Читать книгу Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!!! - Irina Melchat - Страница 7
2. Sitzung
ОглавлениеSie kommt zu früh zur Sitzung. Sie hält die moderne Stahltür aufgrund des defekten Falldämpfers, so nenne ich diese Vorrichtung bei mir, heute fest und sie fliegt wie eine Elfe die Stufen der Treppe hoch. Auf der Matte stampft sie ihre schwarzen Stiefel von Regenwasser frei.
Tropfen rinnen ihr aus den nassen Haaren, einige bleiben an ihren Wimpern hängen, die sie mit dem Handrücken fortwischt.
„Sie sind wohl auch vom Regen überrascht worden?“, frage ich aufgrund des fehlenden Schirms, als sie beginnt, sich zu schütteln wie ein Hund, der gegen den Wille des Herrchens ein Wasserbad genommen hat, und ihm nun entstiegen ist. Mit großen, offenen Augen auf mich blickend, steht sie immer noch auf der Matte.
„Soll ich die Stiefel gleich hier ausziehen? Sie sind ziemlich nass!”, fragt sie aktiv und fit, zu Taten aufgelegt.
„Nein, lassen Sie mal. Es ist zu kalt im Hausflur. Kommen Sie erst einmal hinein ins Warme“, bitte ich sie in die Praxis hinein und bringe ihr ein Handtuch, damit sie sich die Haare und das Gesicht trocken wischen kann.
Sie hängt einen kurzen Kamelhaarmantel über den Bügel. Ein schickes Wollkleid in gleicher Farbe kommt zum Vorschein und zeigt ihre schmalen Glieder, wenn man von den spitzen Ecken, die ihre Schultern unter dem Kleid verursachen, mal absieht.
Ich nehme sie gleich mit ins Therapiezimmer, da ich bereits frei bin für eine neue Sitzung. Die Patientin, die vorher kommen sollte, liegt mit Grippe im Bett. Sie hatte Angst, der Virus, der gerade in Deutschland grassierte, könne sie erwischt haben.
„Jetzt warten Sie mal ab! Nicht jeder Erkältung ist die Schweinegrippe!”, riet ich ihr zur Beruhigung und dachte gleichzeitig an die vielen Desinfektionssprays, die in meiner Praxis standen.
Sie setzt sich, schlägt die Beine übereinander, wühlt in der großen, dunklen Tasche aus Rindleder herum.
„Nun, wie geht es Ihnen?“, frage ich sie, nachdem sie ihre Tasche, ihren Schal und ihre sonstigen Utensilien, die sie offenbar in der großen Ledertasche mit sich trägt, geordnet hatte.
„Mir geht es recht gut. Unsere erste Sitzung hat mir gut getan! Ich fühlte mich in den Tagen danach viel ruhiger als sonst. Aber brechen musste ich trotzdem. Aber meine Arbeit lief gut und für die Uni habe ich auch einiges arbeiten können“, berichtet sie freudig.
„Oh, dass freut mich! Dann haben Sie sich etwas entlastet gefühlt...?“, frage ich nach.
„Ja...!“ Nach einer Weile setzt sie hinzu:
„Mein Vater liegt mir ziemlich im Magen! Ich hatte ja schon beim letzten Mal erzählt, dass ich kaum Kontakt mit ihm habe. Und wenn doch, dann kritisiert und nörgelt er immer an mir herum“, erzählt sie mit traurigen Augen.
Tränen rinnen ihr über das Gesicht. Ich sage nichts und warte ab, wohin sich dieses Thema in ihr entwickelt.
„Er hat nie gefragt, wie es mir geht. Nie hat er angerufen! Seit acht Jahren nicht..., seit dem ich studiere...!“
Ich räuspere mich, frage sie, ob wir mal einen Moment bei ihrem Vater bleiben sollen?
„Ja. Ja, klar. Sehr gern wäre übertrieben, aber ja.“
„Haben Sie Ihrem Vater mal gesagt, dass Sie sich wünschen, dass er sich mal um sie kümmert?“
„Nein! Das wage ich mich gar nicht zu denken, geschweige denn zu sagen! Er ist so rational. Wenn ich ihn anspreche, wird diskutiert. Aber er geht nicht auf mich ein...!“
„Wollen Sie mal was ausprobieren? Ihrem Vater mal mitteilen, was Sie sich von ihm wünschen?“
Zögerlich, weil nicht wissend, was jetzt kommt, willigt sie nun doch ein:
„Ja, kann ich ja mal versuchen!“
Ich erläutere in ein paar kurzen Sätzen Prinzipien der Gestalttherapie und bitte sie, eines der Kissen, die im Raum sind, als Symbol für ihren Vater auszusuchen. Sie setzt dieses Kissen auf den Stuhl, rückt ihren Stuhl zurecht, sodass sie ihm gegenüber sitzt.
„O.k. Das Kissen ist ein Symbol für Ihren Vater. Es ist hilfreich, Ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Sprechen Sie zu dem Kissen, als säße er auf dem Stuhl“, leite ich sie simpel und leise an.
„Wir wissen beide, er sitzt nicht dort. Es geht auch nicht um ihren Vater! Es geht um Ihre Gefühle, die Sie immer für sich behalten mussten. Sie geben Ihren Gefühlen Raum. Und das ist das Wichtige bei dieser Arbeit, dass Sie sich entlasten können“, erläutere ich weiter.
„Teilen Sie ihm mit, was Sie sich wünschen“, ermunternd schaue ich sie an.
Fragend und ungläubig schaut sie mich an, tut aber dann nach reiflicher Überlegung, was ich ihr vorschlage. Sie rückt ihren Stuhl noch einmal um, und so zurecht, wie sie ihn gefühlt in Richtung und Entfernung haben möchte, fasst sich, konzentriert sich. Sie weiß nicht, wie sie anfangen soll. Ihre Augen wandern unruhig in alle Richtungen, um ihren Mund spielt sich unschlüssig Beziehung in Mimik ab. Dann legt sie plötzlich los.
„Papa, du hast mich nie angerufen. Ich wünsche mir seit Jahren, dass du mich mal fragst, wie es mir geht...!”, flüstert sie, den Satz, die Sehnsucht, den Schmerz, die beide wie eineiige Zwillinge all‘ die Jahre in ihr schlummerten, weinend heraus. Die Schleuse geöffnet habend, sprudelt es weiter:
„Immer fragst du mich nur, wie weit ich in meinem Studium bin. Oder du schaust, ob ich nicht wieder zugenommen habe. Du siehst nicht bei Tisch, das ich kaum noch was esse.“
Ihre Stimme bricht und sie weint hemmungslos. Sie dreht sich vom Stuhl weg. Aus ihr bricht weiter heraus, dass ihr Bruder, gleichfalls an einer Essstörung leidet! Nur viel schlimmer als sie.
„Seine Zähne sind von der Magensäure durch die Kotzerei zerfressen. Die Hälfte des Magens musste ihm operativ entfernt werden. Victor hat eine Borderline-Diagnose bekommen. Es gab Schlägereien mit seiner Freundin, die ihn nun verlassen will, weil sie einfach nicht mehr kann. Sie hat die Nase gestrichen voll von ihm. An der Uni kommt er nicht klar. Er ist in all‘ den Jahren nicht wirklich vorangekommen. Ich mache mir solche Sorgen...!“
Benommen nehme ich diese Informationen über den Bruder auf und denke, dass es aber ungewöhnlich ist, dass der Bruder ebenso wie die Patientin die gleichen Symptome zeigt.
„Sie haben sich oft Sorgen um Ihre Geschwister gemacht?“, nehme ich den Faden zu den Geschwistern auf.
Sie geht nicht darauf ein.
Nun gut, wird noch kommen.
Nach gefühlten fünf Minuten hat sie sich beruhigt. Kommt zu sich, wischt sich die Tränen mit dem Ärmel von den Wangen, schnäuzt sich die Nase und meint, sie fühle sich zum ersten Mal seit Jahren etwas freier, was ihren Vater anginge.
„Es tat gut, das mal zu sagen“, spricht sie leise mit blanken, wieder heller gewordenen Augen in meine Richtung, und schaut mich dann zaghaft an, ob da an mir nicht doch etwas zu finden ist, dass sie abwertet. Sucht dann in meinem Gesicht nach Zustimmung.
Ich nicke wortlos. Ernst. Warte. Lasse ihr ihre Gedanken und Gefühle, die sich noch einstellen könnten. Aber sie bleibt in sich versunken. Nach einer Weile fügt sie entschlossen an:
„Ich glaube, das war es für heute! Das war sehr viel. Hätte ich nicht gedacht!“
Ich bestätige. Es ist auch mein Gefühl, dass es für heute reicht mit diesem Thema.
„Ach, das mit dem Kissen war echt Spitze“, lächelt sie dann doch beim Rausgehen, sich wieder in Zeit und Raum eingefunden zu haben.
„Ja, einfache Mittel helfen manchmal ganz gut. Das ist so simpel. Kinder machen das mit ihren Teddys...! Man merkt bei dieser Art von Arbeit gar nicht, wie die Zeit vergeht - oder?“, frage ich.
„Stimmt, die Zeit ist heute wie im Flug vergangen...Heißt, ich habe gar nicht an Zeit gedacht...“, huscht jetzt ein weiteres Lächeln sichtlich erleichtert über ihr Gesicht.
„Gut, sollen wir gleich einen Termin vereinbaren?“, fragt sie.
„Ach, wenn Sie so gut sind, meine Sekretärin später anzurufen, wäre mir das lieber! Sie ist der Chef des Terminkalenders und ich fuchtle ihr nicht gern dazwischen. Ich möchte Ihnen ungern einen Termin geben, den vielleicht schon jemand anderes für gewöhnlich hat, ihn aber noch nicht vereinbart hat, wissen Sie? Es ist üblich, einen festen Zeitpunkt an einem bestimmten Tag zu vereinbaren...“, erläutere ich.
„Ja, gern. Kein Problem!”, willigt sie ein und zieht sich langsam und still ihren Wollmantel über.
Wir reichen uns die Hände.
„Bis nächste Woche dann!“