Читать книгу Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!!! - Irina Melchat - Страница 6
1. Sitzung
ОглавлениеIch bin auf der sicheren Seite. Biege am Hotel rechts ab. Ich atme aus. Schaffe noch so eben den Beginn der zweiten Sitzung. Parke das Auto. Mache innerlich symbolisch drei Kreuze, heile auf dem Privatparkplatz zu stehen. Schön, dass er nicht von Einkäufern der kleinen, umliegenden Geschäfte in der Straße zugeparkt ist. Oft parken hier auch Menschen aus andern Städten, weil sie mal einen Bummel durchs Viertel nach dem Mittagessen in einem Restaurant am Fluss anschließen wollen.
Nichts ist mehr selbstverständlich. Ja, das Gegenteil ist der Fall. Das, was selbstverständlich sein sollte, ist der Glücksfall, die Ausnahme.
„Eigentlich könnte ich jetzt wieder nach Haus fahren. Der Stau, der Unfall und alle Themen, die mir so durch meinen privaten Kopf, wenn er das denn noch sein sollte, flitzen, reichen an Information für einen Tag", murmeln die Ereignisse noch einmal durch mich hindurch, während ich dennoch die Haustürschlüssel im Schlüsselbund suche. Ich schließe die schwere, helle und stählerne Haustür auf, stemme mich gegen sie, weil ich mal wieder beide Hände voll habe mit Blumen für die Praxis, einer Tüte mit frisch gewaschenen Handtüchern und Trockentüchern, meiner Handtasche und meinem Mantel, den ich jetzt nur über die Schulter geworfen habe, weil mir die Kälte des Tages jetzt wirklich egal ist.
Ich bin froh, zu leben.
Ich habe noch 10 Minuten, dann müsste der zweite Patient vom heutigen Tage klingeln. Den ersten musste ich durch meine Sekretärin absagen lassen. Es gab Stau auf der Schnellstraße. Ein Unfall ließ die Zeitkalkulation für die Anfahrt zersplittern wie ein auf Steinboden gefallenes Glas. Peng!
Die Anfahrt dauerte sage und schreibe 80 Minuten. Das ist einmalige Spitze! Normal sind 15 bis 20 Minuten, abends 10.
Schnell die Blumen anschneiden und in die Vase dekorieren. Das Wasser für den Tee beginnt im Geiser zu summen. Die Handtücher stelle ich im Sekretariat ab. Schnappe mir zwei Tassen, trage sie ins Therapiezimmer. Es schellt.
Ich öffne.
Ach ja, die neue Patientin. Der Terminkalender war mir noch nicht wieder in meinem Kopf zugänglich.
Sie lässt die schwere Metalltür des Hausflures hinter sich laut ins Schloss fallen, hält sie nicht fest.
„Sie kennt die Tür noch nicht!”, denke ich nachsichtig und sie schaut mich erschrocken an und setzt sofort entschuldigend hinzu:
„Das nächste Mal knallt sie nicht mehr.“
„Da bin ich mir sicher“, denke ich und nehme ihr aber sofort ihre Entschuldigung mit meiner:
„Nein, nein! Das konnten Sie nicht wissen! Vermutlich ist der Hinweiszettel wieder davon geflattert!“
„Aha, ich werde sie also als Patientin nehmen“, folge ich meinen Gedanken.
Ihre Augen fixieren mich. Flink und elegant nimmt sie die vier Stufen bis zur Praxistür ohne Scheu.
„Guten Morgen“, grüße ich fröhlich, die Fahrt zur Praxis nun endgültig abhakend.
„Ja, guten Morgen! Ich freue mich, bei Ihnen einen Termin zu haben...“, höre ich ihre zurückhaltende, aber klare und angenehme Stimme.
„Ja, dann kommen Sie mal ins Warme!“
„Sie ist aber sehr dünn“, denke ich, und sehe trotz des Mantels das sich darunter verbergende Skelett mit etwas Haut und Fleisch daran. Ich erinnere mich blitzartig, dass meine Sekretärin mir gestern sagte, es käme eine junge Frau mit Essstörung.
Dunkle, fast schwarz wirkende mit leicht rötlichem Schein, bauschig und fröhlich vom Kopf fliehende Haare sind zu einem dicken Dutt auf dem Hinterkopf gesteckt, die dicke, schöne Mähne zu bändigen. Ich schaue in die Akte. Geboren im Dezember. Ein Feuerzeichen, eine Schützin. Das passt irgendwie zur wilden, etwas unordentlichen Mähne, ja, wie eine Amazone. Passt zu mir. Ich bin gleichfalls mit allen Feuerzeichen, welche eine horoskopische Analyse hergibt, gesegnet. Aber Löwen können auch schon mal glatzköpfig und zahnlos sein, wie mir eine Freundin letztens erzählte: es käme darauf an, in welches Haus sie hineingeboren wurden. Aber das war mir dann doch zu viel. Nein, das ist nicht mein Gebiet.
Aus dem blassen Gesicht schauen mich neugierig und schüchtern zwei dunkle, grünbraune Augen, so tief, dunkel, abgründig wie ein stiller Waldsee in der Nachmittagssonne, von unten nach oben an. Ein dicker, grober und gestrickt wirkender bunter Designermantel, der ihr bis über die Knie reicht, verbirgt den Körper, der lange und dicke um den Hals geschlungene Strickschal ihren Mund, der wohl vor der Kälte geschützt werden soll.
Sie folgt mir zum Kleiderständer und wickelt ihren Schal ab, hängt ihren schweren Mantel auf.
„Hier geht es ins Wartezimmer“, kläre ich sie freundlich auf, „bitte nehmen Sie schon einmal Platz...!“
Sie betritt leichtfüßig das einladende Wartezimmer, das uns im Schein der Lampenlichter warm umfängt und gemütlich zum Sitzen einlädt. Sie schlendert im Raum herum und geht in Richtung des rechten Sofas. Die Tür würde sie ein wenig verdecken, wenn ich gleich wieder hineinkäme.
„Ist das aber gemütlich bei Ihnen“, ruft sie fast begeistert aus, und lässt sich in das dunkel auberginefarbene Ledersofa fallen.
Ja, wirklich fallen, als sei sie hier Zuhause.
„Ich bringe Ihnen sofort den Anmeldebogen für die Psychotherapeutische Behandlung, einen Moment bitte.“
Aber ihre Augen bewegen sich schon entlang der Einrichtung, Bilder, Blumen und bleiben auf den Illustrierten hängen. Im Hinausgehen höre ich, wie sie hinter meinem Rücken aufsteht und sich eine Zeitschrift sucht.
Das Teewasser kocht. Ich nehme die von meiner Sekretärin vorbereitete Akte und bringe sie ihr auf einem Klemmbrett mit Kugelschreiber ins Wartezimmer.
„Bitte schön.“
„Lesen Sie sich bitte das Anmeldeformular aufmerksam durch. Ihre Fragen beantworte ich Ihnen gern. Ich brühe einen Tee für uns auf und bin sofort weider bei Ihnen. Und füllen Sie doch auch den kurzen Anamnesebogen für eine erste Datensammlung für mein Sekretariat. Danke.“
Sie nimmt alles entgegen und beginnt, noch bevor ich wieder aus dem Zimmer bin.
Ich trage den Tee ins Behandlungszimmer und gehe dann zu der jungen Frau.
„Fertig!“, sagt sie, als hätte ich einen Test im Schnellausfüllen machen wollen und strahlt.
„Sie muss Studentin sein“, denke ich unwillkürlich bei mir, „sie sind es gewohnt, in kurzer Zeit konzentriert an Aufgaben zu gehen und sie zu erledigen.“
„O.k., dann kommen Sie doch bitte mit.“
Sie geht hinter mir her:
„Bitte ziehen Sie die Schuhe aus. Hier sind Filzpantoffeln in verschiedenen Größen. Suchen Sie sich bitte die passende Größe für sich aus“, lade ich sie aufmunternd zu warmen Füßen ein.
Sie setzt sich in den Sessel. Ich gieße Tee ein.
„Was führt Sie zu mir?“, frage ich schon in den von ihr gerade ausgefüllten Unterlagen blätternd, den Anamnesebogen suchend.
„Ich habe eine Essstörung“, bringt sie fast flüsternd mit gesenktem Kopf hervor, als habe sie innerlich einen Schieber künstlich implantiert, der nun zu funktionieren hatte, diese Mitteilung auch wirklich an mich weiter zu leiten.
„Ich kann kaum noch etwas bei mir behalten. Leide unter Essanfällen. Ich erbreche das eben Gegessene. Ich leide unter extremen Gefühlsschwankungen. Seit ca. 12 Jahren sehr unregelmäßige Nahrungsaufnahme und seit dem strikte Kontrolle und Dezimierung von Essen. Also, ich habe ganz wenig Nahrung zu mir genommen. Vorher unregelmäßig, aber ich habe immer irgendetwas gegessen, wenn andere dabei waren, damit es nicht auffiel. Ansonsten habe ich mich immer sehr kontrolliert, gegrübelt, wann ich etwas, oder ob ich etwas esse. Und dann überfiel es mich irgendwann und ich habe alles in mich hinein gestopft. Aber diese Phase dauerte nicht lange. Vielleicht ein halbes Jahr. Dann habe ich Fressanfälle strikt unterbunden. Ich denke ich habe die Störung schon einige Jahre länger, vielleicht 16 Jahre, die Anfänge eingerechnet.“
Sie berichtet in einem klaren, etwas abgehackten Tonfall, der wenig zu ihrer sonst melodischen Stimme passt, als sei sie selbst Arzt. Präzise, ausführlich, sachlich.
Im Anamnesebogen lese ich, der Vater ist Facharzt. O.k.
„Der wird ja wohl an der Gesundung seiner Tochter interessiert sein“, schießt es mir durch den Kopf.
„Warum ist denn dann nicht mehr an Behandlung passiert in all‘ den Jahren? Zwölf Jahre manifest und 16 Jahre Gesamtdauer der Störung ist ja eine lange Zeit“, feuert es mir unwillkürlich weiter durch den Kopf.
„Was sagt Ihr Vater zu Ihrer Erkrankung?“, frage ich und denke noch einmal, ohne es auszusprechen, er ist doch Arzt und wird Ihnen doch auch schon geraten haben...!
„Der hat mich mal zu einem Kollegen geschickt um meinen Gesamtstatus aufnehmen zu lassen...! Aber der war noch in Ordnung. Nein, er sagt da eigentlich gar nichts zu...!”, teilt sie leicht niedergeschlagen wirkend, aber dennoch mit fester Stimme, als sei dieses Verhalten normal, mit.
„Und Ihre Mutter?“, frage ich weiter.
„Meine Mutter will eigentlich nicht, dass ich zu einem Psychotherapeuten gehe. Sie will nicht, dass etwas aus der Familie nach Außen dringt“, erklärt sie.
„Hm, aber sie kommen dennoch zu mir...?“
„Ja, ich komme mit allem nicht mehr klar. Ich hinke hinter meinem Studium her, weil ich nicht genügend Geld von meinen Eltern zum Studium bekomme. Ich frage auch nur ungern meine Eltern um Geld. Mit Geld wird in meiner Familie untergeordnet. Ich muss mir Geld dazu verdienen. Insofern bin ich damit beschäftigt, meine Jobs zu erledigen und komme kaum noch zum kontinuierlichen Lernen.“
„Also, Geld werden sie bei mir nicht bekommen können“, scherze ich und lächele sie an.
Sie lächelt zurück. Ich fahre ernsthaft weiter:
„Im wievielten Semester sind Sie?“
„Ich habe bereits 17 Semester hinter mir. Normal sind 10 Semester. Aber ich muss nur noch die Abschlussarbeit machen...Und die kriege ich irgendwie nicht gebacken. Ich kann mich nicht konzentrieren, habe keine Zeit. Meine Mutter macht mir nur noch Druck, weil ich nicht fertig werde. Sie meckert mich immer nur an, fragt, wann es denn endlich soweit ist. Argumentiert, sie werde noch kränker, als sie ohnehin schon ist...! Gibt mir kein Geld...“
„Immer wieder dasselbe“, denke ich, „hier läuft was schief.“
„Wie viel Geld bekommen Sie monatlich?“
„400 Euro. Die reichen nicht. Es ist zu wenig Geld. Ich bekomme davon kaum die Miete bezahlt. Den Rest erarbeite ich mir...!“
„Da haben sie sicherlich Recht. 400 Euro können nicht reichen“, und denke, der Mindestsatz, der von Eltern zu zahlen ist, liegt doch bei ca. 700 Euro und dann noch das Kindergeld, das wäre ein Betrag der reichen könnte.
Ich lenke ab vom Punkt Geld und frage nach der Mutter, nach Beziehung.
„Meine Mutter kümmert sich um die Belange in der Familie. Da hält sich mein Vater heraus. Er arbeitet in seiner Praxis, meine Mutter organisiert seit Jahren die Sekretariatsarbeiten und macht die Abrechnungen.“
„Wer war Zuhause für Sie da, wenn Vater und Mutter in der Praxis arbeiteten?“
„Als ich und Victor kleiner waren, halfen meine Großeltern jeden Tag im Haushalt und waren für mich und meinen Bruder da ...“, erzählt sie mit weicher Stimme, die augenblicklich Wärme freisetzt.
„Das kling, als hätten sie sich wohl gefühlt mit Oma und Opa!“
„Ja, sehr! Ich fahre auch jetzt noch nach Hause zu meinen Eltern, wenn sie da sind. Sie kommen einmal pro Woche. Dabei ist es schon eine ganz schöne Strecke. Meine Omi steht dann in der Küche und kocht wie eh‘ und je‘, und wir unterhalten uns über alles Mögliche. Das tut mir immer gut. Mit ihr kann ich über vieles sprechen. Wir trinken Tee und fühlen uns wohl.“
„Und, wie kommen Sie heute mit den Großeltern zurecht...?“, frage ich dazwischen.
„Super gut! Omi ist ganz lieb. Sie kann mir immer noch Wärme geben...Opa auch.“
„Kamen ihre Großeltern damals täglich, oder wohnten sie mit im Haus?“, frage ich weiter, um mir ein Bild zumachen vom täglichen Ablauf in der Kindheit der Patientin.
Sie erzählt ohne Unterbrechung, ohne dass ich weitere Fragen stellen muss. Die Großeltern lebten zeitweilig mit im Haus, hatten da ein Zimmerchen für die Übernachtung und betreuten rund um die Uhr die Kinder. Abends versorgten sie die Familie mit gekochtem Essen. Teilweise fuhren sie abends zu sich nach Hause und kamen morgens wieder. Als die beiden jüngeren Mädchen, Zwillinge, geboren wurden, zogen sie in eine eigene Wohnung, die etwas näher an dem neuen Haus lag. Sie kamen dann aber nur bis mittags, betreuten die beiden Kleinen und kochten Essen. Die Patientin und ihr Bruder gingen zu dem Zeitpunkt schon zum Gymnasium, rückten dem Abitur schon näher. Ab 14.00, 15.00 Uhr war die Mutter dann Zuhause. Sie arbeitete dann nur noch zwei Mal die Woche nachmittags."
„Dann war oder ist ihre Familie sehr durch Omi und Opi geprägt?“
„Ja. Meine Mutter wollte unbedingt arbeiten. Mein Vater verdient und verdiente immer schon genügend Geld. Sie hätte nicht arbeiten müssen!“
„O.k.“, erwidere ich überrascht ob der Deutlichkeit, in der sie dies mitteilt und gleichzeitig Kritik an der Mutter formuliert.
„Mein Vater ist Grieche. Er hat für das Studium sein Land und seine Familie verlassen. Er ist nie wieder zurückgekehrt. Mein Vater ist desinteressiert, was mich, meine Geschwister oder Familie angeht. Wie gesagt, dass macht alles meine Mutter. Sie haben oft Streit. Mein Vater ist abwertend. Nichts ist gut. Aber bei meiner Mutter auch nicht...!“
Sie verzieht den Mund, Tränen rinnen still aus ihren nun noch dunkleren über ihre schmalen Wangen in ihre Mundwinkel und fallen steil auf ihren Pullover herab.
„Mein Vater hat mich in all‘ den Jahren nicht angerufen! Ich interessiere ihn nicht die Bohne. Wenn ich mal bei meinen Eltern bin, verzieht er sich in sein Arbeitszimmer. Meist habe ich Streit mit meiner Mutter, die mich immer nur fragt, wie weit ich denn bin und meint, mich anschreien zu müssen, weil ich das Geld zum Fenster herauswerfe! Und die Zeit vertrödle und das alles nur tue um sie krank zu machen. Obendrein droht sie mir, den Geldhahn ganz zuzuschrauben, wenn ich jetzt nicht bald fertig würde. Mein Vater hilft mir nicht, gegen meine Mutter anzukommen. Da kann ich machen, was ich will. Er ist unnahbar, rational, hält sich aus allem heraus!“
„Sie sehnen sich nach Aufmerksamkeit und das man ihnen zuhört...!“
„Ja“, bricht es aus ihr heraus, „mir hört niemand zu! Immer nur Kritik und Konfrontation“, würgt sie die Worte heraus, als müsse sie brechen. Beugt sich mit ihrem Oberkörper über ihren flachen Bauch, den sie sich mit beiden Händen hält und rutscht mit ihrem Körper zur Kante ihres Sessels nach vorne.
„Müssen Sie brechen?“, besorgt beuge ich mich meinerseits ihr zu, bereit, einen Eimer zu holen.
„Wäre nicht das erste Mal, dass hier ein Eimer im Therapiezimmer steht“, suche ich ihre Scham zu mildern.
„Nein, geht schon.“ Sie reißt sich zusammen. Sie verweilt noch eine kleine Weile in der vorgebeugten Haltung, atmet einige Male durch und rutscht dann mit ihrem Po im Sessel wieder nach hinten.
„Ihr Vater ist ihnen keine Stütze“, sage ich leise mit ambivalenter Betonung in den Raum. Sie kann wählen, ob es eine Frage oder Bestätigung ist.
„Im Gegenteil. Mit seinen Abwertungen und Verurteilungen hat er mir bis heute mein Leben schwer gemacht. Als ich in die Pubertät kam, sagte er: Du bist aber ganz schön pummelig! Da könnte aber noch was herunter...! Das sagt er! So schaut er mich heute noch an, obwohl ich ja, Sie wissen schon...“, wird sie zeitgleich mit ihrer Andeutung auf ihre Erkrankung rot und schämt sich ihrer Hilflosigkeit.
Tränen laufen ihr über das ganze Gesicht. Schluchzend, die Mundwinkel rechts und links nach unten hängend, kauert sie in ihrem Sessel als friere sie. Die Beine ineinander verdreht, versucht sie sich Halt zu geben.
Sie erzählt dann wieder von den Großeltern, wie, um sich innerlich wieder auszugleichen. Dann von dem Bruder, dem es nicht gut ginge. Er habe auch eine Essstörung, wie sie sagt. Irgendwann sind die Tränen vergessen und sie schaut mich dankbar an, dass ich ihr so intensiv zugehört habe.
„Ich glaube, das war es für heute! Das war sehr viel. Hätte ich nicht gedacht...!“
Sie lächelt mich an, ihre Augen nun heller, nur grünlich wirkend und ich bestätige, dass wir für heute Schluss machen. War auch 20 Minuten über die vereinbarte Zeit, geht mir durch den Kopf. Egal. Aber in meiner Arbeit ist es mir wichtig, dass am Ende der Sitzung ein Punkt steht und kein Fragezeichen. Es sei denn, es ist von mir gewollt.
Auf dem Flur ziehen wir die Schuhe an.
Wir gehen ins Sekretariat.
„Ach, wir haben ja noch gar nicht über die Anmeldung und die Kosten gesprochen. Haben Sie noch Fragen zu den Kosten der Psychotherapie? Oder generell Fragen, die sich aus dem Anmeldeformular vielleicht ergeben haben? Wissen Sie, wie Sie versichert sind? Bezahlt Ihre Krankenkasse den 3,5-fachen Satz?“, fasse ich alle Eventualitäten zusammen und trage sie ihr vor.
„Nein. Ich habe keine weiteren Fragen zu den Kosten“, antwortet sie ruhig auf mein Angebot, ihr Rede und Antwort zu stehen, und fährt in ihrer ihr eigenen, sachlichen Art fort, meine Fragen zu beantworten:
„Ich weiß‘ nicht wie ich versichert bin. Aber ich glaube schon, dass die Krankenkasse den 3,5-fachen Satz erstattet. Die Krankenkasse hat bisher immer alle Kosten in der Höhe, wie Ärzte sie in ihren Rechnungen ausgewiesen hatten, übernommen. Und wenn nicht, wird mein Vater den Rest bezahlen“, teilt sie zweifelsfrei mit.
„Was halten Sie davon, die erste Rechnung dennoch bei der Krankenkasse einzureichen und dann werden wir sehen, wie viel sie zahlt. Dann können Sie sehen, ob die Krankenkasse auch die anderen Positionen aus der GOP übernimmt. Es gibt ja nicht viele Positionen, die wir abrechnen können. Wenn Sie Fragen haben, beantworte ich sie Ihnen gern!“
„Ja, bitte senden Sie mir eine Rechnung zu. Meine Mutter wickelt die Dinge mit der Krankenkasse ab. Ich teile ihr das dann mit, wenn ich ihr die Rechnung übergebe“, antwortet sie, diese Rechnungen schon innerlich an ihre Mutter delegiert habend.
„Bringen Sie doch dann bitte die Bewilligung für die Psychotherapiekosten mit zu mir in die Praxis. Oder teilen Sie mir bitte mit, was Ihre Krankenkasse vielleicht noch an Informationen von mir wünscht!“ setze ich hinzu.
„Möchten Sie sonst noch etwas wissen zu meiner Behandlungsart? Aber sicher haben Sie sich im Internet schon über mich schlau gemacht.“
„Ja, ich habe bereits im Internet nachgelesen. Nein, bis jetzt habe ich keine Fragen zu den Ausbildungen und Methoden, die Sie anwenden.“
„Gut, wenn sich Fragen bei Ihnen ergeben sollten, können Sie mich gern fragen. Ich werde Sie Ihnen dann beantworten!“
„Wie Sie vielleicht gemerkt haben, arbeite ich ziemlich konzentriert oder schnell“, gehe ich dennoch kurz auf meinen Arbeitsstil ein, der sich nun nicht zwangsläufig aus den angewandten Methoden aus Ausbildungen ableitet.
„Ja, der Therapeut, den ich vor Ihnen hatte, der hat nicht so mit mir gearbeitet. Ich habe erzählt. Er hat nichts Nennenswertes gesagt. Ich wusste nie, was bei ihm von meiner Situation und meinen Gefühlen eigentlich angekommen ist. An einem Punkt, so, wie an dem ich heute hier war, war ich dort niemals. Er hat nicht emotional gearbeitet. Da war gar nicht daran zu denken...“
„Ich berechne Interventionen, die sich auf psychodynamische Aspekte beziehen mit Position 5 der GOP“, fahre ich fort, auf den anderen Therapeuten gar nicht eingehend.
„Manchmal ist es aber auch so, dass ich mit unterschiedlichen Themen in einer Sitzung arbeite, oder aber unterschiedliche Entwicklungsphasen anspreche oder Problemlagen und mögliche Konflikte überprüfe. Das sind jetzt Beispiele für GOP Position 5, die ich analog abrechne. Sie wissen selbst, dass unterschiedliche Lebensbereiche ihre Symptomatik beeinflussen können. Ich werde zu Beginn der Sitzung klären, in welchem Bereich Sie stabil und in welchem Sie möglicherweise dann jeweils aktuell nicht stabil sind. Wir schauen dann weiter, was wir in unserer gemeinsamen Arbeit tun können, dass Sie sich wieder stabilisieren und es Ihnen besser geht. Wenn Sie stabil sind, können wir tiefer gehen und nach dem zugrundeliegenden Konflikt forschen. Wir werden emotionale Bezüge herstellen können, die dann aus der Tiefe in der Gegenwart Ihrer jetzigen Symptome Klärungen herbeiführen können. Ich will Ihnen jetzt nicht das psychoanalytische Werkzeug, wie ich es zusammen mit meiner gestalttherapeutischen Ausbildung benutze, erklären. Aber Sie sollen wissen, dass dasjenige, was Sie aktuell an Symptomen, Konflikten, Problemen oder sonst etwas, wie zum Beispiel Ereignisse, immer Vorrang hat in meiner Arbeit. Wenn wir ein paar Monate weiter sind, können wir gemeinsam Bezüge zu dem zugrundeliegenden Konflikt herstellen und emotionale Blockaden lösen. Manchmal gehe ich auch anders vor, so, wie zum Beispiel heute. Das, was Sie über ihren Vater hier heute gesagt haben, hat schon sehr lange in Ihnen geschlummert. Es war sozusagen reif und fiel aus Ihnen heraus, wie ein reifer Apfel vom Baum fällt. Ich denke, es reicht vielleicht erst einmal an Erklärungen zur Methode der Arbeit und wie ich dann entsprechend abrechne. Sie können mich aber jederzeit fragen, wenn Sie das Bedürfnis haben, etwas methodisch besser verstehen zu wollen. Sie können versichert sein, dass ich jeweils diejenige Methode in Ihre Sitzungen mit bringe, von denen ich meine, dass Sie Ihnen eine Unterstützung sein können, Klärung zu erzielen. Und da habe ich einige zu bieten. Weiter müssen meine Patienten arbeiten: 1. Ein Therapietagebuch führen. Was das heißt, erkläre ich Ihnen beim nächsten Mal ausführlicher. Für heute reicht es. 2. Verschiedene Aufgaben, die sich je nach den Inhalten richten, wie sie sich aus den Sitzungen ergeben. Das ist die Position GOP 15: sozialtherapeutische und/oder psychotherapeutische flankierende Maßnahmen zur Stabilisierung...“
„Ja, verstanden. Das ist prima. Ich will auf jeden Fall bei Ihnen bleiben...!“
„Dann klären Sie bitte mit Ihrer Krankenkasse oder Eltern dennoch vorab, welchen Satz Ihre Krankenkasse erstattet, damit es keine Überraschungen gibt. Ich weiß nicht, und das geht mich im Prinzip auch nichts an, welchen Vertrag sie geschlossen haben, damit die Psychotherapiekosten gedeckt sind. Nach fünf probatorischen Sitzungen müsste ich dann ein Gutachten schreiben. Bis dahin haben wir beide Zeit, nachzuspüren, ob wir das Therapiebündnis aufrechterhalten wollen und die Behandlung nach Bewilligung beginnen...“
„Sie brauchen kein Gutachten schreiben. Ich habe noch ca. 40 Positionen aus der Behandlung bei dem Verhaltenstherapeuten“, unterbricht sie mich. Ich fahre fort:
„Dann rufen Sie bitte die Krankenkasse an und fragen nach, ob wir diese Sitzungen für unsere Behandlung übernehmen können...!“
„Ja, mache ich!“
„Und bringen Sie mir bitte die Bewilligung der Krankenkasse mit. Daraus wird zu entnehmen sein, wie viele Sitzungen sie insgesamt bewilligt haben und zu welchem Honorar!“
„Zur Überprüfung, ob Ihre Kasse den 3,5-fachen Satz erstattet, reichen Sie doch bitte die erste Rechnung ein. Meine Sekretärin sendet Ihnen die Rechnung zu. Ansonsten werden Rechnungen monatlich ausgestellt“, erläutere ich ihr.
„Dann werden wir vielleicht schon nächste Woche mehr wissen, nämlich, ob ihre Krankenkasse den 3,5-fachen Satz und die Zusatzpositionen erstattet. Bitte teilen Sie dies dann meiner Sekretärin mit. In den Sitzungen beschäftige ich mich nicht gern mit Geld und Angelegenheiten der Krankenkassen und welchen Satz sie zahlen.“
„Wir vereinbaren einen Termin für die nächste Woche, wenn Sie möchten.“
„Ja, sehr gern! Da freue ich mich aber sehr, dass ich zu ihnen kommen darf!“
„Wir haben 5 probatorische Sitzungen, in denen wir entscheiden können, ob wir zusammen arbeiten...“, erläutere ich ihr, über ihre Freude, dass sie einen zweiten Termin bekommt, hinweggehend, und sage stattdessen:
„Sie haben also noch ebenso ein wenig Zeit, sich zu entscheiden, ebenso, wie ich...!“
„Ja, ich weiß das aus meiner Verhaltenstherapie. Aber ich weiß es eigentlich schon: Ich möchte bei Ihnen bleiben!”, preist sie ihr doppeltes Wissen an und forscht in meinem Gesicht nach Zustimmung.
Sie zurückhaltend anlächelnd, begleite ich sie zur Tür.
„Auf Wiedersehen!”, sage ich freundlich zu ihr gewandt und öffne die Praxistür.
„Auf Wiedersehen!”, lächelt sie mir zuversichtlich zu und verschweindet im Hausflur.
Ich schließe leise die Tür. Mal sehen.