Читать книгу Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!!! - Irina Melchat - Страница 8

3. Sitzung

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Der Schnee war seit einem Monat geschmolzen. Am frühen Morgen hatte es geregnet. Die durch kahle Äste schüchtern huschende morgendliche Sonne lässt das Kopfsteinpflaster immer noch weißblauschwarz und fett glänzen.

Es ist kalt.

Die Autos werden dennoch und immer noch wie Fremdkörper über die Straßen in Erinnerung an den Schnee, der tagelang Menschen in ihren Häusern festsitzen ließ und tatsächlich ausnahmsweise mal ein Nachbar dem anderen beim Anschieben seines im Schnee fest sitzenden Autos half, und selbst Spaziergänger bisweilen die Runde der Schiebenden auf vier, fünf komplettierten, gehievt.

Die Sitzheizung wird langsam warm. Der Mantel liegt achtlos hinter mir auf den hellgrauen Rücksitzen. Ich zittere noch. Beim Einbiegen zur Allee, die ich jeden Morgen umrunde, bretterte ein achtloser, Gas gebender Lebensmüder, mir mal eben die Vorfahrt nehmend und mich zur Vollbremsung zwingend, knapp einen Meter vor meiner Stoßstange vorbei.

Er wollte eben schnell vom Zubringer der Autobahn kommend quer durch das alte Stadtviertel sausen. Verständlich. So wie die Schlange, in die ich mich gleich einreihen werde, mal eben aus dem Stadtviertel heraus oder zum Autobahnzubringer hinauf, sich in die entgegengesetzte Richtung bewegte.

Ich fahre dicht hinter ihm.

Im Rückspiegel fühle ich den nachfolgenden Verkehr, der beobachtet, was sich abspielte. Ich blinke den Raser mit Fernlicht an. Er bremst kurz.

„Der fühlt sich wohl noch schikaniert“, begehre ich innerlich auf, hupe und blinke, damit er kapiert, dass er das keinesfalls noch einmal machen sollte, wenn ihm sein Leben lieb ist! Ob er es begreift, weiß ich nicht.

Letztens gab es so eine Szene im Kreisverkehr. Da fuhr doch tatsächlich ein Fahrer links von mir in den Kreisverkehr und nahm mir die Vorfahrt, ich hupe, er hupt zurück, wettert in seinem Auto sitzend, sieht mich böse an und ich dachte nur:

„Hoffnungsloser Fall!“

„Eingebaute Vorfahrt, oder was?“

Natürlich hatte ich Vorfahrt. Er kannte sich wohl nicht aus. Er stand vor mir in der Schlange. Ich steige aus und gehe zu ihm, klopfe an die Scheibe und sage höflich:

„Bitte passen Sie das nächste Mal auf. Sie müssen hier die Vorfahrt von rechts in diesem Kreisverkehr achten.“

„Was für ein Quatsch!”, erwidert er unbelehrbar. Fährt fort mit seiner platten Rechthaberei:

Ich habe Vorfahrt!“

Ich gehe mir einen weiteren Kommentar verkneifend und nachsichtig lächelnd zu meinem Auto zurück. 30 Meter weiter, kurz vor der Ampel, kommt er nun seinerseits an mein Auto geeilt. Ich lasse lässig das Fenster herunterfahren:

„Ja, bitte?"

„Entschuldigung. Tut mir leid. Sie hatten Recht. Danke!“

„OK, kann mal passieren!”, erledige ich das Gespräch freundlich und nicke lässig.

Er eilt zu seinem Auto zurück, muss es zwei Meter weiterbewegen.....

Ich komme einigermaßen pünktlich zur 1. Sitzung. Frederice ist heute die erste Patientin.

Den Mantel um sich schlagend, will sie gerade schellen. Ich parke das Auto. Sie nimmt mich aus dem Augenwinkel wahr, nimmt den Arm, mit dem sie klingeln wollte, herunter und schlingt ihn wieder um ihre magere Figur, dreht sich zu mir.

„Hallo!”, ruft sie freudig.

„Ja, guten Morgen!”, rufe ich nach meiner Tasche greifend und das Auto abschließend, den Kopf in ihre Richtung wendend, zurück.

Nach der zweiten Sitzung hatte sie voller Überschwang wohl des Abends auf den Anrufbeantworter der Praxis letzte Woche gesprochen. Meine Sekretärin hatte es mir vorgespielt:

„Das glaube ich nicht. Es ist ein Wunder geschehen!!! Mein Vater rief mich ein paar Stunden nach unserer letzten Sitzung an! Das hat er noch nie getan! Ich bin so glücklich, dass können Sie sich nicht vorstellen! Danke! Danke! Danke!”, hatte sie auf den Anrufbeantworter gejubelt.

Dies kommt zwar als Reaktion von Patienten auf Therapieergebnisse und Entwicklungen im Nachhinein nicht selten vor, ist aber immer wieder schön zu hören. Auch dann, wenn es nur Tageserfolge sind und sich oftmals noch ein Rattenschwanz an psychotherapeutischer Arbeit anschließt. Tatsächlich geht es oftmals darum, dass sich Vater, Mutter oder auch Geschwister oder Großeltern plötzlich und außerplanmäßig melden. Wenn meine Sekretärin sich mittags noch an solche Mitteilungen oder Beifallsbekundungen erinnert, spielt sie mir schon mal die eine oder andere vor. Falls sie die abgearbeiteten Nachrichten nicht sofort löscht. Denn der Anrufbeantworter ist immer bis zum Anschlag vollgesprochen. Vor ein paar Monaten erhielt ich eine Postkarte, die sich gleichfalls in der Praxis stapeln, aus dem Himalaya: Darauf stand u.a.:

„Es ist genauso wie Sie gesagt hatten! Ich gehe jetzt Wege, die noch niemand ging. Sie sagten das damals irgendwie anders, aber das habe ich vergessen! Aber den Sinn habe ich niemals vergessen! Ihre Worte begleiten mich! Mir geht' es sehr gut! Ich melde mich mal!" Ich musste lachen und erst einmal den Namen entziffern, wer mir denn da so enthusiastisch vom Dach der Welt geschrieben hatte. Dann fiel mir ein, was ich gesagt und wem ich es gesagt hatte:

„Singe ein Lied, das noch niemand vor dir gesungen hat...", passte ich dann ihren Satz an das Original von Paramahansa Yogananda an. Nun, der Ort, an dem sie sich aufhielt, passte zu dem Urheber dieses Gedankengutes! Und sie meldete sich und lud mich zu einem Debüt ihrer Reportage ein, die sie für ihre Forschungsarbeit gebraucht hatte. Sie entfaltete weitere Aktivitäten, um Menschen, die fast nichts haben, helfen zu wollen!

„Ich bin gespannt, was Frederice heute erzählen wird“, huschte durch mich hindurch.

Ich bereite den Tee vor, sie sitzt bereits mitteilungsbereit im Therapiezimmer. Sie schaut aus dem Fenster auf die großen Bäume und lauscht den Vögeln durch das noch offene Fenster.

Vogelgezwitscher.

Ist doch immer wieder schön.

Sie hatte den Mantel blitzschnell aufgehängt und ihre Schuhe ordentlich an die Wand gestellt und strahlt mir entgegen als ich mit dem heißen Tee ins Zimmer komme, wendet ihren Kopf dann aber wieder dem Gesang zu.

Ich schließe das Fenster.

Es ist kalt im Zimmer geworden. Die Luft mus sich erst einmal wieder erwärmen.

„Frau Doktor, das glauben sie nicht...! Mein Vater hat mich abends noch angerufen! Das grenzt an Zauberei!“

Ich lächle.

„Ja, diese Art von Zauberei erlebe ich häufiger, wenn ich mit Menschen hier in diesem Raum so, also mit gestalttherapeutischen Methoden, arbeite. Da habe ich schon tolle Sachen gehört...“

„Meine Mutter wurde sofort böse und meinte, das gäbe es doch gar nicht! So ein Quatsch! Ich soll mich mal wieder einkriegen...! Das sei ja lächerlich...! Aber ich habe mich nicht einschüchtern lassen...“, berichtet sie munter weiter, „auch nicht als sie meinte, dass ich sie ja jetzt nicht mehr brauchen würde! Sie macht immer Schuldgefühle, wissen Sie...!“

„Ihre Mutter hat sich nicht gefreut, dass Sie und Ihr Vater zusammen gesprochen haben? Habe ich das richtig verstanden?“

„Ja, wir haben ja nicht nur zusammen gesprochen, sondern er hat mich angerufen!!! Das war ja der Hammer! Das war noch nie da! Ich bedeute ihm also doch etwas...!“

„Das freut mich sehr für Sie! Das ist ja eine Wunscherfüllung!“, freue ich mich mit ihr. Sie strahlt wie die Sonne persönlich und ich frage:

„Wie verlief denn das Gespräch mit ihrem Vater?“, um mal vom emotionalen Ereignis zu Inhalten zu kommen.

„Nun, er hat mich gefragt, wie es mir geht! Genauso, wie ich es mir gewünscht hatte. Ich habe ihm dann erzählt, dass ich Sie gefunden hätte und dass ich nun meine Therapie bei Ihnen beginnen würde..., und er versprach, mich jetzt weiterhin genauso anrufen zu wollen, wie ich es mir gewünscht hatte in der Sitzung...! Ich habe ihm nämlich erzählt, was ich in der letzten Sitzung getan habe! Also, dass ich mit ihm hier, sozusagen in seiner Abwesenheit, gesprochen habe...! Ihm mein Herz ausgeschüttet habe“, bringt sie stolz und glücklich mit hellem Stimmchen wie Glockenklang hervor.

„Das freut mich für Sie! Sie sind ja ganz aus dem Häuschen...“, sage ich noch einmal mit voller Freude über ihre Freude.

„Dass kann man wohl sagen! Wenn das kein Erfolg und kein Fortschritt in der Beziehung zu meinem Vater ist, dann weiß ich es nicht...! Meine Mutter reagierte sofort eifersüchtig. Vermutlich auf meinen Vater und auf Sie, Frau Doktor. Sie hatte ganz schlechte Laune, zog ein Gesicht, dass einem alles hätte verhageln können - hat es aber nicht. Ich habe mich nicht beeindrucken lassen...!“

„Ihre gute Laune haben Sie behalten, wie ich sehe...!“

„Ja, in dieser Woche ist mir zum ersten Mal seit Wochen wieder wohler. Ich hatte keinen Kotzanfall! Ich musste nicht brechen gehen! Ich bekomme das Gefühl, doch alles, was ich in meinem Leben erledigen und schaffen muss, auch schaffen zu können! Ich fühle mich leichter. Mein Vater war auch ganz glücklich. Nach dem Telefonat mit ihm bin ich nämlich zu meinen Eltern gefahren und dann kam es zu dieser Situation mit meiner Mutter in der Küche, die ich gerade erzählt habe...“

„Sie waren ja schon einmal bei einem Psychotherapeuten, wenn ich mich recht erinnere. Es stand, glaube ich, im Anamnesebogen. Ach nein, Sie hatten nach der ersten Sitzung über ihn gesprochen, jetzt fällt es mir wieder ein!“

„Ja, aber der machte eine Verhaltenstherapie. Aber die Methode hat mir nicht geholfen. Ich kam einfach nicht weiter. Es hat mir nichts gebracht...“

„Hm, aber Verhaltenstherapie kann am Anfang bei Essstörungen ganz gut helfen...!“

„Nein, mir hat der Therapeut nicht geholfen. Er sprach kaum. Ich habe ihn als kalt und distanziert erlebt...“

„Es ist ihnen wichtig, was andere über Sie denken oder meinen, oder? Ich meine, dass ist natürlich für alle Menschen wichtig, aber für Sie besonders, oder?“, nehme ich meinen Eindruck auf und spiegele ihn.

Ihre Augen blicken direkt in meine, halten sie fest und sie erzählt weiter:

„Ja, in bin ja die Älteste. Meine Mutter hat mich früh schon mit in den Alltag und Ablauf in der Familie eingespannt, also als Omi und Opi nicht mehr nachmittags kamen. Da war ich noch ziemlich klein, 9 Jahre vielleicht. Ich musste einkaufen gehen am Nachmittag, auch Essen kochen und wehe mir, es war etwas nicht so, wie meine Mutter es aufgetragen hatte! Wenn Omi und Opi hörten, dass ich Streit mit meiner Mutter hatte, nahmen sie mich oft gegen sie in Schutz. Wenn sie dann aus dem Haus waren, ging es erst richtig los. Meine Mutter beschimpfte mich, schlug mir ins Gesicht, was ich mir denn einbilde, ihre Mutter und ihren Vater um Schutz zu bitten. Was ich meistens gar nicht brauchte, weil sie es von sich aus taten. Sie überlagerte mich mit ihren Sorgen und beklagte sich, dass ihr niemand zuhöre. Und wie unmöglich mein Vater sei, der doch heute schon wieder in der Praxis irgendwas gemacht hätte, was sie nicht gut heiße...! Sie bezeichnete ihn als unfähig und als das Hinterletzte. Er würde ihr auch nie zuhören, so wenig, wie ich.

Keiner‘ versteht mich!

Keiner‘ liebt mich‘!

waren ihre Standardsätze. Eine Gebetsmühle, die jeden Tag hunderte von Runden in Betrieb war. Meine Mutter und mein Vater stritten sich oft. Wenn er abends müde nach Hause kam, machte sie mit ihm weiter. Ich war dann aus dem Schneider. Es sei denn, sie beklagte sich über mich bei ihm! Meine Mutter ließ an niemanden ein gutes Haar. Auch an Omi nicht. Der wirft sie immer vor, nichts für sie zu tun und nichts für sie getan zu haben. Dabei war sie jahrelang im Haushalt und hat uns versorgt...“

„Hat ihre Mutter mal eine Psychotherapie gemacht?“

„Nein. Ich habe ihr das nicht nur einmal geraten, sondern zig Male. Es wäre gut gewesen, sie hätte mal ihre Probleme mit meinem Vater mit jemand Drittes besprochen. Sie tut mir da aber auch wirklich leid! Ihre Freundinnen sind da nicht die Richtigen. Die glucken immer zusammen und jede übertrumpft die andere, wie schlecht und schwer sie es hat. Mein Vater hört auch nicht zu. Er nimmt auch von sich aus nicht unbedingt Kontakt zu anderen in der Familie auf...“

„Ihr Vater ist eher ein zurückgezogener Mann?“

„So kann man das auch wieder nicht sagen. Außerhalb der Familie ist er anders...!“

„Wie?“

„Er ist charmant, kommunikativ, lustig, hört anderen zu und nimmt den Gesprächsfaden auf..., ist rücksichtsvoll und einfühlsam. Er ist eben ein Grieche!“

„So hätten sie ihn auch gern als Vati, und auch mit einem mehr griechischen Charakter oder Wesen, wie man so sagt?“

„Ja, das wäre schön. Aber vielleicht entwickelt sich das ja jetzt so zwischen uns. Nachdem er letzte Woche tatsächlich von sich aus angerufen hat...“

„Ja, vielleicht hat er ihr Herz gehört oder gespürt...!“

„Jaaah“, sagt sie gedehnt, als hätte sie die Welt umrundet, und das hatte sie ja auch in gewisser Weise.

„Ein neuer Anfang!”, bestätige ich ihr ,Jaaaah‘.

„Was meinen Sie, was ist der Grund, dass ihre Eltern sich so oft streiten?“, frage ich nach einer Weile.

„Ach‘ meine Mutter arbeitet zu viel“, lapidar daher gesagt, führt sie fort: „Zumindest sagt sie das immer. Aber sie will auch nicht Zuhause, bei den Kindern bleiben. Sie hat so ein niedriges Selbstbewusstsein und über die Arbeit in der Praxis baut sie sich ein wenig auf. Aber, wie gesagt, für mich hieß das immer, ich musste mithelfen zu Hause und Arbeiten übernehmen, die sie so, mit ihrem Job, nicht schaffte.“

„Und ihr Bruder? Der ist doch knapp 2 Jahre nach Ihnen geboren worden?“

„Ja, aber der war nie der Große oder der männliche Thronfolger, so wie ich...! Meine Mutter machte mich immer verantwortlich das macht sie heute noch...!“

„Wie meinen Sie das? Verantwortlich?“

„Na, meine Mutter hat mich zu ihrer Vertrauten gemacht, von klein auf. Victor stand immer in der zweiten Reihe. Er war immer eifersüchtig auf mich! Bis heute ist das so...!”, erzählt sie schleppend. Macht einer Pause, schaut aus dem Fenster.

„Wenn ich mal nicht so parierte, wie meine Mutter sich das vorstellte, dann wurde er mir als Beispiel vor die Nase gesetzt. Dann gab es Liebesentzug von meiner Mutter. Aber der ging vorüber und dann war mein Bruder wieder der Dumme. Der, der hinter der Ecke stand und Gespräche belauschte und sich wie ein Vögelchen aufgeschreckt beschämt zurückzog, kam ich oder meine Mutter um die Ecke...!“

„Hm, ich hätte ja gedacht, sie beide, ihr Bruder und Sie, hätten eine gute Beziehung gehabt, so nah, wie sie nacheinander geboren wurden?“

„Nein. Nur in der Pubertät gab es mal eine kurze Phase der Nähe, der Vertrautheit. Victor hatte als erster die Essstörung. Er vertraute sich mir an und dann hatte ich auch den Mut, über meine beginnende Essstörung zu ihm zu sprechen...“

„Wie jetzt, Ihr Bruder hatte als jüngeres Kind zuerst die Essstörung?“

„Ja, er hatte bereits seit seinem 9. oder 10. Lebensjahr Probleme mit dem Essen. Bei mir fing das so mit 12, 13 Jahren an...“

„Und, hatten Sie etwas davon bemerkt, dass ihr Bruder diese Essstörung hat?“

„Nein, er war es, der mich ansprach...“ sagt sie gedehnt. Nach einer kleinen Pause führt sie aus:

„Meine Mutter hat ihm keine große Bedeutung beigemessen und ich tat es auch nicht. Meine Mutter und ich waren ja immer eine Front. Mein Bruder bekam oft Wutanfälle, demolierte die Wohnung, wütete in seinem Zimmer herum. Schon als er noch klein war. Er ist emotional gestört. Er hat eine Borderline-Diagnose“, setzt sie fachmännisch hinzu.

„O.k.“, bemerke ich meinerseits weniger fachmännisch und frage nach, woher sie das denn wüsste.

„Victor war schon in allen möglichen Kliniken und Behandlungen. Die Ärzte haben die Diagnose gestellt...!“

„Wie geht es ihm heute?“

„Seine Freundin hat ihn gerade aus der Wohnung geschmissen, weil er die Einrichtung der gemeinsamen Wohnung zerlegt hat. Jetzt weiß er nicht, wohin. Meine Eltern wollen ihn nicht mehr zu sich nehmen, nicht mehr bei sich haben. Sie haben die Schnauze voll, wie man so sagt. Sie haben zig Mal die Polizei geholt, ließen ihn ins Krankenhaus bringen, weil er echt bedrohlich ist. Er steht nicht selten mit einem Messer in der Hand in der Wohnung und tobt. Schlägt mit dem Messer um sich. Mein Vater hat sich dann meistens aus dem Staub gemacht! Schließlich ist er Arzt! Er will nicht in Misskredit kommen...!“

„Wie bitte?“, frage ich ungläubig und wiederhole:

„Ihr Vater geht dann aus dem Haus?“

„Lässt ihre Mutter mit dem tobenden Sohn allein...?“

„Ja, er vertritt den Standpunkt, meine Mutter hätte uns erzogen und nun solle sie mal sehen, wie sie mit uns klar kommt.“

„Aha!”, rutscht mir verblüfft heraus, und lasse das väterliche Erziehungskonzept und ebenso seine Haltung als Vater bedeutungsvoll im Raum nachschwingen, weil ich erst mal nichts dazu zu sagen weiß, respektive jetzt noch nichts dazu sagen möchte.

„Das ist auch ein Standpunkt!“, ergänze ich knapp. Sage aber sonst nichts dazu, außer:

„Ihre Mutter hat sich in solchen Situationen aber sehr allein gefühlt, oder?“

„Ja, meine Mutter war dann immer fix und fertig. Meisterte aber irgendwie die Situation. Ich half ihr dann immer!“

„Wie sah das aus? Was mussten Sie machen?“

„Nun, meine Mutter sprach beruhigend auf Victor ein, versuchte ihn in Schach zu halten und ich rief die Polizei oder den Krankenwagen, je nachdem..., und dann eilte ich meiner Mutter zu Hilfe...“

„Und da hat ihre Mutter keine Bedenken gehabt, so, wie ihr Vater? Also, was man über die Familie denken oder sagen könnte?“

„Doch, natürlich hatte sie das! Aber sie musste zusehen, wie sie jeweils derartige Situationen unter Kontrolle bekommt, damit mein Bruder nicht noch jemanden in der Familie absticht...!“

„Ja, das verstehe ich", sage ich einigermaßen gefasst und sachlich, mich der eher nüchternen Schilderung Frederices auf Augenhöhe sachkundig angleichend und mich darauf verlegend, wie ein Adler von oben die Maus im Feld ins Auge zu fassen, und Frederice nun meinerseits nicht durch Entsetzen noch zu verunsichern. Angst hatte sie von den Zehen- bis zur Haarspitzen. Aber für mich allein parallel die geschilderte Situation emotional innerlich abtastend, die überquellend vor grausamer Angst, Sorge und Verzweiflung, die in solch entscheidenden Minuten oder länger in Frederice, ihrer Mutter und dem Bruder getobt haben müssen, und sie sortierend, so gut es geht. Zusätzlich notiere ich, dass Frederice und ihre Mutter einerseits als Einheit und andererseits der Bruder allein auf einsamer Flur und ausrastend in solchen Situationen einander gegenüber standen, und ich noch nicht genau weiß, warum. Was war der Grund für derartige Exzesse?

„In dem Augenblick war es wichtig, dass niemand verletzt wurde...! Da war ihr auch ihre Scham egal!“, stößt sie abgehackt hervor.

Pause.

„Ja, so sieht es aus. Denn dann hätten wir ja vielleicht noch in der Zeitung gestanden. Und dann wäre der gute Ruf wirklich zerbrochen gewesen und mein Vater hätte seine Praxis einpacken können...! So was spricht sich hier schnell herum...!“

„Entschuldigung: Ihr Vater hat seine Praxis nicht in der Stadt, wo Ihre Eltern wohnen?“, frage ich etwas irritiert dazwischen, weil die Ortsangaben von Praxis und Wohnort, wie ich sie in der Erinnerung hatte, hatte, nicht zusammen passten.

„Meine Eltern sind umgezogen, als Victor ungefähr acht und ich zehn Jahre alt waren. Früher lagen Praxis und Wohnort weiter, erheblich weiter, von einander entfernt. Mein Vater hat früher in einer Klinik gearbeitet und dort eine Ambulanz im Rahmen seiner Tätigkeit aufgebaut. Als er die Klinik verließ, eröffnete er in der gleichen Stadt eine Praxis, um seine Patienten weiterhin betreuen zu können. Aber meine Eltern wohnten nicht dort, wie gesagt. Mein Vater hatte schon jeden Tag eine ziemliche Fahrerei auf sich zunehmen. Heute liegt alles näher zusammen, weil meine Eltern ein neues Haus bauten. Meine Großeltern zogen dann auch näher zu meinen Eltern als die Zwillinge, die Mädchen, geboren wurden. Meine Mutter brauchte da wieder ihre Unterstützung", erläutert sie und fügt an:

„Die haben aber auch wirklich einiges auf sich genommen trotz ihres Alters“, verfällt sie in Erinnerungen, die an ihr emotional vorüberziehen, wird weich und wohlwollend in ihrer Stimme, aber auch bedauernd und dankbar im Blick. Sie fährt fort:

„In der Zwischenzeit hatte ich sehr viel im Haushalt mit Aufräumen und Saubermachen zu tun. Da ich auch noch Kochen musste, hatte ich direkt nach der Schule auch noch den Einkauf zu erledigen. Das war so ungefähr von meinem neunten oder zehnten Lebensjahr bis das ich fünfzehn Jahre alt war der Fall. Und alles neben der Schule her! Meine Mutter arbeitete von morgens bis spätnachmittags in der Praxis. Wenn ich aus der Schule kam hatte ich erst einmal keine Zeit für Hausaufgaben, sondern hatte Hausarbeit zu machen. Schulaufgaben habe ich erst dann gemacht, wenn alles einigermaßen erledigt war für Haus und Familie. Mein Bruder half nicht. Der ging in sein Zimmer und machte die Tür zu", erzählt sie, als sei es selbstverständlich, dass Kinder derartiges tun.

„Danke“, sage ich zu ihr und komme dann noch einmal auf die prekäre Situation zurück, von der sie zuvor berichtete:

„Kommen wir zurück zu Ihrer Schilderung: Verstehe ich das richtig, Ihrer Mutter ging es in solchen Augenblicken, wenn Ihr Bruder drohte durchzudrehen, gar nicht um Ihren Bruder, sondern darum, nicht in der Zeitung zu stehen?“, frage ich bemüht um Sachlichkeit nach.

„Ja, und das ist auch noch heute so. Jetzt drehen sie am Rad, weil er von seiner Freundin hinausgeworfen worden ist. Mein Bruder hat auch schon bei mir angerufen. Aber ich habe doch keinen Platz! Ich habe nur ein kleines Zimmerchen. Wie soll das den gehen? Ich weiß nicht, was er sich vorstellt. Aber davon abgesehen, habe ich keinen Bock, dass er sich bei mir einquartiert. Er geht mir auf die Nerven. Stiftet nur Unruhe, die ich nun wirklich nicht gebrauchen kann.“

„Welche Gründe gab es denn, dass Ihr Bruder so aggressiv wurde?“

„Nun, der ist doch krank! Da kann er gar nichts für! Er dreht dann eben einfach durch...!”, höre ich dann weniger fachmännisch, dafür aber die Familienabwehr trapsen.

„Ach‘ so, Sie meinen, weil er eine Borderline-Diagnose hat, haben er oder andere Menschen mit gleicher Diagnose keine Verantwortung?“

„Ja.“

„Können Sie sich denn erinnern, was denn so ein Auslöser war, dass Ihr Bruder in einen solchen aggressiven Zustand kam...?“

„Ja, das kann ich. Er ist immer eifersüchtig, fühlt sich zurückgesetzt. Klagt, dass niemand ihm zuhöre und ihn liebe. Außerdem geht es im gehörig auf die Nerven, weil er keine Ruhe im Haus bekommt. Dauernd ist irgendetwas los!“

„Gut. Das habe ich heute schon mal gehört! Also, von eifersüchtigen Gefühlen in ihrer Familie. Nämlich über die Eifersucht Ihrer Mutter, oder erinnere ich jetzt etwas falsch?“

„Nein, sie haben Recht! Sie erinnern das richtig! Meine Mutter sagt das auch immer, dass ist ja ihre Gebetsmühle: Keiner liebt sie. Keiner kümmert sich um sie. Sie bekäme keine Ruhe. Alle wollen was von ihr. Keiner hilft ihr...!“

„Und, hatte Ihre Mutter auch schon mal ein Messer in der Hand?“, frage ich, mal eine einfache und direkte Übertragung, die ich selber erst mal nicht so unterstellen würde, abfragend.

„Ja. Schon oft! Wenn sie mich oder meinen Bruder erpressen will, oder zu etwas bringen will, was wir nicht wollen, dann schneidet sie sich in die Arme, die Unterarme...!“

Sie erzählt dies wie das Selbstverständlichste von der Welt und führt weiter aus:

„Als ich mit 18 Jahren mal 14 Tage mit meinem damaligen Freund in den Urlaub fahren wollte, erpresste sie mich damit, dass sie sagte:

'Ich schneide mir die Arme auf, wenn du fährst! Du fährst nicht! Du machst, was ich dir sage...! Du steckst deine Füße unter unseren Tisch und du bleibst hier. Schließlich hast du hier Arbeiten zu verrichten! Du kannst mich doch nicht im Stich lassen...!“

Pause.

„Ich bin dennoch gefahren. Es war ein Super-Urlaub. Als ich wieder da war, gab es einen riesigen Streit. Sie zeigte mir ihre verbundenen Unterarme, die Stiche und Schnitte, die sie sich zugefügt hatte, in dem sie den Verband abwickelte...“

Ich höre zu, verfalle in Schweigen, stelle mir die Szene vor und spüre, wie mir übel wird..., versuche nachzuspüren und nachzufühlen, wie meine Patientin doch relativ seelenruhig diese Szene berichten kann.

„Wie häufig muss ein Mensch etwas Derartiges erlebt haben, um letztlich abzustumpfen? Wie kann ein solches Desaster zur Normalität degenerieren?“, frage ich mich.

„Das haben Sie gut gemacht, sich nicht erpressen zu lassen und dennoch in den Urlaub zu fahren...“, versuche wieder zusammenzufügen, was in der Patientin im Laufe der Jahre auseinander gefallen, oder gar zerbrochen ist.

„Ja, das finde ich auch...! Aber was ich innerlich für Schuldgefühle habe, die mich jeden Tag mehrmals zum Klo laufen lassen, möchte ich jetzt gar nicht erinnern. Das war und ist nicht einfach!“

Gott sei Dank, denke ich bei mir, war es nicht einfach. Einen Moment hatte ich Sorge, sie sei in Gefühllosigkeit versunken. Hätte ihre Gefühle, ihre Angst und Verzweiflung irgendwo in die Ecke gestellt oder sei einfach darin untergegangen, fortgeschwemmt worden.

„Aber, liebe Frederice, wenn ich Sie hier einmal mit Ihrem Vornamen ansprechen darf", und ich sehe, sie nickt zustimmend, „Sie haben Ihre Gefühle behalten! Sie haben Ihr Recht behalten, auch Nein sagen zu können. Und sie haben sich das Recht erhalten, Ihre Gefühle auszudrücken, so irritierend sich das jetzt hier auch anhört: Sie kotzen alles wieder aus, was sie schlucken sollten, wenn es nach Ihrer Mutter und nach Ihrem Vater ginge, wenn ich das recht verstanden habe...!“

„Ja, so habe ich das noch gar nicht gesehen...! Sie haben Recht. Das ist meine Gegenwehr oder Abwehr, oder wie man das nennt, gegen das, was in unserer Familie vor sich geht...“, sie richtet sich in ihrem Stuhl auf, strafft den Rücken und schaut mir wieder direkt in die Augen. Ernst. Nachdenklich. Dann lächelt sie:

„Gut, dass ich mich übergeben kann! Ich weiß‘ gar nicht, was mit mir passiert wäre, wenn ich das nicht gekonnt hätte!“

„Ja“, bestätige ich ihr, „dass können ihre Mutter oder ihr Vater Ihnen nicht einfach verbieten. Da spricht Ihre Seele Klartext. Mobilisiert ihre Psyche und ihren Organismus!“

Entspannt lächelt sie mich an und meint dann:

„Ich sagte ja schon, ich habe seit der zweiten Sitzung bei Ihnen nicht mehr erbrochen. Vielleicht hat das ja was damit zu tun, das ich jetzt sprechen darf und Sie hören mir zu!“

„Kann sein...!”, und denke an die von ihr benutzte Formulierung ,übergeben‘.

So, ich glaube, dass war es für heute. Oder?“, schaut sie mich fragend an.

„Ja“, stimme ich zu und frage:

„Wie wäre es mit einer Hausaufgabe? So ein bisschen üben könnte ja nicht schaden?“

„Ja, gern!“

„O.k.! Wie wäre es, wenn Sie die nächsten sieben Tage mal mit dem Wort, welches Sie vorhin benutzt haben, operieren? Nämlich mit Übergeben? Wenn sie dieses Wort in seiner Bedeutung ein bisschen ausweiten würden: Übergeben nicht nur im Sinne von ausbrechen oder kotzen zu denken und zu benutzen, sondern auch bei anderen Gelegenheiten, wenn Sie jemanden etwas mitteilen, mit ihm sprechen, oder Aufgaben und ganz real Dinge ÜBERGEBEN?“

Frederice schaut mich verdutzt an, die Bedeutungen natürlich vom Wortfeld her kennend, aber, sie für sich nicht mit diesen Bedeutungen emotional gefüllt habend, wie ich an ihrem Gesicht ablese und sagt dann:

„Ja, ich kann es ja mal ausprobieren“, und ich spüre, während sie spricht, wie verschiedene Situationen mit unterschiedlichen Menschen in ihr ablaufen und sie reflektiert und Ecken und Kanten spürt, „ja, mache ich!“

„O.k.!“, stimme ich zu und setze nach, „schreiben Sie sich dies auf ein Blättchen Papier und stecken Sie es sich an einen Ort, vielleicht eine Hosentasche, mit dem Sie öfter am Tag in Berührung kommen. Dann haben Sie eine kleine Erinnerungshilfe“, sage ich mit Bedacht, wohlwissend, wie schnell so einleuchtende, aber in diesem Falle unbequeme Aufgaben, vergessen werden können. Zumal diese kleine Aufgabe direkt an ihren Grundbausteinen von Beziehung in vielfacher Hinsicht rütteln, die mit vielfältigen Emotionen

Wir verlassen das Therapiezimmer, vereinbaren einen weiteren Termin. Tag und Uhrzeit sind nun geklärt. Mir ging durch den Kopf, dass ich von meiner Sekretärin nichts in Bezug auf die erste Rechnung gehört hatte.

„Ach, sagen Sie, wir müssen aber noch einmal über die Kosten für die Psychotherapie sprechen. Ich habe nichts von meiner Sekretärin gehört, ob die Krankenkasse die Rechnung erstattet hat...“, erinnere ich mich und denke an meine Sekretärin, die mich gebeten hatte, nachzufragen bei der Patientin, ob sich was getan hat.

„Ich habe meiner Mutter die Rechnung gegeben. Sie wollte die Rechnung einreichen. Ich habe auch noch nichts gehört!“

„Hm, dann hat sich das vielleicht etwas verzögert...“, setze ich beruhigend und ahnungslos hinzu.

„Ja, wird wohl nächste Woche werden, bis die Kasse reagiert“, sagt sie leichthin. Ich belasse es dabei. Sie fährt fort:

„Mein Vater hat ja gesagt, dass er sonst zuzahlen werde. Machen Sie sich keine Gedanken, dass geht schon in Ordnung...“

„Na, ich mache mir Gedanken um Sie, weniger um mich...“, sage ich freundlich zurück:

„Es ist Ihre Angelegenheit, dies zu klären. Mit wem auch immer...!“, fasse ich zusammen und dann doch noch einen Nachsatz anfügend, weil die Information so barsch klang und so nicht gemeint ist, „ich habe auch keine Möglichkeit dies zu klären. Es ist eine Angelegenheit zwischen Versicherungsnehmern und Krankenversicherungen. Aber ich helfe Ihnen gern, wenn Fragen auftauchen sollten!“

„Und die Unterschiedlichkeit der Haltung der Eltern in Bezug auf Geld? Sie bekommt lediglich 400 Euro von ihren Eltern, aber der Vater zahlt ohne Murren eventuell Kosten der Therapie, wenn die Krankenkasse nicht zahlt“, bleibt innerlich in mir hängen.

Abwarten. Vielleicht ein mir noch nicht einsichtiges Erziehungskonzept, a là, elterlicherseits zu den Ausbildungskosten beizutragen, auch wenn sie so niedrig wie bei Frederice sind, und derart fördern, und, wenn es um Dinge geht, die zusätzlich zu bezahlen sind, das Geld nicht in Hände der Tochter legen? Vertrauen versus Abhängigkeit oder unterstellte fehlende Verantwortung der Tochter durch Vater und / oder Mutter?", flitzt durch meinen Kopf. Nun gut. Abwarten, wie sich diese Mixtur entschlüsselt, „in jedem Falle fordern sie zu viel von Frederice emotional und auch in Hinsicht auf die Lebenshaltungskosten, die sie nun selbst mit Jobs aufstocken soll“, schließe ich diesen Gedankenzyklus vorläufig ab.

Ich sehe, wie sie freudig und leicht ihre Sachen, ihren Schal und ihre Tasche, schnappt.

„Bis nächste Woche“, wir reichen uns die Hände und sie schaut mich nun ruhig mit ihren grünen, strahlenden Augen wie aus Scheinwerfern voll an, und sagt dann sehr ernst:

„Ich danke Ihnen sehr!“

„Schon gut!“, gleichfalls ernst und wissend, was ich in dieser Sitzung geleistet habe und schiebe nach:

„Gern!“, und lächle ich sie, ihr zunickend, an.

Und das ist auch genauso gemeint. Ich mag sie.

Ich schließe die Praxistür, durch die sie flink, und nun schüchtern, huscht, leise hinter ihr zu.

Ich bin ausnahmsweise allein im Büro. Meine Sekretärin ist in der Stadt unterwegs, Besorgungen für den Geburtstag ihrer Tochter ordernd und erledigend. Suche die Akte und schreibe wie üblich den Verlauf der Sitzung, welche Interventionen ich gemacht habe, welche Psychodynamik und welches inhaltliche Thema, bezogen auf wichtige Beziehungsobjekte, bearbeitet wurden, auf. Zum Schluss notiere ich die ihr mitgeteilte Aufgabe, der sie sich bis zur nächsten Sitzung widmen soll. Notiere für mich das Wort ÜBERGEBEN. Was damit gemeint ist, weiß ich sehr genau.

Höre den Anrufbeantworter ab.

Ach, deshalb hat es nicht geschellt, geht es mir durch den Kopf. Die nächste Patientin muss sich um ihre Kinder kümmern, die krank geworden sind. Fiebererkrankung oder Erkältung.

Gut.

„Ich gehe einen Cappuccino trinken!”, beschließe ich mit Blick auf meine Armbanduhr.

In der Nähe ist ein Frühstückscafé. Man kann von dort so schön Menschen beobachten, wie sie vorbeigehen, schnell oder langsam, müde oder fit. Ältere Menschen, Studenten, Mütter, die mit ihren Kindern unterwegs zum Einkauf sind. Im Kinderwagen sitzend, oder an der Hand oder Händen haltend, je nachdem wie viele Kinder sie im Schlepptau haben, ziehen sie gleichmütig oder nervös und eilig vorüber. Oder aber, sie sind mit anderen Müttern im Café verabredet. Ihre Kinder sitzen in Wägelchen, die neben die Tische geschoben, in ihnen gefüttert, betüttelt und begutachtet werden. Kleinkinder, die bereits laufen und zwischen den Tischen herum pesen und krabbeln, lassen die Mütter dem tristen Alltag augenblicksweise etwas entfliehen. Austausch und Beziehungspflege ist schließlich wichtig.

Manche gehen zum Fluss, manche kommen vom Joggen am Wasser zurück und genehmigen sich ein Frühstück oder nach dem Mittagessen einen Spaziergang. Ich sitze gern dort für ein halbes Stündchen oder länger. Frequentiert von Geschäftsleuten, ehemaligen Professoren und Intellektuellen, älteren Menschen, die im Viertel wohnen, die sich für Treffen oder Besprechungen einen Platz reservieren lassen, entsteht eine bunte, großstädtische Atmosphäre.

Auf der Ebene des Cafés sind alle gleich.

Lieben es, sich zu sehen, zu grüßen, zu frühstücken oder mittags ein Essen einzunehmen.

Ungewöhnlich sind die langen Tische, die mit sehr unterschiedlichen Stühlen in der Form, aber in der Farbe gleich, bestückt, zur Tafel bitten. Prompt wurde ein Konzept entwickelt, das mit dem folgenden Spruch angepriesen wird:

„Gegessen wird, was auf den Tisch kommt...!“

Fremde Menschen sitzen zusammen, essen und lernen sich kennen.

Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Spruch „Gegessen wird, was auf den Tisch kommt“ nicht aus meinem anfänglichen Disput über die Mirabellen Marmelade mit Tonkabohnen, die ich durch diese Marmelade lieben lernte, hervorging. Besser, wie es kam, dass der Spruch nun plötzlich wieder in der Welt ist, der schon fast vergessen war.

Dann wäre dieser alte Spruch, der auf einer Karte zum Mitnehmen überall ausliegt, sozusagen neu belebt aus dem kollektiven Gedächtnis geborgen, salonfähig geworden.

Es trug sich das Folgende zu:

In den ersten 4, 5 Wochen nach Eröffnung des Cafés gewöhnte ich mich an die Mirabellen Marmelade und bestellte sie mir jedes Mal zu den kleinen Croissants just diese Marmelade. Eines Morgens war sie nicht vorrätig, am nächsten auch nicht. Es dauerte 14 Tage bis sie wieder zur freien Verfügung stand. Während dieser Zeit hatte ich mit vermutlichen allen Kellnern Gespräche über diese Marmelade geführt. An diesem Morgen war mein Tisch belegt von Müttern und ich saß allein an der großen Tafel, mit dem Rücken zur Theke.

Ein Kellner näherte sich von hinten und brachte mir mein Frühstück, während ich vertieft in einem Buch ganz woanders war, sozusagen gar nicht anwesend.

Überrascht machte ich Platz für Teller, Tasse, Butter und Marmelade. Aber da war nicht meine Mirabellen Marmelade dabei, wie ich sofort fachmännisch feststellte.

„Guten Morgen!”, begann ich, ein wenig ungehalten über den Überraschungsangriff von hinten und der Tatsache, dass meine Marmelade fehlte.

„Können Sie mir bitte die Mirabellen Marmelade bringen? Die anderen Sorten können Sie wieder mitnehmen...“, meinen Wunsch bekräftigend und wohlweislich ahnend, dass sich meine Marmelade immer noch nicht wieder im Repertoire befand.

„Die ist nicht da!”, hörte ich lapidar.

„Warum nicht?”, fragte ich angriffslustig zurück.

„Sie können doch auch mal die anderen probieren!”, wagte er es, mich in meiner Wahl zu korrigieren. Jetzt wurde es schärfer. Solche Gespräche über Wünsche und Bedürfnisse am Morgen zu führen, war mir dann doch zu viel.

Nein! Die Mirabellen Marmelade schmeckt mir am besten, sehr gut sogar, und ich möchte sie zu meinem Frühstück haben!“

Ich witterte, man habe sich in all‘ den Wochen nicht mal ansatzweise um meine Mirabellen Marmelade gekümmert. Einfach ignoriert! Ich fühlte mich beleidigt, alle Lieferschwierigkeiten und Argumente kurzerhand ausschließend, die ich bereits von seinen Vorgängern und Vorgängerinnen, die mich und meine Gespräche über diese Marmelade inzwischen gut kannten, und jedes Gespräch andere Aspekte aus der Dunkelheit von Handel und Produktion hervorlockte. Ihnen gingen langsam die Argumente aus. Wenn ich das Café betrat und die Kellner mich sahen, glaubte ich aus ihren Blicken entnehmen zu können, dass breit und fett Mirabellen-Marmelade auf meiner Stirn geschrieben stünde!

„Ach‘, die Mirabellen-Tante!!!“

„Tut mir leid, sie ist nicht vorrätig. Es müssen auch mal die anderen gegessen werden!“

„Wie bitte?“ Betonung und Stimmlagen aus dem körperlichen Untergeschoss bis zur Turmspitze simultan schwingen lassend, beide Wörter ausreizend und alle zur Verfügung stehende Empörung in sie hineinlegend, ob dieser Frechheit schoss es aus mir heraus:

„Sie meinen doch wohl jetzt nicht, Gegessen wird, was auf den Tisch kommt?”, meinen Wunsch nachhaltig bekräftigend, rief ich empört.

„Schließlich darf man doch erwarten, dass man als Gast wählen kann und bekommt, was man bestellt?“

Er schaute mich irritiert an.

Ich abwartend zurück.

Meine Augenbrauen hochgezogen, Stirn fragend kraus, Pupillen wie einen Laser auf ihn gerichtet, unverwandt. Wartend.

Kein Wort.

Stille.

„Jetzt ist alles möglich“, blitzte es mir durch den Kopf.

„Ich laufe selbst in die Küche um sie zu durchwühlen, weil er sich einen Scherz erlaubt, oder ich fordere die Herausgabe der Adresse des Herstellers..., eines von beiden...!”, schoss mir emotional und völlig hirnlos in den Kopf.

„Heute wird das geklärt!!! Jetzt ist Schluss!!! Ich lass mich doch nicht verarschen!”, werfe ich in mir noch eine Schaufel voll mit Kohlen innerlich ins Feuer, „der spinnt doch! Was erzählt der mir hier?"

Wir schauten uns einfach nur ob‘ dieses nervigen Punktes unser aller Erziehung und Kindheit so unvermittelt heute Morgen wiedererinnernd an. Dann kam, was ich nicht erwartet hätte.

„Ja! Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!”, schoss er mir in einer Mischung hilfloser Bestimmtheit, sich nicht anders zu helfen wissen, was jetzt noch zu sagen oder zu tun wäre, seine Worte entgegen.

„Wie früher Zuhause? Oder wie jetzt?”, hob meine Stimme an, Augenbrauen fliehen gen Hinterkopf und meine Augen wurden gefühlt so rund wie Untertassen.

„Ja“, nun fester in seiner dämlichen Argumentation verfranzt, aber immer noch genauso irritiert.

„Nun, dass ist ja ein völlig neues Konzept!”, meinte ich dann lachend, weil anderes auch nicht mehr möglich schien und der Komik des Inhaltes und Situation nicht entbehrte.

„Ich will jetzt endlich frühstücken“, schoss mir durch den Kopf, „und wenn ich noch einen Satz weitergehe, werde ich meine sieben Sachen raffen und gehen. Dann war es das!”

Also setzte ich druckauflösend, aber dennoch doch das letzte Wort haben wollend, zumal in dieser Angelegenheit, nach:

„Da werden andere Gäste aber sicherlich auch noch ein Wörtchen mitzureden haben!“

Er verpieselte sich schnell, jedem weiteren Disput aus dem Weg gehend.

Ich frühstückte.

Probiere die anderen Marmeladen, ob sie in mir auch das erzeugen konnten, was die andere Marmelade an Wohlbefinden und Leckerschmecken freisetzt. Natürlich nicht! Legte das Thema achselzuckend zu den Akten und vertiefte mich wieder in mein Buch. Bei jedem Biss das Thema wieder erneut schmeckend.

Na, 14 Tage später lag dann diese Karte auf den Tischen aus.

„Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!”, mit Hinweis auf das Essen, was dann auf allen Tischen serviert wird.

Ich ging zu dem fraglichen Kellner, mit dem ich diesen Disput kess aufs Parkett gelegt hatte und stellte halb fragend fest:

„Na, unser Gespräch hat aber die Kreativität beflügelt!?“

Er nickte, lächelte und nahm die Bestellung entgegen.

Von da an gab es jeden Morgen, wenn ich kam, Mirabellen Marmelade.

Ja, und das gefällt mir auch an diesem Café! Die 20- bis 40-jährigen Kellner, manchmal auch Studenten, Geschäftsführerin, Küche und der Inhaber, besprechen offenbar, so schloss ich zumindest, was sich zugetragen hat und setzen es kreativ um: Mit großem Erfolg.

Na bitte, geht doch! Wenn das mal überall so wäre! Dann hätten viele Menschen ein netteres, schöneres Leben, auf das sie ein wenig Einfluss nehmen könnten.

Ich nehme die neueste DIE ZEIT mit, die auf meinem Schreibtisch für mich bereit liegt.

„Was soll dass denn?“, geht mir sofort zur Schlagzeile auf der Titelseite durch den Kopf:

„Generalangriff auf Männer oder Generalamnestie für Männer?”, misstraue ich sekundenschnell der Überschrift im Vorgriff auf das wohl zu erwartende und mitgeteilte Ergebnis im Artikel.

Es gibt doch immer wieder Schwachsinn zu lesen:

„Die Erfindung des bösen Mannes!“

Und weiter: „Unmoralisch, egoistisch, kommunikationsgestört: Wie es kam, dass alles Männliche als schlecht gilt und warum dieses Bild Männern wie Frauen schadet.“

Ich schließe die Praxistür hinter mir. Ich fahre die 800 Meter zum Café um Zeit zu sparen.

Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!!!

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