose?“
„Essstörung.“
„Klar, die Mutter setzt das Messer jetzt gegen dich“, spricht sie gelassen eine Weisheit aus.
„... und trifft ihre Tochter. Sie will niederstrecken!“
„...sie läuft Amok...!“
„Richtig! Sie mobilisiert jetzt einen Rechtsanwalt und ihre Tochter, meine Patientin, müsste einwilligen, gegen mich zu klagen.“
„Unglaublich...!“, stößt Maria entgeistert aus.
„Ja, und will die Tochter das denn?“, setzt sie nach.
„Nein! Natürlich nicht! Die therapeutische Beziehung ist gut!“, antworte ich entschieden, wütend auf diese keinen Spielraum bietende Konstellation und im gleichen Maße resigniert, weil die Situation wirklich verfahren erscheint und gehe mit einer Hand gedankenverlorenen, die Finger zu einer Forke gespreizt, durch meine Haare, kämme sie sozusagen fort aus dem Gesicht Richtung Hinterkopf, als könnte ich damit die Dämonen in meinem Kopf gleichfalls verbannen oder gar vertreiben.
„Ja“, sage ich dann gedehnt, „diese ganze Geschichte will ich wieder aus meinem Leben raushaben. Die Mutter sieht ihre Felle wegschwimmen, wie du schon richtig vermutest. Seit der ersten Sitzung fühlt sie Eifersucht auf mich, von der ich bereits in der zweiten Sitzung Kunde bekam. Ich dachte mir nicht sehr viel dabei. Notierte sie innerlich bei mir. Punkt. Schließlich reagieren Eltern oder Partner oftmals zunächst empfindlich darauf, wenn jemand Externes automatisch mit ins Familien- oder Partnersystem rutscht. Ebenso verfliegt die Eifersucht dann auch schnell wieder, wenn sie merken, dass sie ihre Autonomie und Sicherheit behalten, sie also nicht angegriffen oder runtergemacht werden. Meine Patientin war so begeistert von der gemeinsamen Arbeit. Und das hat sie ihrer Mutter in der Küche ziemlich gleich nach der ersten Sitzung erzählt. Die Mutter reagierte mit:
„Jetzt liebst du mich nicht mehr! Habe ich ja immer gesagt, du verrätst mich! Du bist ein undankbares Kind, habe ich ja immer gesagt und gewusst...!!!“
„Wie konnte das passieren, dass es so weit kommt?”, setzt Maria an um Pfosten zur Orientierung für sich zu positionieren, „ich meine jetzt nicht die ersten Sitzungen, sondern eine solche Situation, wie du sie mir kurz gerade geschildert hast?“
„Warte. Warte. Willst du die Geschichte wirklich hören?“
„Schließlich musst du jeden Tag soviel Mist hören, wie ich“, denke ich bei mir und lasse es mitschwingen, denn wir könnten auch über den neuesten Nagellack und was in diesem Frühjahr Mode ist, sprechen. Dieses Thema interessiert uns nämlich ebenso sehr. Laut fahre ich fort:
„Du musst mir versprechen, zu schweigen. Es hängt zu viel für meine Patientin davon ab...!“
„Wir keeeennen uuuns laaahange genug, um zu wissen, dass ich schweeeiiiige. Looos, nuuun erzääählllt schon...!“
„Versprochen?“
„Versprochen!“
Schweigen.
Ich greife zu meiner Tasche und fördere einen weißen, versiegelten Umschlag zu Tage.
„Dann gebe ich Dir in diesem verschlossenen Umschlag die entsprechenden Daten, die du, falls mir etwas passieren sollte, der Polizei übergibst! Ich habe ihn versiegelt.“
„Biiiittttttte? So schlimm?”, ihre Stimme geht hoch, überschlägt sich fast, wirkt schrill.
„Ja.“
Ich schiebe den Umschlag langsam über den Tisch.
„Meiner Rechtsanwältin wollte ich ihn nicht gegeben!”, erläutere ich.
„Sie hat bisher das Mahnverfahren durchgeführt und sich in meinen Augen nicht als tauglich erwiesen, in einer Gerichtsverhandlung meine Position eindeutig und klar darzustellen. Meine Stimme ging immer hoch und ich wurde laut. Ich kann es nicht haben, wenn mir jemand nicht auf der Höhe meines Gedankenstranges folgt, schon gar nicht, wenn er, wie in diesem Fall, meine Interessen vertreten soll und sich dann lediglich als formal akademisch studiert und mit Fachausweis brav und abgezirkelt äußert und darstellt.“
„Na, du bist aber nicht begeistert von ihr“, lehnt sich Maria urteilend auf dem Lederstuhl zurück und erwartet mehr an Information.
„Nein. Sie folgt meiner Ansicht nach der falschen Spur. Zeigt keine Bereitschaft zur zusätzlichen Informationsaufnahme. Die ist aber in diesem Falle oberstes Gebot. Ich kann mich irren. Aber das glaube ich nicht“, setze ich überzeugt von meiner Einschätzung nach. Aber, die Möglichkeit eines Irrtums meinerseits nicht ausschließend und sie nun nicht als unbedarft stehenlassen wollend, weil sie auch das nicht ist, setzte ich abschwächend nach:
„Aber das umreißt schon generell Probleme der heutigen Zeit: Der eine Fachbereich weiß‘ um den Kenntnisstand des anderen nicht. Sie wirken nicht zusammen! Ob Medizin und Psychotherapie, oder Rechtswissenschaft und Psyche. Sonst wäre es ja nicht möglich, dass zahllose Opfer vor Gericht wieder zu Opfern werden, mal nebenbei bemerkt.“
„Da sagst‘ du was!”, unterbricht mich Maria und nickt. Unbeirrt fahre ich fort:
„Aber, in Bereichen, in denen fachübergreifend unterschiedliche Disziplinen integriert werden, wo sie meiner Meinung nach verboten werden sollten! Wie zum Beispiel medizinische und psychotherapeutische Inhalte oder auch pflegerische Leistungen strikt in Zeitfenster zu zwängen, um damit ökonomisch Einsparungen zu erwirtschaften, weil in ihnen Leistungen in einer bestimmten Stückzahl, wie an einem Fließband erbracht werden sollen! Wie arm und dämlich muss so eine Kultur sein, in der das stattfindet? Das gehört verboten! Da bestimmen Wirtschaftswissenschaftler über medizinische Inhalte, legen Behandlungen und Leistungen fest, die zu einer bestimmten Diagnose bezahlt werden! Das kann nicht sein! Und man findet in einem solchen Gesundheitssystem, dass die meisten Krankheiten mit Mitteln der Pharmazeutischen Industrie abgedeckt werden können. Wie krank ist denn so ein Denken? Nicht der Mensch erschafft Gesellschaft und Kultur, sondern Gesellschaft und Kultur erschaffen Menschen, die das, was man sich so vorstellt, nicht mehr verkraften! Der Stoffwechsel zwischen beiden Positionen stimmt nicht mehr! Ebenso wie Juristen über den Weg der Erschaffung von Gesetzen Inhalte festschreiben, die rechtswirksam nur zu Problemen und Unfrieden führen! Und da, wo sie Gesetze erschaffen müssten, die für alle die gleichen Inhalte festschreiben, da wird nichts getan! Der Mensch wird zerrissen in Körper, Psyche und Seele. Geht es um Gewaltdelikte, die vor Gericht verhandelt werden, passen Gesetz, Tat, Verfahrensvorschriften und Opfer nicht zusammen, weil nichts entsprechendes im Gesetzestext zu finden ist. Denken und Fühlen von Opfern wird nicht berücksichtigt! Es wird nicht grundlegend über Schutz nachgedacht!“
Ich nehme mein Glas, komme ins Nachdenken, ebenso wie Maria, die es mir gleich tut, ihr Glas ergreift und mich gespannt anschaut und dann meint:
„Mensch, du solltest doch wieder an die Universität und Vorträge halten!”, lächelt sie mich an, und verweist darauf, was sie mir schon jahrelang sagt. Aber, wie ich das auch noch zeitlich machen soll, weiß ich nicht. Und ich weiß, wovon ich spreche!
„Komm‘ führ mal deinen Gedankengang zu Ende!”, ermuntert sie mich, weil sie sieht, wie es in mir arbeitet.
„Manchmal habe ich das Gefühl, Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, lassen ihren Kopf zu Hause und ihr gesunder Menschenverstand kommt erst dann wieder zum Vorschein, wenn sie ihre Kanzlei oder das Gericht verlassen haben! Würde man in naturwissenschaftlichen Fächern so arbeiten, wäre niemals ein Auto, Flugzeug oder sonst was gebaut worden. Aber da, wo es um den Menschen geht, wird alles zerstückelt. So, als könnte man eine Zeitung in kleine Stücke zerreißen und erwarten, man könne den ganzen Artikel lesen. Dann wird ein Schnitzel aufgehoben und gesagt Das steht da aber gar nicht darauf, was du eben gesagt hast! Nee, diese Art kann ich gar nicht mehr ertragen. Nicht auf dem Hintergrund, den ich täglich von Menschen als Erfahrungs- und Leidenshorizont höre und spüre. Die Korinthenkacker haben Hochsaison, kommen an der falschen Stelle mit Logik und glauben sich noch im Recht! Und das Schöne: Sie bekommen es oftmals! Also, die Rechtsanwältin ist mir zu sehr mit Gesetzestexten im Kopf zugepflastert, schaut nicht mehr rechts, noch links, so will mir zumindest scheinen! Das nützt mir jetzt nicht viel!“
Schließe ich nun ab, was sich gerade im Gespräch als mitteilenswert ergeben hatte. Maria wird nun ungeduldig und schaut mich aufmunternd an. Als ich nicht reagiere, und am Wasserglas nippe, steigt die Spannung.
„Mensch, jetzt schieß mal los...“, unterbricht sie mich mit ernstem Gesicht und flatternden, dunklen Augen und ich weiß‘, sie will mehr zu meiner Geschichte mit der Patientin wissen. Ich kehre wieder zum Eigentlichen zurück, blicke sie an und beginne.
„Ja, dass ist wirklich ein Ding“, spreche ich mehr zu mir als zu Maria..., „nur vergleichbar mit der Geschichte der Frau, die über Süddeutschland in unsere Stadt aus Bulgarien kam, ziemlich viel Geld durch Prostitution verdiente und liiert war mit einem hohen Tier einer weltweit arbeitenden Firma. Er schickte sie wegen seiner perversen Gelüste auf den Strich. Zu seiner Belustigung und Verstärkung seiner Geilheit filmte er sie mit den fremden Freiern. Auch von diesen Freiern wurde sie verprügelt. Manchmal waren es Geschäftsfreunde, denen er meine Patientin zuführte, besser, zur Verfügung stellte. Sie sollte machen, was sie wollten. Er beleidigte sie zum guten Schluss, in dem er sinngemäß sagte:
Was willst du eigentlich? Du bist doch eine Professionelle? Mach‘, was die wollen, dann verprügeln sie dich auch nicht! Außerdem zahlen sie ja dafür!
Da konnte ich auch nicht mehr viel sagen! Da war ich erst einmal ruhig!“
Pause.
Wir nippen an unseren blitzenden Kristallgläsern.
„Er nahm ihr alles. Ihre Seele. Ihre Psyche. Ihren Körper. Ihr Geld, was sie in den Jahren zusammengespart hatte, ihr teures Auto, Schmuck, kurz einfach alles! Als Liebesbeweise, wie er sagte! Und dann kam der Strich, die Prostitution. Als sie zu mir kam, war sie immer noch eine schöne, junge Frau. Aber auf den geraden Weg nach unten. Der Kollege in Süddeutschland nahm den Satz 7,8-fachen Satz nach der GOÄ! Ich wusste bis dahin gar nicht, das es einen solchen Gebührensatz gibt! Dennoch: Angemessen war er!“
„Waaas?”, geht Maria erneut hoch, ihren Ohren nicht trauend, „7,8-facher Satz? Was ist das denn? Hast du mir ja gar nicht erzählt!”, setzt sie nun fast beleidigt nach.
„Ein anderes Mal....! Sie war jedenfalls eine der Patientinnen, die ich in 32 Jahren behandelte, die schamlos geworden, weil seelisch völlig am Ende, in der vierten Sitzung in das Behandlungszimmer kam und ohne zu fragen Hose und Schlüpfer herunter zog und mir zum Beweis dessen, was sie mir in der Sitzung sonst noch mitteilen wollte, ihren grün und blau geschlagenen Po entgegenstreckte. Der Anus blutete, war zerfetzt. Dann zog sie ihren Pullover hoch und zeigte mir ihre in allen Farben schillernden grünen, gelben und blauen Brüste. Ihre Worte dazu:
„So geht es mir heute....! Ich kann nicht mehr...!!!“
„Waaaaass???”, Maria japst nach Luft.
„Haaat sie iiihn aaaangezeigt?“
„Nein. Es wäre ihr Todesurteil gewesen, wie sie sagte! Sie hatte furchtbare Angst.“
Pause.
Wir schauen uns direkt in die Augen.
„Weißt du, wenn du Frauen, die in ein Frauenhaus gehen, zuhörst, weshalb sie kommen, härtest du ab. Du bist auf alles gefasst und es haut dich trotzdem vom Hocker, wenn du es hörst oder siehst, wie misshandelt und fertig mit der Welt sie ins Haus kommen. Es sind keine erfundenen Geschichten, sondern Leben, wie es jeden Tag zwischen Männern, Frauen und Kindern geschieht. Diese Erlebnisse betreffen nicht ein paar Frauen und Kinder. Es sind viele!" schiebe ich leise nach.
Schweigen.
„Sehr viele!“
Kein Ton.
„Und nun kommen immer mehr in Psychotherapien. Was ich da bisweilen höre und sehe, ist unglaublich.“
„Aber zurück zu dem jetzigen Fall“, setze ich nachdenklich wieder an, um das bleierne Grauen, das sich auf uns zu legen drohte, abzuwehren.
„Vielleicht soviel: Ich weiß gar nicht, welchen Satz ich für die Behandlung der Patientin, um die es jetzt geht, nehmen sollte, gesetzt den Fall, ich könnte es mir aussuchen. Bei dem ganzen Mist, der sich abspult und möglicherweise auch vor Gefährlichkeit strotzt, wenn die Mutter durchdreht!“
Ich greife erneut zu meinem Glas, an dem ich zuvor unentwegt den Stiel gedreht hatte, und trinke.
Die Kellnerin hat uns die Rotweingläser stehen gelassen, aus denen wir nun das Wasser trinken. Irgendetwas, das an entspannte Atmosphäre erinnert, wollte sie uns dann doch wohl am Tisch stehen lassen. Die Kerzen hatte sie auch angezündet und ein kleine Vase mit frischen Blumen wortlos und liebevoll dazugestellt.
Damals hatte ich die entsprechenden Daten meinem Rechtsanwalt zur Aufbewahrung weitergegeben. Er schloss sie in den Safe ein. Nach ein paar Jahren habe ich sie vernichten lassen. Heute weiß‘ ich nicht einmal mehr Namen. Ist auch besser so.
„Welchen Satz hast du denn berechnet?”, wittert sie misstrauisch geworden im Hinblick auf die Information, der Kollege habe den 7,8-fachen Satz berechnet.
„Den üblichen für Privatpatienten, den 3,5-fachen Satz und Zusatzpositionen, GOP 5 für das Arbeiten mit Psychodynamik, Befindlichkeiten, Veränderungen der Symptomatik durch unterschiedlich kritische Einflüsse, die die Symptomatik verschlechtern und andere Symptomabklärungen und externe Symptome, die eventuell neu auftauchen. Für Hausarbeiten, Übungen und flankierende therapeutische Maßnahmen GOP 15. Ich denke, dass ist eine Position für Mediziner gewesen, die mal über ihren Tellerrand bei einigen Patienten hinaussehen mussten, wenn sie ihre Patienten gut betreuen wollten. Weiter denke ich, diese Position ist ebenso wie die anderen einfach aus der Gebührenordnung für Ärzte, kurz GOÄ, übernommen worden. Das muss ich aber erst einmal prüfen, ob es da Formulierungsunterschiede zur GOP gibt. Müsste eigentlich der Fall sein - denn sonst hätten wir ja einfach mit der GOÄ weiter abrechnen können. Generell rechne ich analog ab. Normalerweise kann GOP 15 nur 1 Mal pro Jahr eingesetzt werden. Ich habe es anders für meinen Arbeitsstil interpretiert. Gut. Ja, also so habe ich abgerechnet", erstatte ich Maria Bericht. Versunken schaue ich mein Glas an und ergreife es schließlich, um das Wasser zu trinken. Ich nehme ein kleines Blättchen Pfefferminze und knabbere daran herum.
„Das ist mein jetziger Kenntnisstand!”, fasse ich zusammen, als setze ich einen Punkt.
Marias Gesicht entspannt sich. Sie schaut mich fragend an und ich ebenso zurück. Ich plaudere dann langsam weiter, als spräche ich zu mir selbst:
„Diese GOP hat mich in den letzten 12 Jahren nur einmal beschäftigt, nämlich damals, als ich hörte, es gäbe sie: Eine Gebührenordnung für Psychologische Psychotherapeuten für Privatpatienten, kurz GOP, wie du weißt. Dann habe ich von einem Ausbildungsinstitut für Richtlinienmethoden, also denjenigen Psychotherapie-Ausbildungen, die durch die KVen politisch und wissenschaftlich anerkannt sind, Ausführungen wegen des Verständnisses der Ziffern zugesandt bekommen. Habe mir dann meine eigenen Gedanken gemacht und mein Anmeldeformular entsprechend geschrieben und auf meinen Arbeitsstil interpretativ bezogen. Diese Mitteilung des Ausbildungsinstituts fand ich deshalb gut, weil es dazu anregte, mal den eigenen Arbeitsstil zu reflektieren und dann eben mit den GOP-Ziffern zu verbinden. Es war sozusagen, eine Alchemie, ein Stoffwechsel mit den neuen Arbeitsgrundlagen in unserem Berufsbereich. Aber sonst? Kein Gedanke an GOÄ und GOP! Ist auch klar: Denn einige Privatkrankenkassen beglichen die Rechnungen meiner Patienten ohne Probleme. Bei den anderen ergänzten Patienten, was von den Kassen nicht erstattet wurde. Was bedarf es da noch weiterer Überlegungen? Natürlich, so muss man wohl in Deutschland sagen, weil Vieles offenbar mit Bedacht nicht geregelt wird, damit dem Wettbewerb auch die nötige Freiheit gegeben wird und Leistungen zu steigern“, setze ich nicht ohne Betonung hinzu, „aber gesteigert wird damit die Niedertracht und meiner Ansicht nach auch Kriminalität!“
Maria nickt mir zu und wartet darauf, dass ich fortfahre.
„Also, natürlich“, setze ich noch einmal an, „bekamen nicht alle Privatpatienten diesen Satz von ihren Krankenkassen und Beihilfestellen erstattet. Das hat wohl nicht zuletzt damit zu tun, welche Verträge Versicherte mit ihrem Privatversicherern geschlossen hatten. Aber dem Grunde nach, dürfte mich dies nicht interessieren, weil ich eben mit Privatpatienten privat abrechne. Das heißt, der Privatpatient rechnet mit seiner Privatkrankenkasse ab. Wenn die Kasse nicht zahlt, haben sie den Rest privat zu zahlen. Und da ist der nächste Punkt, der mich foppt. Was bedeutet eigentlich Privatvereinbarung, wenn ich, wie ich in den letzten Monaten hörte, nur die normalen GOP-Ziffern darin aufnehmen darf? Was soll das? Dafür brauche ich keine Privatvereinbarung! Also, da ist eine Menge an Unklarheit. Nach der Morgendämmerung, dem Aufbruch vor 10 Jahren mit der GOP, kommt jetzt der Abgesang, das Requiem. Hätte mich auch ehrlich gestanden gewundert, muss ich im Nachhinein sagen, wenn sich da nicht noch ein Rattenschwanz an Problemen auftun würde! Außerdem, wenn ich jetzt noch einmal auf meinen Arbeitsstil zu sprechen komme, muss ich sagen, ich arbeite sehr schnell und setze diese Hausaufgaben ebenso wie die psychodynamischen Interventionen gezielt wie eine Akupunkturnadel auf die zu verändernden, entsprechenden Punkte in Psyche und Seele, manchmal auch Körper."
„Wiiiehi, du seeetzt Naaahadeln auf deen Köörpeeer...!”, unterbricht mich Maria und schaut mich entgeistert fragend an.
„Nein! Natürlich keine Akupunkturnadel! Gemeint ist hier, ich gebe meinen Patienten spezielle Übungen mit, die sie für sich Zuhause anwenden und die beruhigend und auch emotional auf den Körper wirken, oder Reflexionen, die in ihnen etwas bewegen sollen, oder ich konfrontiere sie mit einem bestimmten Verhalten, dass sie ins Nachdenken kommen. Also, es hat immer mit dem Patienten zu tun, was ich empfehle, zu tun. In der Akupunktur werden Nadeln auf Energieknotenpunkte gesetzt, damit sich die Blockaden auflösen. Dann kann die Energie wieder frei fließen. Bildlich gesprochen ist es in der Psychotherapie ähnlich, wenn ein Psychotherapeut entsprechend arbeitet. Natürlich kann man auch direkt mit bioenergetischen Übungen arbeiten. Sie setzen manchmal sehr deutlich und brachial Gefühle frei. Dies tue ich nur sehr, sehr selten. Ich arbeite mit dem Widerstand der Patienten und den Gefühlen und Erlebnissen, die darin stecken. Ich empfinde es wichtig, dass sie ihn kennenlernen und woher er stammt, wofür er gut ist. Dass er sowohl Schutz wie Abwehr bedeutet. Selten ist es notwendig, durch den Widerstand hindurch zu arbeiten, so dass die Mauer einbricht. In der Regel vermittele ich Hausaufgaben und Übungen in den Sitzungen, ohne das ich sie speziell abrechne. Zum Beispiel Wahrnehmungsübungen was den Körper angeht oder Elemente aus der Eutonie und Yoga-Übungen, die ich selbst jahrelang von einem Inder erlernte. Über ihn sage ich immer: Der vermittelt kein Yoga, der ist Yoga! Nun gut. Oder ich bitte auch schon mal Patienten, mit ihrer Stimme zu experimentieren. Zum Beispiel: Eine Musikstudentin, die vor vielen Jahren bei mir war, bat ich instinktiv, zu singen. Sie sagte:
Nein. Das kann ich nicht!
Sie erklärte nach einiger Zeit des Herumdrucksen, dass sie dann weinen müsse. Ich sagte ihr, dass ich das vermute und fragte sie, ob sie deshalb ein Instrument fürs Studium gewählt hätte?
Ja, das Instrument ist meine Stimme...,
bestätigte sie. Ihr Instrument war ihr verlängerter Arm um ihren Gefühlen dennoch Ausdruck zu verschaffen", und denke, während ich es erzähle, an diese schmalgliedrige Patientin und sehe ihre großen traurigen Augen die ängstlich im Zimmer herumschauten, als sie das erste Mal vor langer Zeit in die Praxis kam und mit mir ins Therapiezimmer ging. Lockige, dünne, aber dichte und blonde Haare, ordentlich gekämmt. Sie trug Musik in ihren Augen, Melodien spielten durch ihren Körper in ihren Bewegungen. Unglaublich zart und sensibel, ja durchscheinend. Ein Wesen, das man nicht alle Tage sieht. Vorsichtig tasteten wir uns im ersten Gespräch ab und aneinander heran. Sie weinte, als ich aussprach, was sie selbst wusste und wovor sie Angst hatte. Sie wollte nicht allein sein, wenn sie weint! Und sie weinte lange, viele Sitzungen lang. Sie sang und die Tränen liefen. Bis sie eines Tages lächeln konnte, als sie wieder einmal in der Sitzung sang.
„Halloooo, wo bist duuuu?”, zerrt mich Maria, weil sie mein Lächeln auf dem Gesicht sieht und nicht den Grund dafür weiß, mich wieder an den Tisch, zu ihr, zurück.
„Sorry! Ich war einfach mal eben weg...", und erzähle ihr dann verkürzt, wo ich war.
„Ja, um es kurz zumachen, ich fragte diese Patientin, ob wir denn mal ein bisschen experimentieren könnten? Sie traute sich, eine kleine Melodie zu summen. Aber erst, nachdem einige Sitzungen verstrichen waren. Sie summte und ein paar Sitzungen später sang sie immer mal wieder ein Strophe, währenddessen ihre Tränen liefen. Das Singen unterbrach sie oft und erzählte Erlebnisse, die sie nicht gut verarbeiten konnte. Sie hatten ihr buchstäblich die Stimme verschlagen und mir dann auch, zumindest bei einigen ihrer Schilderungen", und mir geisterte noch durch den Kopf, wie sie erzählte, sie hätte nichts sagen dürften. Die Mutter, eine ruhige stille Frau ermahnte sie ständig, wenn der Vater im Hause sei, nichts zu sagen. Alles so zu tun, wie er es wünsche. Denn es passte ihrem Vater nicht, wenn Frauen in der Familie selbstständig dachten und sprachen.
„Ja, es war nach außen eine ruhige, stille Familie. Die Patientin war Einzelkind. Von der Mutter ermahnt, zu schweigen, sich unterzuordnen, verschwanden auch die Gefühle der Patientin. Aber irgendwann ging sie lächelnd aus der Praxis. Sie hatte ausgesprochen, was sie lange unterdrückte. Sie konnte nun ihre Stimme gebrauchen, einsetzen. Also nicht nur beim Singen, sondern auch im Leben", schließe ich die Erinnerung, die hier am Tisch zu einem kleinen Intermezzo wurde.
„Ich komme mal zu den GOP-Ziffern zurück", gebe ich mir selbst die Richtung vor, „also, bei dieser Patientin waren es Hausaufgaben, die sich auf das Singen und später auf Situationen, in denen sie mit anderen Kontakt aufnehmen und sich an Gesprächen lernte zu beteiligen, bezogen. In der Therapie besprachen wir stets genau, was sie ausprobieren und wie sie mit ihren Gefühlen lernen könnte, umzugehen, statt sie zu verdrängen oder zu kontrollieren. Spielt aber an dieser Stelle keine Rolle, heißt abrechnungsmäßig, weil hier ein Einheitssatz von den KVen bezahlt wird. Da gibt es keine Differenzierungen, egal, wie man arbeitet. Aber ich arbeite mit allen Patienten bezogen in meinem Arbeitsstil. Immer steht der Patient mit dem, was ihn in die Behandlung führt, individuell im Vordergrund. Ob honoriert oder nicht. Jede Behandlung ist und verläuft anders, nämlich entsprechend dem Patienten und seiner Symptomatik. Wenn ich anfinge, Kassenpatienten anders als meine Privatpatienten zu behandeln, hätte ich das Gefühl, ich würde ihnen etwas vorenthalten, verheimlichen oder unterschlagen. Und das kann ich nicht! Ich weiß‘ auch gar nicht, wie Mediziner das in ihren Behandlungen machen, wenn sie feststellen, sie müssten noch eine Untersuchung verordnen und sie können sie dann nicht abrechnen, weil es von den Kassen nicht bezahlt wird! Oder, sie müssen sie selbst, aus eigener Tasche bezahlen! Also, das Abrechnungssystem hat einen katastrophalen Einfluss im medizinischen Bereich auf Behandlungen von Patienten, weil Mediziner nicht mehr frei handeln können...", grüble ich laut vor mich hin. Maria legt eine Hand an ihre rechte Wange, stützt ihren Kopf schräg ab und ist ganz bei dem, was ich erzählte. Ich sehe, wie meine Worte in ihr weiterarbeiten.
„Dass ich die üblichen Entspannungsverfahren nicht abrechne, liegt, nebenbei gesagt, daran, weil man nach der KV-Zulassung eine extra Fortbildung zum Beispiel für Autogenes Training oder Entspannungsmethode nach Jacobsen erwerben sollte. Aber ich hatte schon seit Jahrzehnten, seit ich an der Universität war, damit gearbeitet. Nein, sogar schon davor. In einem Praktikum hatte mir ein leitender Psychologe einer Klinik diese Methoden beigebracht, damit ich sie an Patienten weitergeben konnte. Weiter war ich selbst in verschiedenen Kliniken im Rahmen meiner Leitungstätigkeit und Lehrtätigkeit damit befasst. Ich habe sie sowohl Patienten vermittelt, als auch Studenten der Medizin und der Psychologie. Allerdings nicht nur Entspannungsverfahren, sondern auch Methoden aus der Gesprächstherapie! Was soll ich denn einen Schein erwerben? Das hatte ich auch irgendwann mal als Frage an eine der Mitarbeiter der KV gestellt, was das denn soll? Ich habe Mediziner mit ausgebildet, die haben ihre Zulassung bekommen und ich müsste jetzt einen Schein machen?”, lege ich Entrüstung in berufspolitische Entwicklungen, bei denen ich und meine Kollegen erleben musste, dass immer mehr vom Teppich, auf dem wir bereits jahrelang, was sage ich, Jahrzehnte gearbeitet hatten, einfach mit ein paar Gesetzchen hier und ein paar Einschränkungen da, abgeschnitten wurde.
„Ein paar Kürzungen links, ein paar Vorschriften rechts und dann konnten Krankenschwestern oder sonstige Berufsgruppen irgendein Training machen, bieten dies wer weiß, wo, an und können abrechnen. Und jemand wie ich, zu dessen Profession so etwas von vornherein gehört, sollte das nicht abrechnen können, weil er dann den Schein nicht hatte! Nee, da habe ich mich verweigert!”, spucke ich den Satz auf den Tisch, angewidert von dem, was uns berufspolitisch aufgetischt wurde, als seien wir die Oberidioten vom Dienst. Maria schweigt weiterhin. Hört mir mit großen Augen zu. Selbst ihre Zigaretten bleiben ruhig und unberührt liegen. Da, wo sie sind, nämlich in der Schachtel.
„Verstehst' du? Es waren viele Teilchen eines Puzzle. Einerseits Festlegungen, die alle betrafen, und andererseits viele unterschiedliche Dinge, die nicht alle Kollegen betrafen. Jeder regte sich dann über etwas anderes auf. Damit war dann keine einheitliche Richtung zu erzielen. Man weiß es ja, Zweige bricht man einzeln. Irgendwann machte jeder für sich seine Arbeit. Und dass wir viel arbeiteten hat vor allen Dingen mit den miesen Honoraren zu tun! Kannst du dir vorstellen, dass wir jahrelang nach der KV-Zulassung für 7 Euro und paar Cent probatorische Sitzungen mit Patienten zu machen hatten? Jede Sitzung dauert 50 Minuten, Maria! Und das ist nur die Spitze dessen, was man sich bis heute uns gegenüber erlaubt hat!”, falte ich resigniert an der noch unbenutzten Stoffservierte herum. Drehe sie von links auf rechts. Stelle fest, dass sie von beiden Seiten gleich aussieht.
„Das ist die wahre Kunst! Uns alle ans Arbeiten gebracht zu haben und das mit extrem schlechten Honoraren - und so sind sie bis heute geblieben...", und lege die Servierte, während ich dies feststelle, noch mal auf die andere Seite.
„Aber insgesamt, was die Abrechnungsziffern angeht: Für Jacobson und Autogenes Training schicke ich Patienten, die es brauchen, in Gruppen außerhalb meiner Psychotherapie. Ich habe keine Lust, die wertvolle Therapiezeit damit zu belasten. Die GOP Ziffer 15 könnte ich, nach dem ursprünglichen Verständnis, das ich mir in den letzten Monaten zugelegt habe, genau für solche Fälle abrechnen. Habe ich aber niemals getan! Wäre mir auch bisher nicht in den Sinn gekommen. Denn die GOP 15 habe ich für diese symbolische Akupunkturnadel analog abgerechnet", stelle ich die Unterschiede meiner Anwendung der GOP 15 dar. Und mir fällt eine weitere Begebenheit ein und erzähle sie Maria:
„Weißt' du, ich habe mal 1 1/2 Tage in Zürich im Holiday-Inn am Flughafen Kloten festgesessen. Eigentlich wollte ich einen Anschlussflug nach New York haben und geplant war, dass wir mal noch eben einen Kaffee am Flughafen trinken. Dann wollten wir einchecken für New York. Aber nein, wir mussten auf einen Spezialisten aus Schweden warten. Sogar eine Nacht im Holiday-Inn schlafen, morgens früh wieder aufstehen und dann noch einmal stundenlang warten, weil der Spezialist aus dem Urlaub vom anderen Ende der Welt erst eingeflogen werden musste! Nur er kannte sich mit den Bordcomputern aus! Der fummelte genau 10 Minuten im Computer herum und konnte dann wieder zurück in seinen Urlaub fliegen - und wir dann endlich auch! Also, was ich damit sagen will ist, wenn ich mit Patienten arbeite, bin ich hochkonzentriert und arbeite punktgenau - ähnlich wie dieser Spezialist in seinem Beruf. Er dürfte königlich bezahlt worden sein. Allein was es kostete, so viele Passagiere des NY- Flugs auf Kosten der Fluggesellschaft im Hotel übernachten und den Spezialisten einfliegen zu lassen, seinen unterbrochenen Urlaub und dann natürlich sein Honorar für seine Dienste zu bezahlen, dürfte eine sechsstellige Zahl gewesen sein. Nun bin ich kein weltweit gesuchter Spezialist, sondern arbeite schön bescheiden in meiner Praxis. Aber die Ergebnisse bei meinen Patienten in Hinsicht auf das, was sie für sich erreichen und wie sie letztendlich aus der Psychotherapie entlassen werden können, sprechen für sich. Zumindest in den meisten Fällen. Es gibt natürlich auch schon mal einen Misserfolg - aber die sind echt gezählt und wenn ich bemerke, ich kann jemanden nicht so unterstützen, wie er das vielleicht braucht, dann sage ich ihm das auch. Ich mache keinen Hokuspokus, ich bin ehrlich und zuverlässig, möchte ich mal zu meinen Gunsten herausstellen...", trumpfe ich ein wenig auf und lache verlegen, wohl wissend, dass mir das nun nicht wirklich hilft und wirklich niemanden interessiert. Zumindest nicht an dieser Stelle.
„Ich bin mit einem veralteten Wertesystem unterwegs! Es klingt lächerlich in der heutigen Zeit...", schiebe ich zerknirscht nach, aber dennoch an ihm festhaltend.
„Aber da bin ich unverbesserlich: Ich stehe zu meinen Werten!”, muss ich jetzt aber doch über mich selbst lachen, sie überhaupt herausgestellt zu haben.
„Na, dann wollen wir mal sehen!”, lacht Maria nun auch. Und wir stoßen mit unseren Wassergläsern an.
„Zu dieser Aussage bezogen auf einen erfolgreichen Arbeitsstil kann ich im Übrigen ein Untersuchungsergebnis mitteilen: Als Psychotherapeut ist man entweder im hohen Maße erfolgreich, oder man ist im hohen Maße nicht erfolgreich und plätschert vor sich. Vor ein paar Jahren hat mich dieses Untersuchungsergebnis doch ziemlich erstaunt, dass dies so sein soll. So. Was soll ich sagen? Meine Patienten sind äußerst zufrieden mit diesem Arbeitsstil und den Ergebnissen. Und ich setze für Interventionen die GOP 5 an und für Hausaufgaben, die sich immer strikt individuell am Patienten ausrichten, die GOP 15. Beide, die GOP 5 und die GOP 15, sind sozusagen Spezialisten-Ziffern, wenn ich es jetzt auf das Bild des schwedischen Computerfachmannes beziehe. Jeder Spezialist in der Welt wird als Spezialist bezahlt. Die beiden Ziffern besagen: Da ist punktgenau gearbeitet worden. Aber, wie du vielleicht weißt, die GOÄ-Ziffern sind jahrzehntelang nicht erhöht worden, noch an die Inflation des Geldes angeglichen worden. Aber wenn sich kein anderer Gedanken macht, dann muss es zumindest gestattet sein, dass ich mir selber Gedanken zum Arbeitsstil mache, den ich anwende!”, versuche ich mir noch ein kleines Recht in meinem Fachbereich herauszunehmen, wo vieles schon einfach gestrichen worden ist. Sang und klanglos. Und mir gehen die vielen Jahre ununterbrochenen Lernens immer neuer Therapiemethoden und Ausbildungen durch den Kopf und erzähle Maria nun die Hintergründe, die sie bislang von mir niemals hörte, wenn ich mitteilte, ich hätte keine Zeit! Wäre das ganze Wochenende in München oder fliege nach Nizza oder Zürich, sei in Aachen oder in Holstein oder sonst irgendwo. Klar hatte ich ihr Anekdötchen aus den Ausbildungen erzählt. Aber ich setzte mich ja nicht hin und blätterte ihr mal eben ohne Grund und Anlass die Entwicklungen aus meinem Berufsbereich vor. Jetzt war der Zeitpunkt da und der Anlass, ihr ausführlicher zu erzählen, was bei uns eigentlich so vor sich geht:
„Und ich habe mir sehr unterschiedliche Psychotherapie-Methoden in jahrzehntelangen Ausbildungen angeeignet, für die ich viele Jahre mit Einsatz von sehr viel Geld und Zeit privat auf Vieles verzichtet habe. Da hatten dann Bankangestellte, die mit 18 Jahren ihre Lehre fertig hatten, schon ihr erstes Häuschen fast bezahlt, da saß ich noch auf Apfelsinenkisten. Und da soll ich mich auf die Honorarstufe mit einem Diplom Psychologen stellen, der für lächerliche 10.000 Euro, wenn es hoch kommt, eine Verhaltenstherapie-Ausbildung gemacht hat und dann eine Zulassung in Deutschland bekommt? Ich werde schon im KV-System genauso bezahlt wie ein Berufsanfänger!!! Das reicht an Demütigung! Aber doch bitte schön nicht im Bereich der Privatpatienten! Es gibt bei uns weder eine Differenzierung nach Berufsjahren, noch nach der Anzahl und Qualität und Kosten einer Ausbildung zur Aneignung von Psychotherapie - Methoden. Alle werden gleich gemacht. Können 'Scheine' machen, um ein paar Kröten für Entspannungs- oder Gruppentherapien abzurechnen. Die können aber Leute, die kein Studium oder keine Therapieausbildung haben, ebenfalls abrechnen! Also, die einzige Möglichkeit ist, eine Privatvereinbarung zu treffen und die entsprechend nach der GOP abzurechnen!”, schließe ich nun diesen unbeabsichtigten Vortrag, der mir gefühlt vorkommt, als sei er nur einen Atemzug lang, besser ein Ausatmen lang von jahrelang eingeatmeter Berufspolitik gewesen. Schiebe aber noch aus schemenhafter Erinnerung an einen STERN Artikel von vor ein paar Jahren, in dem Naturheilpraktiker und Psychiater, also Mediziner, als die wahren Experten im Bereich Psychotherapie in Deutschland vorgestellt und angepriesen wurden, nach:
„Die Krönung ist, dass viele medizinische Kollegen und auch andere Menschen nicht einmal den Unterschied zwischen Psychiater und Diplom Psychologen und Psychologischen Psychotherapeuten kennen... So viel dazu, wie wir in Deutschland da stehen!“
Pause.
Ich schaue das Glas an, das vor mir auf blitzweißer Tischdecke steht. Sehe wie sich das Licht der Kerze darin spiegelt. Maria wirkt gebügelt, von dem was ich auf den Tisch lege. Schaut mich ernst an und nickt. Sie braucht eine Weile, um zu ihrer Stimme zurückzufinden.
„Ja, aber das sind doch Privatpatienten, die unterschreiben doch ein entsprechendes Anmeldeformular! Oder nicht?”, insistiert Maria und fährt fort, ihren Einsatz witternd:
„Und die Inhalte der GOP-Ziffern sind doch eingehalten. Ob die 15 in der Häufigkeit vor Gericht anerkannt wird, muss man abwarten... Wenn du die entsprechend begründest.... Schließlich hast du die Abrechnungsziffern analog angesetzt...! Aber sonst...?”, ungläubig gibt sie die Gepflogenheiten der geltenden Regeln wieder, wie wir sie beide kennen.
„Wiihie ich diiich keehnne", fährt sie fort, „wirst du in Behandlungen deiner Patienten nicht schlaafen...!”, beginnt sie zu scherzen und lacht dazu. Wohl denkend, wir sind am Ende der Besprechung angelangt, obwohl wir noch gar nicht wirklich angefangen haben, zu besprechen, was es zu besprechen gibt und sie fährt infolgedessen fort:
„Von daher gesehen hast du dein Honorar schon allein deshalb verdient...! Und ganz sicher schon von deinen zahlreichen und unterschiedlichen Methoden-Ausbildungen her!”, wird sie ernster.
Ich schweige, da ich mit meinem Anliegen, Fragen in Bezug auf die GOP zu klären, emotional verhaftet bin. Nicke nur kurz ab, was sie gesagt hat und trinke einen Schluck Wasser. Maria realisiert, dass sie mich mit Scherzen oder gut gemeinten Belobigungen jetzt nicht erreichen kann. Und das Thema 'schlafen' während der Arbeit liegt nun völlig neben meinem Arbeitsstil! Aber sie gibt nicht auf:
„Ja, natürlich..., entschuldige, war vielleicht etwas dumm von mir... passt nicht so! Sorry! Aber jetzt ernsthaft: Nun, eine deiner Kolleginnen erzählte mir letztens, ihre neue Patientin habe ihr erzählt, ihr Therapeut, bei dem sie 10 Mal war, ist während der Behandlung zehn Mal eingeschlafen! Auf gut Deutsch: Alle 10 Sitzungen hat er verpennt. Dass er die Patientin an der Tür wiedererkannte, grenzt an ein Wunder! Sie beschwerte sich bei der Krankenkasse. Die zuständige Sachbearbeiterin fragte:
Haben Sie ihre Zeit mit ihm gehabt oder nicht? Na also. Was wollen Sie denn?
Was sagst du dazu?"
Ich schaue sie an, glaube erst einmal nicht, was ich höre und lache dann befreiend auf, als ich sehe, sie scherzt nicht, sondern berichtet aus dem Nähkästchen.
„Das ist doch unglaublich...!”, lache ich.
„Ich habe ja schon viel gehört, aber das schlägt dem Fass den Boden aus!”, ergänze ich.
„Jaha. Daahas giiibt eeees!”, lacht auch Maria los.
„Einfach unglaublich...", sage ich noch einmal, jetzt entspannter und schüttele den Kopf.
„Der Kollege scheint sein Honorar im Schlaf oder in der Götzendämmerung zu verdienen. Ist zumindest äußerlich nicht anwesend, in welchem entspannten Zustand auch immer...", übertreibe ich maßlos das mir zu Ohren Gekommene.
„Es hat mich wirklich sehr geärgert!”, entrüstet sich Maria, obwohl es nicht einer ihrer Kollegen war, sondern ein Kollege aus meinem Fachbereich.
„Na ja, ein Charles Lindbergh!”, lache ich und versuche den Kollegen nun meinerseits etwas aus dieser misslichen Lage heraus zu hauen:
„Ich weiß nicht, ob du weißt, dass Charles einmal zu seiner Alleinüberquerung mit seinem Flugzeug von New York nach Paris, ich glaube, es waren zwei Tage mitten im Mai 1927, berichtete, dass er irgendwann einschlief. Ihm fielen einfach die Augen zu. Er hätte nichts dagegen tun können! Aber er hätte alles mitbekommen! Zwei Tage flog er allein in seiner kleinen Maschine ohne auch nur einen Zwischenstopp zu machen! Er beschrieb diesen Schlaf als eine Art schwebenden Zustand eines Teils seines Bewusstseins, das die ganze Zeit über sehr aufmerksam gewesen sei...!”, berichtete ich diese phantastische Atlantik-Überquerung.
„Nein, das wusste ich nicht! Also von seinem Flug schon, aber nicht, wie er es fertig brachte, zwei Tage non-stop zu fliegen", sagte Maria nun doch überrascht.
„Ja, das war schon ein Wunder! Er hat auf Funkgerät und Sextant aufgrund von Gewichtsproblemen und Benzinverbrauch verzichtet und flog nur mit Armbanduhr, Karten und Kompass! Und er kam gut in Paris an! Seine Lebensgeschichte spricht all' denen zu, die auf den Zufall vertrauen, wenn sie nicht sofort dahin kommen, wo sie eigentlich hinwollten! Musst' du mal nachlesen. Ob es das Preisgeld eines Hoteliers von 25.000 Dollar war, das ihn veranlasste diesen Trip zu unternehmen, kann ich mir nicht vorstellen. Das Geld war vielleicht nur Anreiz, aber der Motor war die Herausforderung! Nun ja, nur mal so nebenbei...", beende ich immer noch begeistert von Charles Lindbergh den Bericht über ihn.
„Aber, ich kann mir nicht vorstellen, dass die Sachbearbeiterin bei der Krankenkasse diese Geschichte von Charles Lindbergh kennt!”, wendet Maria nun besorgt um die Brisanz ihrer Mitteilung ein.
„Nein! Das glaube ich auch nicht! Und schon gar nicht wird sie den Teil über seinen persönlichen Bericht zu seinem Schlaf und seinem Bewusstsein gelesen haben...!”, lache ich nun meinerseits und Maria stimmt ein.
„Maria", sage ich liebevoll und noch immer belustigt zu ihr, „man hört immer wieder mal das eine oder andere von Kollegen! Wie ihr auch in eurem Beruf. Und ja, ich habe auch schon erlebt wie Patienten jahrelang von Kollegen im Kreis geführt, dann zu mir in die Praxis kamen und davon berichteten, dass sie kaum einen Zentimeter in ihrem Leben wegen dessen, weshalb sie in Behandlung gingen, voran gekommen seien...! Die Frage, warum sie dann so lange bei dem Kollegen blieben, beantworteten sie damit, dass sie hofften, irgendwann käme dann doch noch der Durchbruch! Nun gut. Was willst du da noch sagen? Sie klagten jedenfalls, sie hätten immer noch die gleichen Symptome. Ich habe auch schon solche Patienten weiterbehandelt, die selbst nach 2 Jahren weder Plan noch Fortschritt hatten...! Warum da keine Fortschritte in der Psychotherapie berichtet werden konnten, kann an vielen Dingen liegen. Und ja, manche Kollegen entwickeln neue Methoden. Ich habe auch schon mal von einer neuen Methode eines Kollegen, ob er in der KV war, kann ich nun nicht mehr sagen, gehört. Dieser Psychotherapeut favorisierte, die Augen während der Behandlungen zu schließen. Aber offenbar stand bei ihm ein System, eine Überlegung dahinter, die Patienten zu Erfolg verhalf. Er hat darüber ein Buch veröffentlicht. Insofern: Diese Patientin hätte mal mit ihrem Psychotherapeuten sprechen sollen, ihn fragen sollen, warum er immer die Augen schließt! Andererseits kann es ja tatsächlich auch so sein, dass er tatsächlich geschlafen hat. Ehrlich gesagt: Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass sie keine Antwort von ihm bekommen hätte! Wenn sie ihn gefragt haben sollte und dann kein Antwort bekommen hat, dann hat sie mit einer Beschwerde vielleicht Recht gehabt", referiere ich ein paar Gedanken, die man sich zu dieser Patientenschilderung machen könnte.
„Die übrigen Überlegungen zu dieser Geschichte lasse ich jetzt mal weg...", halte ich meine Gedanken zurück, „die gehören jetzt hier nicht hin.“ Die Kellnerin naht mit zwei kleinen Tellerchen, auf denen leckere Kleinigkeiten als Gruß aus der Küche serviert werden.
„Ein guter Schnitt...!”, denke ich bei mir, ergreife dann aber doch noch einmal das Wort:
„Maria, was mich vielleicht doch noch interessiert ist der Punkt, ob die Krankenkassen sich nicht dafür interessieren, wenn sich jemand beschwert. Dann kann ich mir persönlich einen Reim darauf machen, weshalb im Privatpatientenbereich möglicherweise die Kollegen nicht so, oder ähnlich, wie ich abrechnen. Dann kann man ja sofort Psychopharmaka verteilen. Die Pharmaindustrie möchte das sowieso. Das hieße doch, Patienten werden eine Zeit lang bei uns in den Praxen aufbewahrt, man hat ein politisches Deckmäntelchen gesellschaftlich für alles mögliche. Bis hin das gesagt werden kann:
Was wollt ihr denn? Wir haben doch Psychologische Psychotherapeuten zugelassen! Wir waren doch so großzügig, sie bei den Medizinern in den Kassenärztlichen Vereinigungen unterzubringen. Und nun wollen wir aber auch nichts mehr von euch hören, jetzt haltet mal schön die Klappe! Nein, und mehr Geld gibt es schon gar nicht...!
„O.k. Ich halte mal die Ohren offen, ob Krankenkassen Interesse daran haben, dass psychotherapeutisch gut gearbeitet wird, oder ob es einfach reicht, das der Psychotherapeut anwesend ist und die Augen geschlossen hält!”, lacht sie nun befreit.
„Also, ich möchte nicht, dass auch noch die Psychologischen Psychotherapeuten in einer Rankingliste der Krankenkassen landen! Das würde noch fehlen in unserem Berufsalltag! Einige Krankenkassen haben sowieso schon Sachbearbeiter als Berater angestellt, die den Patienten sagen, was sie besser machen sollten, oder sich einen anderen Behandler zu suchen! Nee, reicht! Ich bin auch gegen diese pro forma Kontrollen der Krankenkassen bei Ärzten! Oder gegen diese Anschwärzerei, die da läuft. Also, das kann es nicht sein. Man muss politisch aufpassen, dass noch jemand Interesse hat, im deutschen Gesundheitswesen zu arbeiten! Und die Gutachter, die den Daumen hoch- oder runtermachen für Patientenbehandlungen in unserem Bereich, sind es gleichfalls mit Gewissheit nicht. Da kommen berufspolitische Themen von hoher Brisanz mit hinein. Menschen werden doch verrückt gemacht mit allen möglichen pseudowissenschaftlichen Ranking Listen und Qualitätsmanagement-Unfug! Ich denke, hier wird ein grundsätzliches Thema in unserer Gesellschaft berührt: Vertrauen und Verantwortung einerseits und Missbrauch von beiden andererseits", unterbreche ich mich und schnappe mir eine Zitronenspalte, um dann schnell festzustellen, dass sie hält, was sie verspricht.
„Oha, ist die aber sauer", verziehe ich spontan das Gesicht und versuche dem Sauren irgendwie zu entgehen. Gelingt natürlich nicht. Aber das ist ja auch immer wieder die Herausforderung, ebenso wie bei dem gerade angestoßenen Thema.
„Wenn Patienten zu einem Behandler kein Vertrauen haben, sollen sie doch zu einem anderen Behandler gehen! Die Möglichkeit haben sie doch! Jeder Patient hat fünf probatorische, heißt, vorläufige Sitzungen! Und wenn ein Psychotherapeut in den ersten 5 Sitzungen schläft, wie diese Patientin gesagt hat, weiß ich nicht, warum sie einer Behandlung zugestimmt hat! Denn sie muss ja mit dem Konsiliarbericht zu ihrem Arzt gegangen sein und gesagt haben, dass er den bitte ausfüllt, damit sie die Behandlung machen kann! Auch so eine Unterordnung!" Ich trinke ein Schlückchen Wasser um die Säure der Zitrone in meinem Mund etwas zu mildern.
„Stell dir vor, Maria, jeder Patient, der sich von einem Mediziner behandeln lassen möchte, müsste erst einmal zu uns in die Praxis und sich unsere Bewertung abholen, ob wir das gut heißen können, dass er seine Symptome medizinisch behandeln lässt! Und wir müssten ausschließen, dass nichts Psychisches vorliegt, das diesem Vorgehen der medizinischen Behandlung widersprechen könnte, ja den Patienten gefährden könnte! Ich will jetzt nicht spekulieren, was dann im Gesundheitswesen los wäre!”, lache ich, mir diese Vorstellung zu Gemüte führend und an die Gesichter der Mediziner denkend, wie die sich dann fühlen würden! Maria lacht mit und wird dann ernst und fragt:
„Das meinst du jetzt aber nicht ernst?!!"
„Nein, aber die Vorstellung gefällt mir! Aber andererseits wäre es in so manchem Falle nicht schlecht für Patienten! Aber das steht jetzt nicht zur Debatte! Ich achte dasjenige, was Mediziner können. Ich könnte das nicht, was die manchmal entscheiden und arbeiten müssen. Aber ich achte auch, was ich arbeite und leiste! Mir käme es nicht in den Sinn, mich über jemanden zu erheben oder über ihn zu stellen. Es sei denn, ich werde böse, weil man versucht, mir das Wasser abzugraben! Mir kommt es darauf an, dass meine Patienten gut behandelt werden und dass sie gesund werden. Und ich schicke sie ab und an dann selbst zu einem Mediziner, wenn ich meine, da müsste was abgeklärt werden. Aber dieser Mist, dass ein Mediziner von vornherein seine Finger in unserer Behandlung mit im Spiel haben soll, finde ich nicht nur eine Frechheit, sondern einen politischen Vertrauensmissbrauch...", grenze ich ein, was ich meine und fahre fort:
„Kommen wir mal auf diese Patientin, die sich beschwert hat, zurück. Manchmal ist es auch wichtig, genau hinzusehen, wer was, wo, zu wem sagt! Kann ja auch sein, dass es genau das Problem der Patientin ist, weshalb sie in eine Psychotherapie ging! Was ich meine ist: Vielleicht ist ihre schlimmste Befürchtung, dass ihr niemand zuhört oder einschläft, wenn sie etwas von sich erzählt! Möglicherweise ist ihr diese Befürchtung, grau, uninteressant und langweilig zu sein, nicht klar! Virgina Satir brauchte auch zig Sitzungen, bis sie herausfand, dass ihr Ängste vor vielen Menschen zu sprechen, sich genau auf diesen Punkt bezogen. Der Psychotherapeut steckte sich eine Zigarette an und verließ das Therapiezimmer. Bis es Virginia Satir, einer der wohl berühmtesten amerikanischen Familientherapeutinnen, zu viel wurde, allein im Raum zu sitzen und zu warten! Irgendwann schrie sie quer durch die Praxis:
Listen to me!
Der Psychotherapeut war im Übrigen Fritz Perls, ein Psychoanalytiker, der vor den Nazis aus Berlin nach New York flüchtete. Er entwickelte die Gestalttherapie. Also, ich denke, da muss man genauer hinsehen, was da gelaufen ist!”, schließe ich und grüble über den Kollegen innerlich weiter, und frage mich, was da denn wohl tatsächlich passiert ist.
„Perls kam dann natürlich zu Virginia zurück in den Raum und dann erzählte sie, in Reflexion von Erinnerung und Gefühlen, was da eigentlich in ihr los war, wie sie als kleines Mädchen im Badezimmer steht und ihrem Vater erzählt, was sie fühlt und erlebt hat. Er reagierte nicht auf sie, rasierte sich weiter, schäumte sich den Bart ein und zog mit dem Rasiermesser seine Bahnen. Sie stand vor ihrem Vater und spürte nur die Wand, die er aus Desinteresse und Gleichgültigkeit aufgebaut hatte. Erst bei Perls weinte sie wie ein Schlosshund. Jahrzehnte später nach dem Erlebnis mit ihrem Vater. Sie konnte erst danach ihre damaligen Gefühle der Angst mit denen in ihren Vorträgen verbinden. Von da an konnte sie laut und deutlich vor vielen Menschen sprechen ohne Angst zu haben, ihr höre niemand zu. Die Wand des Desinteresses, die sie als Erfahrung von ihrem Vater mitgenommen hatte ins Leben, war weg. Fertig!" Ich sehe, dass Maria versteht, was ich damit sagen will und fahre fort:
„Die Patientin, von der du erzählt hast, wäre vielleicht dann zur Sachbearbeiterin gegangen und hätte gesagt:
Mein Therapeut hat den Therapieraum verlassen...!
Also, ich denke, sie wird lange Zeit brauchen, bis sie ihren Grund herausfindet, warum sie nicht spricht, nicht fragt, sondern anschwärzt, indem sie sich beschweren geht und möglicherweise für Ärger sorgt!”, schließe ich befriedigt den Rundflug um dieses Thema ab. Aber dann erwischt mich ein Gedanke und ich muss lauthals lachen. Maria schaut mich verständnislos und fragend an.
„Stell dir nur mal einen Augenblick lang vor, die Sachbearbeiterin wäre pfiffig gewesen! Stell' dir vor, sie hätte sich die Ohren zugehalten! Und die Patientin wäre wütend geworden. Hätte geschrieen, das wäre ja wohl eine Frechheit! Ich arbeite manchmal mit Patienten so, damit sie ein Gefühl dafür bekommen, wie es sich anfühlt, wenn der andere zwar im Raum ist, aber nicht zuhört! Also, wenn die Patientin sich dann beim Geschäftsführer beschwert hätte, weil sie es immer noch nicht kapiert hat, hätte es vielleicht einen Skandal gegeben!
Sachbearbeiter der Krankenkasse hören ihren Versicherten nicht zu!
Du kannst dir vorstellen, was das für eine Story mit Rattenschwanz gegeben hätte! Aber so entwickeln sich ja Storys, wenn niemand versteht, worum es eigentlich geht...", lache ich weiter und Maria gleichfalls.
„Ja, die Gesichter und die Geschichte wären filmreif gewesen!"
„Wenn die Sachbearbeiterin dann auch noch auf einen Chef gestoßen wäre, der nur buchstabengetreu ohne Kenntnisse von Psyche und Seele zu haben, vorgegangen wäre, hätte der vielleicht seine Sachbearbeiterin gefeuert! Ich hätte ihr den Nobelpreis zugesprochen, wäre sie nach diesem Drama zu mir gekommen oder hätte es in der Zeitung gestanden!!!" Unsere Anspannung war nun restlos verflogen, wir schwatzten und lachten fröhlich scherzend weiter. Die Kellnerin nahte mit Tellern.
„Aber die Sachbearbeiterin hätte zumindest fragen müssen, bevor sie der Patientin glaubte, was sie über den schlafenden Kollegen erzählte, warum sie denn nicht gefragt hat! Das ist ja mal Mindestanforderung finde ich...!”, hänge ich im Abebben meines Lachens an.
„Die Leckereien kommen zum richtigen Zeitpunkt", legt Maria das Thema ad acta und freut sich, ja, ist nun begeistert, als sie vor uns stehen. Ich nehme meinen Faden zu meinem Thema wieder auf:
„Maria, die Geschichte, die du da gerade erzählt hast, also, wenn ich mal alle anderen psychodynamischen oder sonstigen Überlegungen, wie diejenigen, die ich gerade aus dem Stand mitgeteilt habe, herauslasse, ist vielleicht ein guter Aufhänger für die Gebührenordnung für Psychologische Psychotherapeuten (GOP), also für die Art und Weise, wie ich sie für mich, für meinen aktiven tiefenpsychologisch-fundierten Arbeitsstil interpretiert habe. Dass die Ziffer GOÄ 15 nur 1 Mal im Jahr abgerechnet werden kann oder soll, erklärt die psychotherapeutische Methode der Psychoanalyse und so manche Therapie bei heutigen Psychotherapeuten schätze ich: 'Man schläft' kann man dazu sagen, oder man kann sagen, 'Man sagt nichts'. Ich denke aber, dass diese GOÄ-Ziffer aus der klinischen Arbeit der Psychiatrie stammt, also schon sehr alt ist. Sie diente vielleicht ehemals dazu, methodenübergreifend für Patienten Kosten zu beantragen und sie in Maßnahmen außerhalb der Therapie zu vermitteln. Möglicherweise wird sie tatsächlich auch heute noch so abgerechnet. Aber sicher weiß ich das nicht...", versuche ich mir geschichtlich aus medizinischer und psychotherapeutischer Sicht eine eher laienhafte Vorstellung zu machen, wofür diese Abrechnungsziffer mal irgendwann in grauer Vorzeit ersonnen wurde.
„Wenn Mediziner nicht weiterwissen, halten sie gern Ausschau nach Kollegen aus anderen Fachgebieten, denen sie Aufgaben und Maßnahmen delegieren können... Das ist auch heute noch so. Sie laufen immer noch wie die Hähne durch die Welt und rufen kikeriki. Wenn es nach ihnen ginge, würden sie uns alle sofort und nachhaltig immer noch unterordnen. Sie versuchen es bisweilen mit Geld und Berufsrechten, die umfangreicher sind als unsere, immer noch! Also nicht nur die Ärztevertreter, sondern auch einzelne Ärzte und sicherlich die Politiker, denen entweder nicht klar ist, was sie da an Gesetzen verabschiedet haben, oder sich nicht interessieren, was bei uns los ist...", lasse ich eine kleine Pause.
„Die KVen und die Mediziner wollten nicht, dass wir in die KVen integriert werden. Sie hatten Angst, dass sie dann weniger verdienen, weil der finanzielle Kuchen von den KVen unter den verschiedenen Fachbereiche aufgeteilt wird. Und die Psychologischen Psychotherapeuten wurden in den Bereich der Fachärzte für Psychotherapie zusammen mit ein paar medizinischen Psychotherapeuten integriert. Insofern: Psychotherapie wird von den anderen Fachärzten auch heute noch diskriminiert. Und wir werden am schlechtesten bezahlt...", räuspere ich mich und füge an:
„Da gilt: Über allen Gipfeln ist Ruh', über allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch...!”, zitiere ich Goethe aus dem Stand um klar werden zu lassen, dass kein Hahn danach kräht, hier mal was zu ändern!
„Aus meiner Sicht und von meinem Arbeitsstil her betrachtet", nehme ich Marias Patientenbericht wieder auf, „lehnen sich beide Aussagen an die vornehme Psychoanalyse an. Man gibt sich klassisch und mit Verlaub, altmodisch, vornehm und schweigsam, eben psychoanalytisch! Im Schweigen kann sich der Horizont so richtig breit entfalten und der Patient spricht in ihn hinein, bläht ihn weiter auf, in der Hoffnung, der Psychoanalytiker weiß genau, wovon der Patient spricht und gäbe gleich seine Weisheit kund, die ihn den Patienten retten, beseelen und heilen wird. Dahin würde ich mich zum Beispiel niemals versteigen. Ganz im Gegenteil sage ich meinen Patienten, es kann auch sein, dass ich mit einer Überlegung nicht Recht habe, ja, dass es nicht um Recht haben geht, und auch ich eben falsch liegen könnte. Ich vertraue darauf, was die Patienten fühlen und zwirble ihre Emotionen von dieser Seite auf. Natürlich immer mit Blick auf den Konflikt, wie er sich aus der individuellen Lebensgeschichte herleitet. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Psychoanalyse ist vom Blickwinkel auf das Leben von Menschen sehr wichtig. Wenn wir nur Therapiemethoden hätten, die einzig Symptome als einheitlichen Gegenstand ihres Arbeitsgebietes sehen und trachten, diese zum Verschwinden zu bringen, könnten wir kulturell völlig einpacken. Dann wird nur noch ausradiert. Methodisch wird in der klassischen Psychoanalyse in der praktischen Arbeit hervorgehoben, zunächst (und das heißt, ganz lange) nichts zu sagen und vor allen Dingen während der laufenden Behandlung erst einmal gar nichts an Veränderungen der bestehenden Lebensbedingungen herbeizuführen! Sozusagen, abwarten und Tee trinken ... Stillstand. Warten, was sich innerlich beim Patienten entwickelt, und was der Psychoanalytiker davon mitbekommt! Den Patienten in der Regression, also in Gefühlen, wegen der er oftmals in die Therapie kommt, und ihn in früheren emotionalen Entwicklungsstufen aus seinem Leben zu belassen, ist zunächst erklärtes Ziel oder Vorgehen. Wann er da herauskommt und vor allen Dingen, ob überhaupt, und wie, sitzt man aus. Angenommen wird ein unbewusster Konflikt, der gelöst werden soll, damit der Patient sich wieder wohl fühlt, es ihm besser geht, er wieder mehr Energie und Lebensfreude verspürt. Das empfinde ich als unglaublich! Insofern wird klar, dass es schon sehr viel wäre, die GOP 15 einmal im Jahr abzurechnen! Zumal eine Psychoanalyse über mehrere, vier, fünf Jahre geht und manchmal auch noch länger dauert, die tiefenpsychologisch-fundierten Psychotherapie aber im Durchschnitt etwas mehr als zwei Jahre...", lasse ich die Information ausklingen, und verzichte darauf, mitzuteilen, dass sich hinter ihr zig Buchveröffentlichungen und Forschungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln verbergen und teile aber nach einem Augenblick Überlegung Maria noch mit:
„Maria, nicht dass du jetzt meinst, ich hielte nichts von Psychoanalyse! Nein, das ist nicht gemeint, möchte ich noch einmal ausdrücklich sagen! Es geht hier nur um Darstellung des Arbeitsstils, der, im Hinblick auf die GOP verdeutlicht, dass Psychoanalytiker keine Veranlassung haben, diese Ziffern einzusetzen, weil ihr Arbeitsstil vorwiegend passiv angelegt ist. Gleichfalls möchte ich hinzusetzen, dass die Prinzipien der Psychoanalyse von der Idee her, die Lebensgeschichte des Patienten in Augenschein zu nehmen und die Erkenntnisse, wie sie sich aus biografischer Arbeit wissenschaftlich begründet darstellen, in der praktischen Arbeit mit dem jeweilig gegenwärtigen Konflikt einzubeziehen, sowohl zu begrüßen, wie unerlässlich sind, will man menschliches Leben und Krankheiten nachvollziehen. Natürlich auch unter Einbeziehung sozialer Veränderungen! Und natürlich: Es gibt inzwischen zig verschiedene Methoden, tiefenpsychologisch zu arbeiten. Ich denke da auch vor allen Dingen an die sich unterschiedlich entwickelt habenden psychoanalytischen Körpertherapien und ihre Ergebnisse, die massgeblich zu veränderten Auffassungen von psychosomatischen Erkrankungen beitrugen. Sie vertieften Aussagen und Zusammenhänge von Psyche und Körper. Wir sind nun auf dem Weg, Körper und Psyche langsam aber sicher als Einheit zu begreifen, die mit unterschiedlichen Ausdrücken oder Sprachen arbeitet. Nicht Landessprachen, sondern Menschen sprechen auch mit dem Körper, drücken etwas aus, was ihnen nicht klar ist oder sie verdrängen. Ich bin der Meinung, dass Körper und Psyche eine vollständige Identität! Dass Mediziner auf dem Hintergrund dieser Entwicklungen im psychotherapeutischen Bereich zunehmend ihren Boden schwinden sehen und politisch dafür sorgen, dass man mal schön bei der Trennung bleibt und Abwertungen für unsere Arbeit nicht verhehlen, kann man nachvollziehen. Oder die Bestrebungen der pharmazeutischen Industrie, die für psychische Beschwerden Tabletten kreiert und auf dem Markt verteilt. Aber das nur am Rande. Gegenwärtig geht es vor allen Dingen auch darum, die Unterschiede zwischen den Methoden Psychoanalyse einerseits und andererseits tiefenpsychologischer Psychotherapie, die auf der Basis und mit dem Wissen der Psychoanalyse vom Grundsatz her arbeiten - sozusagen als Rahmen für die praktische Arbeit - methodisch aber völlig anders vorgeht. Eben mit Methoden, die die Lebensgeschichte und die Bezüge zum Konflikt des Patienten herausschälen und Patienten aber in der Gegenwart mit ihren Regressionen, also früheren Gefühlen und Erlebnissen, verkürzt gesagt, auffangen und das Material bearbeiten. Also, statt das man die Patienten auf der Liege liegend oder auf dem Stuhl sitzend in der Regression belässt, und darauf wartet - wenn sie lange genug berichtet und gefühlt haben - sich von allein etwas in den Patienten bewegt oder der Psychoanalytiker - so das Verständnis - dann irgendwann eine Deutung verkündet, die Gefühle neu organisieren und einen neuen Blick auf die Patientengeschichte freisetzt, arbeiten wir Psychologischen Psychotherapeuten aktiv methodisch. Erlebnisse, Gefühle und Abwehrstrukturen werden aktiv bearbeitet - und wie man das macht, findet wohl jeder Psychologische Psychotherapeut auf dem Hintergrund seiner unterschiedlichen Psychotherapiemethoden, falls er eine tiefenpsychologische Zulassung hat, selbst heraus. Es ist ein völlig neues Psychotherapie-Verfahren, dass Mitte der neunziger Jahre aus dem Boden gestampft wurde. Es musste schnell gehen. Also bot man in Psychoanalytischen Instituten psychoanalytische Ausbildungen für uns an. Die meisten von uns hatten dieses Wissen aus ihren anderen Ausbildungen eh‘ schon - aber die wurden in Zweifel gezogen, nicht anerkannt. So setzte man die Daumenschrauben an: Dasjenige, was du kannst und weißt, reicht nicht für eine Zulassung! Aber, Maria, diesem aktiven psychoanalytischen Arbeitsstil wurden keine gesonderten Abrechnungsziffern zur Seite gestellt. Im Prinzip hat man politisch so gehandelt, wie die Krankenkassen in der Praxis. Ruft man bei einer Krankenkasse an und sagt, der Patient möchte gern nach gestalttherapeutischen Methoden behandelt werden, sagt die Krankenkasse:
Ja, machen Sie! Prima! Wir wissen, dass Sie gut arbeiten! Aber nein, gesondert bezahlen tun wir das nicht.
Und so wurde und wird es von Politikern auch gehandhabt:
Machen Sie doch - nein, aber bezahlen tun wir nicht für ihre zig Ausbildungen.
Auf gut Deutsch:
Sie bekommen so viel, wie jeder Anfänger. Machen Sie doch was sie wollen in den 50 Minuten Psychotherapie!
Nee, und da muss mal etwas passieren. Also, auf diesem Hintergrund musst du die GOP verstehen: Die Psychoanalytiker setzen sich qua Methode damit nicht auseinander und die Verhaltenstherapeuten haben in ihrer Methode bereits Übungen, die nicht gesondert abrechenbar sind: Denn das ist die Verhaltenstherapie! Und die tiefenpsychologisch arbeitenden Psychotherapeuten, die vorher zig Ausbildungen gemacht haben, lassen sie zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, weil sie sich nicht dagegen wehren! So. Und nun sitze ich hier mit dir, weil ich meine Art und Weise, wie ich mit Patienten arbeite - und zwar erfolgreich - auch bezahlt haben möchte!“, schließe ich den Hintergrund atemlos ab, weil viele Gefühle in mir hoch brodeln und politische Entscheidungen und Auseinandersetzungen mit Krankenkassen und Psychoanalytikern, die als Gutachter fungieren und dann Vorgehensweisen oder eben andere und neue Blickwinkel auf den Patienten, wie sie sich aus dem Arbeitsstil ergeben, nicht nachvollziehen oder aus sonstigen Gründen, Weiterbehandlungen ablehnen. Dann kommt noch eine Quotenregelung hinzu, also eine Begrenzung der Mittel, denen die Gutachter unterliegen und sicher ist bei dem einen oder anderen noch ganz anderes zu vermuten. Und dann hast du eine Ablehnung zur Weiterbehandlung auf dem Tisch liegen.
Ich widme mich mal dem Gruß aus der Küche, den Maria bereits während meiner Ausführungen genießerisch fast aufgegessen hat. Sie wippt mit der Gabel. Es arbeitet. Dann fragt sie:
„Und was hätte ein Psychoanalytiker bei der Bulgarin empfohlen?"
„Hm, ist die gelackte Ente lecker!”, begeistere ich mich und blühe, ganz im Element meines Geschmacksinns seiend, regelrecht auf.
„Das ist eine gute Frage, und ich kann sie nicht beantworten!”, überlege ich, während ich auf dem Happen herum kaue.
„Ich hatte ihr geholfen, im Frauenhaus einen Platz zu bekommen, damit sie geschützt wurde. Da hatte sie dann alle Hilfe dieser Welt, wenn man das so sagen kann, damit sie ihre Lebenssituation ordnen konnte. Was ein Psychoanalytiker in einem solchen Fall getan hätte, kann ich dir echt nicht sagen. Aussitzen wäre ganz sicherlich nicht das Richtige gewesen. Und erst einmal nichts zu verändern, sicherlich auch nicht...", schnappe ich mir mit meiner Gabel den nächsten Entenhappen, tunke ihn in die dunkle Soße, genieße und führe dann das Gespräch wieder auf die Zielgerade der Gebührenordnung für Psychologische Psychotherapeuten (GOP):
„Das heißt, wir arbeiten ganz anders! Wir arbeiten auf und mit dem lebensgeschichtlichen Hintergrund der Patienten inklusive unseres psychoanalytischen und bei einigen Kollegen auch noch erweitert, unseres körperanalytischen Verständnisses, und setzen dies alles mit den Symptomen, die in der Gegenwart von Patienten geschildert werden, in Beziehung. Das heißt, man schaut, welche Muster aus der Vergangenheit in der Gegenwart eine Rolle spielen und umgekehrt. Da ich als erste lange methodische Ausbildung eine Gestalttherapie-Ausbildung gemacht habe, mal unabhängig von Verhaltens- oder Gesprächstherapie, verschaffe ich mir zunächst einen Überblick, wo der Patient in der Gegenwart emotional steht...", und quittiere nun erst einmal, dass die Ente wirklich hervorragend schmeckt.
„Und ich sage immer: Wenn dasjenige, was emotional in der Gegenwart im Vordergrund der Symptome steht, Bezüge zur Vergangenheit hat, so werden die Gefühle und Schilderungen des Patienten genau dorthin führen, wo der Knoten sitzt, um es, wie es so schön heißt, aus der Fixierung zu lösen. Und natürlich den Patienten aus der Regression herausführen, statt zunächst hinein, so, wie die Psychoanalyse es methodisch vorgibt. Regression bedeutet: Jemand ist innerlich auf einer früheren emotionalen Erlebnisstufe oder einem entsprechenden Ereignis festgehalten. Wenn du dich abends auf die Couch legst, regredierst du auch. Aber du könntest nicht gut in deinem Job arbeiten, wenn du in diesem emotionalem Niveau den ganzen Tag wärest‘!" Maria schaut mich mit großen Augen an.
„Also, Regression ist auch was ganz Normales?!”, spricht sie dann die Frage aus.
„Ja, klar! Aber es gibt eben auch den Zustand, dass ein Mensch dauerhaft in einem emotionalen Niveau gefangen ist, das ihn hindert, seinen sonstigen Lebens- und Berufsinhalten nachzugehen... Also, allein vom Vorgehen her betrachtet, liegen den Methoden der Psychoanalyse und der tiefenpsychologisch-fundierten Psychotherapie verschiedene Welten und Methoden zugrunde. Auf die Verhaltenstherapie gehe ich jetzt mal nicht ein, weil in ihr anders vorgegangen wird. Vielleicht nur so viel: VT ist ausschließlich am symptomatischen Verhalten orientiert. Eine Patientin, die zu einem Psychoanalytiker geht, wird aufgefordert, aus ihrem Leben zu berichten. Der Psychoanalytiker wird abwarten, viele Stunden abwarten, bis er etwas sagt, wenn er etwas sagen will! Denn das Schweigen ist umgeben von einer Art Weisheit, von Mystizismus, das meiner Meinung nach dringend reflektiert werden sollte...!", schiebe ich parallel zu meiner Gabel, beladen mit einem Minisalat von Rote Beete, eine Kritik nach und erinnere mich an Fritz Perls.
„Also, als guter Psychotherapeut greift man auch schon mal zu ungewöhnlichen Maßnahmen um einen anderen Menschen zu unterstützen oder aber zu konfrontieren. Wie er das macht, muss sich aus vielen und unterschiedlichen Aspekten, die der Psychotherapeut wahrnimmt, ergeben. Um so zu arbeiten, muss er verdammt wach und aufmerksam für den Patienten sein, auch wenn es scheint, er schlafe. Und es muss ein Vertrauensverhältnis bestehen. Sonst kann dasjenige, was der Psychotherapeut interveniert oder sagt, möglicherweise sehr skurril wirken. Und im Falle, dass ein Patient es einem anderen Menschen oder Sachbearbeitern erzählt, zum Nachteil ausgelegt werden. Und dann das Skurrile wieder ins rechte Licht zu setzen, dürfte schwer sein und darüber werden Bücher geschrieben! Menschen haben immer gern eine Meinung zu irgendetwas, auch wenn sie keine Ahnung haben! Am liebsten haben sie Meinungen und Ratschläge zu etwas, was sie selbst noch nie erlebt haben! Menschen achten einfach nicht dasjenige, was ein Mensch über eine bestimmte Erfahrung emotional selbst mitteilt! Viele tun so, als wüssten sie ganz genau Bescheid und hätten das Patentrezept! Das ist aber ganz und gar nicht so! Das ist so albern, das sich niemand mal traut zu sagen:
Nein, erzähl' mal. Ich habe keine Ahnung, wie man sich dann fühlt, wenn man das erlebt!
Oder es werden dann Empfehlungen von Sachbearbeitern an Patienten gegeben, die neben der Sache liegen, weil sie eben davon, was unsere Arbeitsgrundlagen sind, keine Ahnung haben. Wie sollten sie auch?", lasse ich die Frage im Raum stehen und Maria und ich suchen unsere Teller nach den Resten der leckeren Kleinigkeiten ab.
„Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie geht hier ganz anders vor. Sie ist aktiv, arbeitet direkt mit emotionalem Material, verbindet es mit Mustern oder Erfahrungen, die prägend im Leben des Patienten waren oder sind. Führt, wie gesagt, aus der Regression heraus, statt hinein. Patienten kommen aber zu Beginn zunächst mit einem regressiven emotionalen Erleben in die Praxis und berichten, dass sie nicht mehr vorwärts, noch rückwärts zu gehen wüssten, weil sie sich so oder so fühlen würden...", greife ich zu meinem Glas und trinke etwas Wasser, um mir dann Erbsenmousseline zu Gemüte zu führen.
„So. Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass es sehr große Unterschiede zwischen den Methoden gibt! Und die formuliere mal in Abrechnungsziffern, die für alle Methoden gelten sollen! Das ist freilich eine große Kunst! Damit unterstelle ich mal, dass sie eine universale Gültigkeit für alle Methoden haben sollen und das man sich in der Psychotherapeuten Kammer hierzu Gedanken gemacht hat. Wie soll dann jemand, der anders als psychoanalytisch arbeitet, GOP-Ziffern oder GOÄ-Ziffern abrechnen, in denen nur kleine Ausschnitte methodischen Handelns stehen? Nämlich dann zum Beispiel, wenn man dem Patienten zum einen etwas sagt, zum Beispiel eine Deutung seines Erlebens und Verhaltens gibt, oder zum anderen ihm eine Aufgabe, die er in seinem Leben außerhalb der Psychotherapie erledigen und daraus lernen soll, stellt. Und zwar nicht nach zwei oder drei Jahren, sondern bereits ziemlich früh in der Behandlung. Die Deutung seines emotional begründeten Verhaltens und das in Beziehung setzen zur Lebensgeschichte wäre in meinem methodischen Vorgehen ein Beispiel für die GOP 5. Die Aufgabe würde die GOP 15 widerspiegeln. Ich glaube sogar, das die meisten diese Ziffer überhaupt nicht abrechnen,“ setze ich hinzu, stecke mir eine Zigarette an und trinke wieder Wasser. Die Flasche ist fast leer.
Ich signalisiere der Kellnerin mit einer kleinen Geste, sie möge noch eine Flasche San Pellegriono zu uns an den Tisch bringen.
„Nein...", zügle ich meinen Vortrag etwas, „...nicht die Gesamtheit oder Allgemeinheit der Psychologischen Psychotherapeutinnen arbeitet an Patienten vorbei, wie diese Patientin es bei der Sachbearbeiterin darstellte. Diese Aussage bezieht sich auf einen Einzelfall! In meinem Fachbereich sind in denn letzten Jahrzehnten viele wichtige Entwicklungen und Untersuchungen gestartet und umgesetzt worden. Und darauf, auf diese Ergebnisse, können wir alle stolz sein... Und ich bin es auch! Ich bin aufgrund dieser Angelegenheit, weshalb wir uns heute hier sprechen, nervlich sehr angespannt und äußerst empfindlich...", entschuldige ich mich aufgrund der umfänglichen Darstellung der Methoden während des Essens.
„Also, die Ausführlichkeit hilft mir, mal etwas aus meinem Berufskleid hier heute Abend auszusteigen und vor mich hinzustellen. Dient sozusagen einer kleinen Selbstfindung und Suche, meinetwegen auch Psychohygiene, wie ich weiter machen kann", erläutere ich ihr.
„Nee, ist schon klar", wiegelt Maria ab, „ich habe viiiieel verstaaandeeen, voon deem, waaaas duu erzäählt haast!”, lächelt sie mich an.
Die Kellnerin bringt das Wasser und dazu noch einmal Zitronenspalten und nimmt bei dieser Gelegenheit die kleinen Tellerchen mit.
„In fünf Minuten kann ich Ihnen den Hauptgang bringen... Ist es Ihnen recht?", stellt sie klanglich in den Raum über unseren Tisch.
„Ja, prima! Sehr gern!”, kommentiere ich ihre Offerte.
„Ja, ich weiß. Ich kenne dich Irina! Du musst dich nicht entschuldigen!" Der Dialekt ist nun wieder wie weg geblasen.
„Ich hätte dich jetzt mal in einen Vorlesungssaal stellen sollen. Echt‘ macht‘ das!“ , wiederholt sie, was sie schon mal sagte, „du hättest mit Sicherheit großen Applaus für deinen Vortrag bekommen! Ich habe jedenfalls verstanden, was du eigentlich sagen wolltest! Und worauf du hinaus willst!”, schaut sie mich an und nickt mir zu. Und so fahre ich fort:
„Dennoch, so, wie ich, dürften die wenigsten arbeiten. Oder, ich weiß es nicht! Denn sonst hätte doch die Psychotherapeuten Kammer auch mal aus ihrem Schlaf erwachen müssen und neue Ziffern für uns fordern müssen...!”, schnaube ich, aufgrund der bislang vorliegenden Informationslage logisch schließend.
„Denn dann hätten ja auch andere Kollegen sich mal bei der Psychotherapeuten Kammer erkundigt! Oder? Nun, es kann natürlich auch sein, die Anfragen sind da. Ich weiß es nicht...!”, schließe ich vorläufig dieses Kapitel. Und denke an meine Patienten und Patientinnen und deren Entwicklungsschritte und die Rückständigkeit der GOP-Ziffern in unserem Berufsbereich der Fachärzte für Psychotherapie.
„Die Mediziner haben zig, also Hunderte Abrechnungsziffern! Alles ist genau beschrieben, was man sich an Abrechnungsziffern ausdenken kann. Und was man nicht abrechnen kann, wurde im Laufe der Jahrzehnte abrechenbar gemacht. Mal abgesehen davon, dass die Mediziner dabei verrückt werden müssen, wenn sie ständig reflektieren müssen, wie sie was abrechnen können, müssen, sollen...! Bei uns ist es genau umgekehrt: Wir haben eine Hand voll Ziffern, und wie sich zeigt, nicht einmal diese Hand voll Ziffern sicher! Sie sind wie Sand, der durch die Finger rinnt. Hinterher schaust du in die Hand und nichts ist darin. Alles, was wir gelernt haben, geochst haben, gefahren sind, bezahlt haben ist in unserem Bereich einfach NICHTS. Reflektierst du mal selbst darüber, fällt dir auf, was in eine Äußerung, die das Blättchen für Patienten in Bezug auf ihrer Symptomatik wenden kann, an jahrzehntelanger Erfahrung, Wissen, Differenzierung und Methode einfließt. Und es bleibt dabei: Es ist nichts! Alles in einer Ziffer sozusagen enthalten: GOP 861! Das ist kein Witz, das ist eine bodenlose Frechheit.!”, stochere ich in den Resten auf meinem Teller herum.
„Besser wäre es gewesen, sie hätten das Thema GOP mal in unserem Sinne sofort und nachhaltig parallel mit der Zulassung in die Kassenärztlichen Vereinigung bearbeitet. Die GOP als Aufgabe erkannt! Vermutlich liegt es daran, dass da nichts passiert ist! Oder sie hätten zumindest für die neuen Psychotherapie-Verfahren inhaltlich angemessen in Ziffern, meinetwegen auch in alten Gewändern, erstritten ...! Meinetwegen auch so. Aber nichts ist passiert! Weder ist vor der Integration in die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) von Berufsverbänden etwas erreicht worden, noch ist von der Psychotherapeuten Kammer in 13 Jahren hierzu etwas passiert oder auch nur initiiert worden! Dornröschenschlaf. Man wehrt sich zu wenig! Man hat jedes Vierteljahr gegen die Honorarbescheide der KVen Widerspruch einzulegen. Bekommt Mitteilungen, die dazu anregen sollen, sich zu freuen, dass der Punktwert nicht gefallen ist...! Da fühle ich mich doch verarscht!”, schnellt meine halbstarken Seite wie eine Natter aus dem Gebüsch hervor und verschafft sich weiter Luft:
„Ostentative Bescheidenheit herrscht in meinem Berufszweig! Ich weiß nicht, woran es liegt: Vielleicht glauben und denken die Kollegen über sich:
Ich mache ja nichts, ich kann ja nichts, dann kann ich auch nichts verlangen.
Das Bewusstsein, was sie geben und können, ist möglicherweise nicht richtig justiert. Es scheint fast so, als brauche man kein Geld. Ja, ist vielleicht sogar beschämend, zu sagen,
Das, was ich weiß, mitteile, an Gefühl gebe, muss aber mal ordentlich bezahlt werden!
Kommen wir mal zu diesem Thema! Die Scham für psychotherapeutische Leistungen angemessene Honorare zu fordern, ist sehr verbreitet. Die Kollegen schlagen sich damit gegenseitig in die Flucht. Viele, die es jetzt genießen, dass wir in die Kassenärztliche Vereinigung aufgenommen sind, haben niemals auch nur einen Finger gerührt, außer mal irgendwo Unterschriften auf Unterschriftenlisten, die von anderen, wenigen Kollegen verfassten wurden, zu setzen. Ich hoffe, ich bin jetzt nicht zu ungerecht in meiner Empörung. Ich weiß nur: Seit ich meine Praxis in den achtziger Jahren eröffnete, habe ich mit solchen Dingen zu tun. Es gibt kein Jahr in den 31 Jahren, wo ich hätte sagen können: Schön, nun kann ich in Ruhe arbeiten! Gab' es nicht... Davon habe ich die Nase gestrichen voll!“
Ich greife wieder zu meinem Wasser und muss erst einmal selbst das Gesagte herunterspülen, um wieder anzusetzen. Beiße in eine der Zitronenspalten, stelle fest, sie ist sauer. Natürlich! Aber ich vergesse immer wieder, wie sauer genau Zitrone ist. Unterbewusst scheine ich damit beschäftigt zu sein, es mir geschmacklich zu merken und etwas gegen diese Säure in mir aufbauen zu wollen. Es gelingt mir nicht. Ich falle immer wieder neu verführt auf sie herein. Sauer soll lustig machen, tröste ich mich dann und gebe meinen Feldversuch auf:
„Damals gab es keine Orientierung oder irgendetwas Festes, woran man sich hätte orientieren können! Alles trail and error! Außerdem: Die meisten Kollegen, immerhin Zweidrittel aller Psychologischen Psychotherapeuten in Deutschland sind Frauen, heiraten. Mit dem allein zu erwirtschafteten Salär in der Psychotherapie kann kaum jemand eine Familie ernähren, Kinder studieren lassen... und auch noch in den Urlaub fahren und ein eigenes Haus bezahlen. Die, die am lautesten Schreien, das Honorar sei doch in Ordnung, sind diejenigen, die nur für sich allein leben. Ohne Kinder. Ohne Familie. Die sparen dann Monate lang um sich mal einen Urlaub zu gönnen. Singles, die in ehefernen Verhältnissen leben. Oder sie sind verheiratet und haben damit doppelte Einnahmequelle: Und dann sieht es natürlich anders aus! Aber Befragungen werden da nicht weiterführen. Was weiterführt ist die Tatsache, dass kaum noch Männer diesen Beruf ergreifen! Medizinisch ausgebildete Ärzte stehen mit ihren Honoraren anders da! Diese Männer heiraten, finanzieren ihre Frauen, zeugen Kinder, bauen Häuser und fahren zu den Schulferien in den Urlaub. Das ist der Maßstab und nicht die mathematischen Formeln, die angeblich gleiches Honorar für alle Ärzte innerhalb der KVen berechnen oder einzelne Einschätzungen und Dankbarkeitsbekundungen oder Ehrerbietung von ein paar Kollegen, die meinen, das Honorar sei doch so in Ordnung!”, trumpfe ich auf und werde sofort unterbrochen:
„Wie bitte???", entfährt es Maria, „wie ist das möglich?“
„Es sollte doch für Honorargleichheit im Rahmen der Gesundheitsreformen gesorgt werden!!!"
„Tja, aber so sieht's aus! Die Kellnerin naht mit dem Essen...! Warten wir lieber einen Augenblick!”, unterbreche ich diskret und leise unser Gespräch.
Ich nehme meine Damastserviette und lege sie mir auf mein Kleid in den Schoss. Ein weiterer Kellner naht und die Kellnerin nimmt ihm einen Teller mit ihren behandschuhten Händen ab und stellt ihn zu Marias Essplatz:
„Vorsicht! Der Teller ist heiß!”, mahnt sie leise.
Der hinzu geeilte Kellner platziert den zweiten, also meinen Teller, mit gleicher Ermahnung vor mir auf den Tisch.
Dann stellen sie sich beide nebeneinander vor dem Kopfende des Tisches auf und mit einer angedeuteten Bewegung, die wie eine Verbeugung anmutet, sagen sie wie aus einem Munde:
„Guten Appetit!"
„Danke sehr!”, tönt es aus unseren Mündern gleichfalls ziemlich gleichzeitig und artig.
Schwups' eilen sie wieder davon in Richtung Küche und holen weitere Gerichte, nämlich die der anderen Gäste, die ebenfalls noch zu servieren sind. Wir nehmen unsere liebevoll dekorierten Teller in Augenschein und sind beide hoch zufrieden mit dem, was sich unseren Augen darbietet. Alles sieht sehr frisch und lecker aus und verführt uns direkt, zu unserem Besteck zu greifen. Und wie es duftet! Uns läuft das Wasser im Munde zusammen.
„Ja, dann, guten Appetit, liebe Maria! Lassen wir es uns schmecken und das Thema ein paar Minuten ruhen!"
„Wenn du meinst Irina...!“
„Tja, so gleich sieht es in der Realität aus!”, unterstreiche ich die vorangegangenen Ausführungen. Mein Mahl verzehre ich trotzdem mit Genuss. Das spricht nun wirklich für die Qualität des Essens. Maria schaut andächtig auf ihrem Teller herum und wählt aus, was sie als nächstes auf ihre Gabel buxieren möchte, hört aber trotzdem aufmerksam zu.
„Aber das ist ja nicht alles! Unsere Berufsrechte sind im Vergleich zu den medizinisch ausgebildeten Ärzten eingeschränkt", setze ich nach, trinke wieder ein Schlückchen Wasser und ziehe ein Fazit:
„Wir sollen zu den akademisch ausgebildeten Krankenschwestern der Ärzte heran gezüchtet werden...! Intern sind wir es bereits, da können wir uns wehren und für angemessene und höhere Honorar klagen, wie wir wollen. Seit Jahren ändert sich nichts. Weniger Geld, weniger Berufsrecht und immer schön freundlich, wenn der Onkel Doktor anruft...! Und natürlich Klappe halten! Es ist also kein Wunder, das männliche Studenten das Weite suchen...und etwas anderes studieren als Diplom Psychologie, um dann die Zusatzausbildungen zum Psychotherapeuten jahrelang anzuschließen, und dabei kaum was verdienen, sondern in der Regel zu zahlen! Mancher kann diese Ausbildung gar nicht bezahlen...! Viele machen eine Verhaltenstherapie-Ausbildung. Die ist kürzer und kostet sehr viel weniger als eine Ausbildung in tiefenpsychologisch-fundierter Psychotherapie oder Psychoanalyse. Ich wüsste gar nicht, wie heutzutage ein Diplom Psychologe solche Ausbildungen bezahlen sollte, die ich alle absolviert und bezahlt habe...! Nun, ich saß aber auch jahrelang auf Apfelsinenkisten...und habe nichts anderes als eine Ausbildungen nach der anderen absolviert und in Kliniken gearbeitet. Mein Auto fiel auseinander und ich hatte kein Geld, ein neues zu kaufen. Da war ich bereits 35 Jahre alt!”, schließe ich die ungefragte Rundreise durch meinen Berufsfachbereich ab. Und ergänze noch, dass ich da nach noch zwei lange Ausbildungen nachgeschoben habe:
„Eine psychoanalytische Körpertherapie aus Interesse, und damit freiwillig, über fünf Jahre hinweg, und die andere unter politischem Zwang, weil nicht klar war, was als psychoanalytische Ausbildung durch die KVen und durch Politiker anerkannt würde. Das musst du dir mal vorstellen!”, empöre ich mich, als ich wieder in diesem emotionalen Fahrwasser in mir lande. Und denke daran, dass ich Maria ja eigentlich noch was anders sagen wollte. Aber Maria unterbricht mich:
„Gibt es eigentlich einen Bereich, der bei euch zufriedenstellend läuft? In dem nicht gekämpft werden muss?“, fragt sie entgeistert.
„Nee, habe ich ja gerade gesagt! Damals haben 50 Prozent der deutschen Diplom Psychologen mit Psychotherapie-Ausbildung keine Zulassungen in den KVen bekommen, weil sie nicht die 'richtigen' Ausbildungen hatten! Nur so viel zu deiner Frage, ob irgendetwas in unserem Bereich zufriedenstellend abläuft! Und dann kannst du dir vorstellen, wie ich mich fühle! Mit der Geschichte, die ich jetzt da am Hals habe! Also diese Angelegenheit hat mir gerade noch an der Miete gefehlt! Das ist das I-Tüpfelchen, von dem ich geträumt habe in meinem Berufsbereich! An jeder Ecke bekommt man eines auf den Deckel, bekommt zu wenig Geld! Einem wird alles abverlangt, man hat aber sehr beschränkende Berufsrechte. Und im Bereich der Privatkrankenkassen sieht es nicht anderes aus", kommt mir nun auch dieses Berufsfeld gefühlt erst einmal richtig hoch.
„Maria, du musst dir vorstellen, dass die Abrechnungsziffern bei den Privatkrankenkassen in den letzten 24 Jahren NICHT erhöht wurden! Die Honorare wurden im Rahmen der Umstellung von Deutsche Mark auf Euro Zehntelstellen hinter dem Komma exakt dem Wert von Deutscher Mark 2002 umgerechnet. Nur, das der Wert, was man sich im Laufe der Jahre davon kaufen konnte, enorm abgenommen hat, lässt man in Deutschland bei diesen Fachärzten für Psychotherapie stur unter den Tisch fallen. Nähme man den GOÄ-Satz zum 2,3-fachen Satz aus dem Jahr 1999, dem Jahr der KV-Zulassungen für PP wie er bis zur Euroumstellung abgerechnet wurde, und würde ihn anpassen an real auffindbare und praktizierte Umrechnungen, wie sie der Bürger in den Endpreisen in Deutschland in sehr vielen Bereichen bezahlen muss, nämlich in einer Wertstellung von 1:1, dann wäre der heutige GOP-Abrechnungssatz für die Ziffer 861 bei 2,3-fachen Abrechnungssatz circa 181 Euro. Aber diesen Nennwert hat noch nicht einmal die Ziffer 861 nach dem heutigen 3,5-fachen Gebührensatz! Er liegt bei circa 140 Euro! Und der 2,3-fache Satz liegt tatsächlich bei ca. 92 Euro. Die Privatkrankenkassen leisten es sich darüber hinaus, Menschen, die eine Psychotherapie gemacht haben, bei einem Wechsel zu einer anderen Privatkrankenkasse nicht aufzunehmen", sprudelt mir die Miesere der lächerlichen Gebührenhöhe der Abrechnungsziffern bei Privatpatienten auch noch heraus. Aber dieses Thema verdient noch ein paar Worte zusätzlich finde ich und fahre zügig fort und sehe Maria an, dass sie ins Nachdenken gekommen ist und mir still und nickend zuhört:
„Die Zeitschriften kosten alle mehr als das Doppelte in Euros als damals in Deutscher Mark. Eine Ausgabe DIE ZEIT kostet heute 4,20 Euro. Ich kann es verstehen, wenn sie die Preise erhöhen. Schließlich haben Zeitungen mit anderen Medien wie Internet zu kämpfen, damit sie bestehen können! Außerdem haben sie die Preiserhöhung zumindest angemeldet. Ich wüsste nicht, dass irgendeine große Kosemtikfirma 2002 mitgeteilt hätte, dass sie nun ihre Lippenstifte ebenso wie alles andere im Preis verdoppeln: 24,50 DM wurde schlicht zu 25 Euro. Brand eins, ein Wirtschftsmagazin, bringt es in seiner November-Ausgabe 2012 auf den Punkt:
Sonderangebot
1 Pizza bestellen
2 bezahlen!
Aber Millionen anderer Menschen haben gleichfalls mit ihrer Existenz privat und beruflich zu kämpfen. Da sollte man, wenn schon gesagt wird, man säße mit anderen gemeinsam im Boot und man kämpfe um Existenz, auch die sehen, die gesetzlich gebunden sind, wie wir und nicht einfach mal eben erhöhen können. Nicht einmal eine Inflationsanpassung bekommt wir! Alle bekommen die - wir nicht.
Man kann natürlich die Welt weiter spalten in diejenigen Menschen, die sich ehemals Normales und heute Luxuriöses, nicht mehr leisten können.
Klar, wenn wir alle gleichartig unsere Löhne oder Honorare in Deutschland den real praktizierten Umrechnungskurs anglichen, dann sind ja auch die Gewinne in den Firmen nicht mehr so hoch! Also wird man die gewollt praktizierte Ungleichheit im Hinblick auf Umrechnungen von DM auf EURO entsprechend kommunikationstechnisch hinbiegen und Menschen mundtot machen, wenn sie es nur wagen, zu sagen, die Umrechnung stimmt nicht! Also, man schlingert mit gut gewählten Worten einfach über Erfahrungen und real auffindbare Unterschiede hinweg und tut so, als sei die Bevölkerung, die so etwas sagt, bescheuert. Das eine ist, eine Ungleichheit zu schaffen, das andere aber, Menschen für bekloppt zu erklären. Also, es kommt immer noch eins drauf‘, damit akzeptiert wird, was man akzeptiert haben möchte.
2002 gab es eine Mitteilung in NEW BUSINESS, dass die DIE ZEIT ihren Verkaufspreis von 2,80 Euro auf 3 Euro erhöht! Ich glaube zu erinnern, in Deutscher Mark kostete sie jahrelang 3,60 DM, höchstens aber 4 DM. Das kann ich aber nicht mit Gewissheit sagen, sonder nur gefühlt. Eine Recherche ist hierzu fehlgeschlagen. Ich habe zumindest keinen Preis der DIE ZEIT von 1999 oder davor recherchieren können. Auch vom SPIEGEL nicht. Eine Preisangabe war in NEW BUSINESS aus September 2002 nachzulesen.
Wären die Verkaufspreis für den Kioskverkauf exakt umgerechnet worden, würde heute eine Ausgabe circa 1,80 oder vielleicht 2,50 Euro kosten! Aber die DIE ZEIT ist jetzt willkürlich von mir herausgegriffen, weil sie bei mir rumliegt, ebenso wie SCHÖNER WOHNEN, die heute 5 Euro, also damalig 10 DM hätte kosten müssen.“
Ich lehne mich wieder zurück, gebe den Tisch frei, den ich gerade als Armstütze nutzte und mich über den Tisch lehnend ereiferte und wunderte, dass so eine Ungleichheit seelenruhig praktiziert wird, ohne das Nennenswertes passiert. Kritik und Meinungen prasseln einfach an der verwirklichten finanziellen Ungleichheit und den daraus folgenden Existenzen ab, wie Wasser auf einem gewachsten Auto.
„Ich habe niemals dafür 10 DM bezahlt“, stellt sich die unangemessene Preisgestaltung in mir sofort gerade, „oder für AD, Architectural Digest, 7 Euro!“ fasse ich für mich zusammen und resigniere bezogen auf die Idee, einfach die DM-Preise genauer zu recherchieren und den Euro-Preisen heutzutage gegenüber zu stellen und im Vergleich dazu die Lohnumrechnungen, Mieten und Nahrungsmittel.
„Da müssen andere mal recherchieren, die direkteren Zugang zu Daten haben als ich. Da kann dann aber keiner mehr sagen, die Preise sind höher aufgrund von Inflationsraten geworden! Ich denke, die großen Firmen wussten schon sehr genau, was mit der Umstellung der Währung passiert und haben schon zu DM-Zeiten angefangen, langsam zu erhöhen. Die Bevölkerung fühlte es im Bauch, dass es für sie nachteilig wird - und da ist diese Währungsumstellung bis heute geblieben. Und aus so einem Bauch reagieren jetzt auch andere Menschen in Europa. Jetzt erst einmal nachhaltig die Griechen. 2002 war man dann bei einem Preis, der für die Wirtschaft, aber nicht wirklich für meinen Geldbeutel, angemessen weiter gestaltet werden konnte. Nein, da bleibe ich mal ganz bei meiner Milchmädchen oder Hausfrauenumrechnung, wie unser Altbundeskanzler Schmidt und viele andere gerne betiteln, wenn jemand sagt, man habe weniger Kaufkraft oder weniger Geld zur Verfügung. Da bin ich ganz Praktiker und nicht Theoretiker! Weil, ich habe die Hälfte in der Tasche oder auf dem Konto und zahle das Doppelte in zahlreichen Bereichen. Selbst Rentenberechnungen und Prognosen wurden falsch in Deutschland berechnet. Da lasse ich mir doch nicht mit meinem wertvollen Hausfrauenverstand sagen, ich verstünde nicht, worum es geht! Und wenn ich dann schaue, was große Unternehmen für Gewinne erzielen, dann weiß ich doch intuitiv, dass da was mit der Umrechnung und den Preisen nicht stimmt!“ entrüste ich mich in einem Guss und sehe am Gesicht von Maria, dass ihr gleichfalls viele Beispiel durch den Kopf gehen.
„Wären unsere Honorare gleichfalls innerhalb des KV-Systems 1:1 umgerechnet, würden wir heute für einen Kassenpatienten 145 Euro Honorar bekommen. Und das nur aufgrund einer 1:1 Umrechnung, wie sie real in Deutschland in vielen Bereichen exerziert wurden und werden. Wenn auch noch die zahlreichen Preiserhöhungen, die durch Inflation begründet werden, hinzuträten in unserem Bereich, dann wäre ja alles in bester Ordnung! Aber bei uns ist nichts, aber auch gar nichts in bester Ordnung! Honorarrealität ist: Für Kassenpatienten bekommen wir zwischen 70 und 78 Euro und für Privatpatienten 91 Euro. Zu dieser exakten Umrechnung mit dem Faktor von 1 Euro = 1.95583 DM, wie sie in unserem Berufsbereich üblich ist, tritt zusätzlich die Tatsache, dass wir nicht einmal in der Honorarverteilung sowohl bundesweit und jetzt wieder länderweit durch die einzelnen KVen in irgendeiner Form nennenswerte Anpassungen, nicht einmal bezogen auf die Inflation bekommen! Und das seit 13 Jahren! Und in meinem Fachbereich der Psychologischen Psychotherapeuten wird es in diesem Jahr, ebenso, wie in den letzten 13 Jahren zu keiner Erhöhung kommen! Wenn wir Glück haben, werden die KVen die erkämpften Erhöhungen in Honorarerhöhungen für die Mediziner weitergeben: Aber nicht an uns! Das bekommt ja in der Öffentlichkeit keiner mit! Da sagen einem Patienten:
, Ja, Sie bekommen ja jetzt wieder eine Erhöhung‘ und ich kann nur lachen: ,Nein, das ist ein Missverständnis. Die KVen nehmen die Verteilung der Honorare vor. Und die gehen an die Mediziner, aber nicht an die Diplom Psychologen mit Psychotherapie-Ausbildungen und KV-Zulassung und KV-Sitz!“ fasse ich den Stand der Dinge in meinem Fachbereich alltagstauglich zusammen, greife zu meinem Glas, trinke, setze es ab und plaudere nahtlos weiter:
„Alles wird doppelt so teuer und wir bekommen die Hälfte! Dabei gehen viele Menschen baden! Und dieses Prinzip, nämlich noch weit über den damaligen Deutschen Mark Nennwert hinaus Produkte zu verkaufen, findet man in unserer freien Wirtschaft in jedem Bereich. Aber auch Löhne wurden meist exakt umgerechnet. Politiker haben kein Veto eingelegt, als diese Art der 1:1 Umrechnung, und zwar direkt zu Anfang der Umstellung auf Euros, eingelegt! Sie haben es laufen lassen! Wie das auf Dauer funktionieren soll, man hat nur noch die Hälfte und soll das Doppelte bezahlen, ist ein Koan! Normalerweise gibt es keine Lösung für ein Koan: Aber in diesem Falle schon. Einige Menschen werden dabei richtig reich. Und von den anderen wissen wir, dass sie ihre Kröten zusammenkratzen. Aber, es wird offiziell immer wieder verleugnet und vor den eigenen Ohren verdreht als sei man ein Hinterwäldler und es fülle sich das Portemonnaie von allein, traut man diesen politischen Verdrehungen! Dann wird gesagt immer wieder mit Vehemenz von Menschen, die offenbar entweder nicht rechnen oder alles glauben, man dürfe nicht mehr Umrechnen! Das wäre nicht mehr vergleichbar! Da kann ich nur sagen: Ja, tatsächlich, diese Einkommensunterschiede, nämlich mit 1:1 Umrechnungen und diese Umrechnung noch mit Preiserhöhungen weiter zu steigern, sind nicht mehr vergleichbar. Ich bekomme die Hälfte an Honorar, Versicherungen werden pünktlich erhöht und ich zahle das Doppelte, wenn ich einkaufen gehe - egal, was ich kaufe! Nein, mein punktgenau umgerechnetes Einkommen ist nicht mehr vergleichbar mit dem zum Zeitpunkt vor der Euroumstellung! Und ich bin gebunden an Honorare, wie sie in den KVen ungerecht ökonomisch berechnet und unter den übrigen Ärzten und Fachärzten verteilt werden. Und ich bin an so eine inhaltliche Abartigkeit von Gesetz wie die GOP gebunden! Wenn ich den 3,5-fachen Satz nach der Umrechnung, wie sie in der Wirtschaft nach dem 1:1 Muster üblich ist, dann bekäme ich seit 13 Jahren 275,43 Euro an Privathonorar nach der GOP zum 3,5-fachen Satz! Dann stimmt das Verhältnis wieder zu den Preisen von DIE ZEIT, Kosmetikartikeln, Kleidung, Esswaren, schlicht zu allem anderen, was es zu kaufen gäbe. Aber so passt nichts mehr! Gehst‘ du einkaufen, wird so getan, als seien 5 Euro 5 DM, dabei sind es 10 DM. Viele Menschen fühlen es nicht nur so, sondern haben die Ergebnisse dann auch genauso als Realität in ihrer Geldbörse. Und da ist Ebbe. Und wie gesagt: Bei denen, die Produkte verkaufen in der freien Wirtschaft, sieht es umgekehrt aus. Die verdienen sich dumm und dämlich. Der Zuwachs an Geld ist bei denen in der Wirtschaft nicht durch plötzlichen Wachstum an Intelligenz- oder Kreativität zu erklären. Nein, eher dadurch, dass man sich in Deutschland und global nicht an Regeln der Währungsumstellung gehalten hat, so wenig, wie Wettbewerbsregeln eingehalten werden. Und da stellt sich die Frage, auf welcher Seite die Politiker eigentlich stehen. Das können wir jetzt weltweit im Hinblick auf Griechenland verfolgen, wo es hinführt, wenn sich diejenigen, die über Kapital verfügen nicht an Regeln halten: Da werden dann Steuern in Milliardenhöhen unter aller Augen nicht gezahlt und man rührt sich nicht. Das ist im Übrigen in Deutschland nicht anders, wie im STERN mitgeteilt wurde. Und nun? Ja, was passiert dann? Nichts. Man tut so, als sei das ein Naturgesetz! Das muss man sich mal vorstellen! Und natürlich, dann werden ganz viele Spezialwörter kreiert, irgendwelche sprachlichen, meist englische, Wortkonstruktionen die kein Mensch mehr versteht, geschweige denn erklären kann. Und dann haben diejenigen, die an derartigen Regelverletzungen beteiligt sind, die Gewinne gemacht!“ Ich lehne mich zurück und frage mich, wie ich da jetzt hingelangt bin, zu diesem Generalthema in Deutschland und darüber hinaus in Europa.
„Tut mir leid, ich bin jetzt wohl in eine generelle Richtung geraten, was die Umstellung auf Euros betrifft.“
„Nein“, flüstert Maria ernst, während sie sich gerade auf ihren Stuhl aufrichtet, ihren Rücken durchdrückt, nachdem sie ihren Kopf aus ihrer rechten Hand gelöst hatte, in die sie ihn stützte, während sie zuhörte, „ich verfolge dieses Spielchen auch seit Jahren. Sowohl beruflich als auch privat, wenn ich einkaufen gehe. Da bin ich ganz bei dir. Ich finde, wir brauchen mehr solcher Beispiele, wie du sie gerade für deinen Berufsbereich aufgezählt und in Beziehung gesetzt hast“, windet sich ihre Stimme aus der Versenkung kommend wieder auf normale Lautstärke hinauf und sie fährt fort:
„Das Problem ist, Menschen vertrauen sich selbst nicht mehr und zweifeln an ihrem Denkvermögen und an ihren eigenen Erfahrungen! Werden durch zig Diskussionen im Fernsehen eines besseren belehrt, sprich, von ihren eigenen Erfahrungen wegdebattiert. Sie werden für dumm verkauft. Das ist ein Problem. Und irgendwann lassen sie los, so nach dem Motto: Wenn das so kluge Leute im Fernsehen so darstellen, dann habe ich wohl nicht richtig gedacht! Dann halte ich mal besser meinen Mund. Politik wird zunehmend eine Tätigkeit, die mit Parolen, Wahlversprechen und Gesetzchen hier und da, gekonnt über die Realität des Großteils der Wähler hinweg segelt und nur bestimmte Interessen verwirklicht. Damit man im Rahmen der Weltwirtschaft sagen kann: Die Deutschen haben die besten Unternehmer, das sind die Gewinner und die positionieren Deutschland und den Euro weltweit. Und damit wird Macht und Einfluss anderen gegenüber verwirklicht. Ob in Europa, oder weltweit. Leben, Existenz wird zum Geschäft gemacht! Was interessieren da Menschen, die kein Geld haben? Die sollen doch sehen, dass sie allein wieder auf die Füße kommen! Du weißt‘ doch, was da alles durch genudelt worden ist. Von wegen ,Du bist Deutschland‘ von vor ein paar Jahren! So, und wer ist jetzt, ein paar Jahre später, Deutschland?“ schließt Maria nun ihrerseits das Thema emotional bedient ab, und fragt:
„Was wolltest du eigentlich vorhin, bevor wir jetzt nun hier gelandet sind, erzählen?“
„Ja, gute Frage!“ sage ich gedehnt, mich sammelnd, „ah, da fällt es mir wieder ein, ich habe den Faden wieder“, freue ich mich und sage:
„Ich habe fifty-fifty gemacht: Halb Kassenpatienten, die andere Hälfte Privatpatienten. So konnte ich die Praxis offen halten. Allerdings habe ich in den 12 Jahren fast alle Ersparnisse für Steuern verbraucht. Denn einerseits gab es neue Besteuerungsgesetze, und zum anderen bin ich alleinerziehende Mutter. Alleinerziehende werden besteuert wie Alleinlebende: Lohnsteuerklasse 1! Das ist die nächste Unverschämtheit, die in Deutschland verwirklicht ist. Ich weiß nicht, ob Steuerberater, die es sich schlicht in ihrem Beruf gemütlich machen, so will mir scheinen, und für ihre Mandanten politisch nichts im Sinne von Gleichheit und Gerechtigkeit durchsetzen, an bestimmten Stellen für Gefühle und Einschätzungen haben! Wer setzt sich eigentlich noch ein, wenn bodenlose Ungerechtigkeiten aufliegen? Aber jetzt zu deiner Frage:
Ja, klar hat die Patientin ein Anmeldeformular unterschrieben. Sogar drei Mal hat diese Patientin entsprechendes unterschrieben...! Ein Versehen im Sekretariat. Ich glaube, meine Sekretärin konnte einmal eines der Formulare nicht finden, oder es fehlte mir in der Akte und ich sagte dann, sie solle es nochmals unterschreiben lassen. Wie auch immer: Jetzt haben wir die Vereinbarungen um die es geht, dreimal unterschrieben vorliegen! Auch eine Einmaligkeit!“
Die Teller werden wortlos vom Tisch genommen. San Pellegrino von der Kellnerin mit einem kleinen Lächeln in unsere Gläser nachgefüllt. Ich nehme eine Zitronenspalte und ziehe den Saft heraus. Hm, sehr sauer.
„Darf es noch eine Flasche Wasser für Sie sein?"
„Ja, sehr gern!"
„Möchten Sie zu Ihrem Dessert den Cappuccino, so, wie immer? Oder heute lieber nach dem Dessert?“, quittiert sie höflich, dass wir heute fast nicht aus unserem Gespräch heraus zu bemühen sind, kein noch so kleines Gespräch am Rande führen.
„Nein, nein. So, wie immer!”, reagiert Maria prompt auf die Doppeldeutigkeit ihrer Nachfrage. Ich lächele die Kellnerin freundlich an und bestätige damit die Weisung Marias.
„Na, was soll das Ganze dann überhaupt!”, verkleinert Maria die Fakten rechtsanwaltlich gewohnheitsmäßig und fast beleidigt..., und schon gar nicht mehr auf den Rest, den ich zuvor erzählte, eingehend. Jetzt will sie nur noch wissen, worum es geht bei der Patientin geht, wegen der wir hier und heute sitzen.
„Ja, die private Vereinbarung steht über der GOÄ!”, bestätige ich und nun meinerseits bemüht, sie zu beruhigen.
„Jetzt spann mich nicht auf die Folter!”, fordert mich Maria nun ungehalten auf, die Karten auf den Tisch zu legen.
„Es geht nicht um Geld bei dieser Angelegenheit...“, sage ich leise, „es geht um Zerstörung. Es geht um Krieg. Es geht um Macht!“
„Nun ja, das ist doch normal“
„Denkste!”, sage ich und setze jetzt noch ein Ausrufezeichen dahinter:
„Nicht so, wie du jetzt denkst' und meinst'!"
„Es geht eher um Leben und Tod! Ganz Real, aber auch symbolisch!“
„Also, nun erzähl' schoooonnnn!”, ermahnt Maria mich nun wirklich ungehalten.
Also gut.