Читать книгу Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!!! - Irina Melchat - Страница 4
Gericht
ОглавлениеGepresst, mit hochrotem Kopf unter gefärbten, mittellangen blonden Haaren sitzt sie auf der harten Holzbank. Mit den Jahren war sie körperlich auseinander gegangen. Dank ihrer Körpergröße hörte sie oftmals, noch eine recht gute Figur zu haben, die sie heute dezent mit einem dunkelgrauen Hosenanzug unterstrich.
Das weiche und voluminöse ihres Körpers täuscht so sehr wie ihr Mitleid erregender Blick. Die Stirn leidend zusammengezogen, die Augen traurig blickend, nestelt sie mit der linken, auf der Balustrade hilflos wirkenden Hand, an einem zerknüllten Taschentuch. Die rechte umfängt hart, energisch das dunkle, durch Schweiß getränkte Holz. Umkrallt es, die roten Fingernägel in das knorrige, alte Gebälk, das schon Jahrzehnte Lüge und Wahrheit standhalten muss, wenn es darum im Gericht überhaupt gehen sollte, bohrend. Die Knöchel treten durch den von ihren Nerven ausgeübten Druck weiß und blutleer hervor. Hühnergelenke. Die gleichfalls dunkelrot angestrichen Lippen glänzen im nun fahlen und blassen, aber braungebrannten Gesicht schmal wie ein Strich unter der durch die hohen Fenster in den Saal einfallenden morgendlichen Sonne auf.
„Das muss sie sein", denke ich, die Zuhörer in den Reihen in Augenschein genommen zu haben.
Heute soll es wieder genau um dieses Thema, um Lüge und Wahrheit, gehen. So heißen zumindest die Streithähne, die den Motor erschaffen, der verletzte und geschädigte Menschen in Gerichte treibt. Sie wollen zu ihrem Recht kommen. Sie wollen, das Unrecht bestraft wird. Aber im Gericht geht es um Legalität, darum, was Gesetz ist.
Alles wartet jetzt auf die Antwort der jungen Frau, die zusammengekauert auf der Anklagebank sitzt.
Es geht um ihr Leben.
„Treten Sie bitte in den Zeugenstand, Angeklagte!”, schneidet die Stimme des Richters in die vor Spannung knisternde Stille hinein.
Der kalte Sog, mit ihren starren Augen die Aussage der jungen, zarten, dunkelhaarigen Frau in den Kopf, in das Herz schreiben zu wollen, ist sichtbar.
Unwiderruflich.
Buchstabe für Buchstabe.
Als gäbe es eine Tastatur in Hirnwindungen, die hypnotisch erreichbar wäre, tippt sie ihre Antwort ein. Ihren Kopf wie in einem Kernspin fixiert, erhebt sich die Angeklagte mit geradem Rücken, erscheint noch größer, als sie ohnehin mit ihren 1,80 Meter wirkt, schleppt sich hölzern und langsam hinter das sie schützende Pult des Zeugenstands.
Hier gelten andere Gesetze.
Ob es der Wahrheit entspricht, was der Rechtsanwalt der Klägerin gerade mitteilte, fragt der Richter.
„Ja.“
Kurz, knapp, fest und leise.
Zwei Buchstaben.
Sonst nichts.
Das leise ausgesprochene Wort hallt im mucksmäuschenstillen Saal wieder, beginnt in den Ohren der Zuhörer zu dröhnen.
Die beiden Buchstaben formen sich zum Schlüssel, schließen eine finstere Kammer auf.
Im Saal blitzen grell 29 Jahre des Lebens der jungen Frau in Sekundenschnelle konzentriert im zeitraffenden Gedächtnis der Zuhörer auf. Jagen gleißend weiß schemenhafte Fetzen von Leben, gerade noch gekleidet in Bilder, Informationen, Verhalten und Worten, Fakten und Sehnsüchten, verdichtet durch finstere Ganglien und kaum bemerkte Tunnel. Gleich Sternschnuppen auf unsichtbaren Bahnen mit Freude durch die Nacht in schneller Fahrt reisen, formen diese beiden Buchstaben blankes Entsetzens. Gefühle knallen verständnislos an tiefschwarze Wände. Unfasslich.
Zerschellen.
Licht erlischt.
Dunkelheit.
Schock.
Nichts.
Eisige Kälte, Grauen und Einsamkeit, die Schuldgefühle in der Seele der jungen Frau tobend und zermürbend anrichteten, legen sich im Echo dieser beiden Buchstaben unerträglich bleiern auf alle Anwesenden.
Mit gesenktem Kopf dem fixierenden Blick dieser Frau ausweichend, ihn erst auf ihrer Haut im Gesicht, auf ihren Augen, und dann auf ihrem ganzen Körper kriechen und brennen spüren, zucken unwillkürlich ihre starren Schultern, als wolle sie abschütteln, was ihr jahrzehntelang das Leben versauerte.
Tausendmal kotzen gehen ließ.
„Aber nein", jagt durch mich hindurch, als ich mich jetzt endlich selbst wahrnehme, aus meiner Verkrampfung löse, nachfühle, was ich gerade sah, „das war kein Wille! Automatismus der Skelettmuskulatur! Angstvoll zusammenhalten, was droht, auseinander zufallen. Krampf, der sich löst!", atme ich nun dirigiert durch meinen Verstand, ihre Antwort aufnehmend, das Geschehen wahrnehmend, aus. Meine Anspannung nun bewusst spürend, meine Schultern auch wahrnehmend und lösend, die junge Frau fühlend, für sie mitatmend. Sie beatmend. Sie stützend. Tragend. Wiederbelebend. Leben einhauchen. Ummanteln. Schützen. Ein Gefühl, wie im Flugzeug, wenn der Pilot zu niedrig fliegt und ich fühle, ich bin das Flugzeug, ziehe es, mich selbst, höher, weil es sonst den Boden berührt und zerschellen könnte, ich zerschellen könnte, sie zerschellen könnte, atme, bis der Atem zu ihr gelangt, und ich sehe, sie atmet. Lebt. Sie bewegt sich. Rückt den Stuhl, schiebt ihn hinter sich. Erhebt sich. Drückt sich hoch. Gerade.
Hölzern, langsam, zitternd.
Füße tastend auf dem Holzboden.
Wie auf Eis, fühlend, ob es trägt.
Die Frau im grauen Hosenanzug springt plötzlich auf, schreit, vergisst sich.
Irritiert schauen andere Zuhörer sie an, fragen sich, wer das ist.
Was bis gerade noch apart an ihr hätte wirken können, verliert augenblicklich jeglichen Charme.
Jegliche Bedeutung.
Leuchtet nur schrill.
Abstoßend.
Alles, was sie sonst so sehr bemüht ist, aufrecht zu halten, zerbröselt im Ton ihrer Stimme, fällt zu Boden, zertreten, zerstampft, vernichtet. In Anschuldigungen brennt sie die letzten Reste der hart umkämpften Beziehung wütend nieder.
Quält die junge Frau nun öffentlich, statt geheim.
Mit Drohungen der Versagung von Geld, Familie, Geschwistern, von allem, was die junge Frau gern in ihrem Leben gehabt hätte...
„Du Lügnerin!“
„Du verdammtes, undankbares Mistvieh!“
„Wofür habe ich mich geopfert?“
„Immer habe ich alles für dich gemacht!“
„Habe auf alles verzichtet, dir alles gegeben...“
„Gezahlt, gezahlt, gezahlt....!!!“
Sie schreit, der Kopf schwillt zur tödlichen Bombe an. Ohne Luft zu holen zischt sie kalt, dem Ersticken nahe:
„Du bist ausgeschlossen aus unserer Familie.“
„Was sollen denn die Leute hier denken?“
„Du hast mich und deine Familie beschämt.“
„Du darfst nie wieder zu uns kommen!!!“
„Mit dir haben wir nichts mehr zu tun!“
„Du wirst schon sehen, was du davon hast!“
Der Hass der Frau, der Mutter, walzt alle sonstigen Regungen im Saal nieder.
Erstarrt.
Das ist es, was die junge Frau jahrelang erdulden musste.
Die Sonne ist verschwunden. Eisblumen blühen an plötzlich kalten Fenstern, manche ziehen ihren Mantel enger um sich, ziehen die Arme zur Brust.
Nun kreideweiß, atmet die Frau schwer, gönnt sich einen Atemzug, lässt ihre Glieder auf der Bank gehen, wohin sie wollen.
Der Richter, selbst gelähmt von dem lauten Tumult, und offenbar nicht auf ihn gefasst gewesen, besinnt sich, sammelt sich, wird wach.
Reagiert Sekunden zu spät, wirkt fast albern, als er sich nun endlich besinnt.
Er ergreift seinen Hammer und schlägt hart auf den Tisch, obwohl gerade tödliche Stille herrscht, und schreit:
„Ruuuhe!“
Zehntelsekunden später weist er die Gerichtsdiener mit einer Geste an, die Mutter hinauszuführen, die, nun wieder gefasst, lauthals krakelt und kreischt, in Versuchung, die krampfhaft in Händen gehaltene Tasche, die sie ständig wütend hebt und senkt, und in Richtung der jungen Frau schüttelt, auch auf sie zu schmeißen:
„Das habe ich nicht verdient. Schau, was du aus mir machst!!!“
„Jetzt zahle ich auch noch diese Kosten....!“
Die junge Frau ist kreideweiß.
Zu Eis gefroren, setzt sich erneut unter Anstrengung auf der Bank zurecht.
Ihre Ohren von Innen unter großer Konzentration zugehalten, nach Außen ein teilnahmsloses Gesicht ohnmachtsnahe in den Saal schweben lassend, wirkt sie, als könne sie jeden Augenblick in Tausend Stücke zerfallen unter dem Schwall der Beschimpfungen. Wie Häuser im Krieg, die von Bomben getroffen, noch ein paar Sekunden im zeit- und luftleeren Raum stehen und dann, wie von Geisterhand berührt, in sich zusammensacken.
Der Gerichtsdiener bedeutet den Anwesenden, sich zu erheben.
Die junge Frau atmet ein.
Hält ihn an.
Der Richter fällt sein Urteil:
„Die Beklagte wird verurteilt, die Forderung der Klägerin binnen 10 Tagen an die Klägerin zu zahlen. Die Gerichts- und Anwaltskosten trägt gleichfalls die Beklagte.“
Damit ist die Verhandlung geschlossen.
Der Hammer fällt.
Stille.
Sie atmet aus.
Der Kopf fällt zur Brust.
Die Schultern hängen.
Mit den Händen streicht sie erschöpft über ihre geschlossenen Augen.
Reibt sich ihr Gesicht.
Wischt Tränen nachlässig und gleichgültig fort.
Sekunden später erstes Gemurmel.
Bewegung.
Auflösung.
„Gott sei Dank", stoße ich innerlich unwillkürlich ein lautes Dankgebet aus. Die Tränen der Anspannung fließen mir nun unkontrolliert über mein Gesicht.
„Sie hat es geschafft!”, jubelt es in mir.
Jetzt fällt mir ein Stein vom Herzen!
Die Beklagte ist meine Patientin.
Sie hat vor Gericht gegen mich verloren.