Читать книгу Brimborium...oder was das Herz nicht erträgt - Irina Riederle - Страница 8

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PROLOG

Es ist ein regnerischer Donnerstag im Oktober. Ich stehe an einer Bushaltestelle, der Wind peitscht mir ins Gesicht und mein Pullover klebt nass an meiner Brust. Ich friere. Meine Finger krampfen und klammern sich um ein durchweichtes, braunes Notizbuch. Vor einer Stunde erst saß ich noch auf einer ähnlich braunen Ledercouch. Sie ist an einer Stelle schon komplett durchgesessen und man sinkt jedes Mal noch ein Stückchen tiefer in das Polster ein. Besagte Couch steht bei meinem Psychologen und hat in ihrem Dienstleben bestimmt mehr Ärsche gesehen als eine Autobahntoilette. Meinen hat sie jetzt ganz schön lange nicht mehr gesehen. Ich war zuletzt vor über einem Jahr dort. Die Rückkehr hat sich wie ein Homecoming angefühlt. Als hätte ich ein Auslandssemester in Kanada verbracht und wäre jetzt endlich nach Hause gekommen. Während mein Körper auf dieser Couch versank, brach meine Seele aus mir heraus und breitete sich heulend in dem stickigen Raum aus. Am Ende verließ ich die Praxis um ein bis zwei Liter Tränenflüssigkeit ärmer aber um eben jenes, braune Notizbuch reicher.

Eine Feststellung: es gibt unendlich viele schlimme Dinge auf dieser Welt. Schmerz liegt aber nie im Auge des Betrachters, sondern immer im Herzen dessen, der ihn gerade ertragen muss. Mein Schmerz wiegt schwer. Er lässt mich weder schlafen noch essen. Ich möchte andauernd weinen und schreien und meine Faust gegen irgendwelche Wände rammen. Ich möchte ertrinken und nie wieder etwas fühlen. Das soll einfach alles aufhören. Weil es das von selber aber nicht wird, hat mein Hintern erneute Bekanntschaft mit der alten, abgesessenen Ledercouch geschlossen. Und jetzt stehe ich hier einsam und verloren. Mit diesem Notizbuch in der Hand an einer Haltestelle und warte auf einen Bus, in den ich nie einsteigen werde. Ich soll aufschreiben, was mich nachts wachhält. Soll in Wörtern beschreiben, was mein Herz nicht ertragen kann. Soll formulieren, wie es sich anfühlt, wenn man langsam den Verstand über einen anderen Menschen verliert und so der Lösung ein Stückchen näherkommen. Mir wieder näherkommen.

Es ist ein kalter Freitag im Januar. Ich bin auf einer Eisplatte ausgerutscht als ich meiner Freundin eine Nachricht auf ihrer Windschutzscheibe hinterlassen wollte. Wie aus dem Nichts warst du da. Hast mich taumeln und fallen sehen aber mir nicht geholfen. Mich nicht aufgefangen. Stunden später werde ich darüber im braunen Notizheft schreiben: An deiner Gleichgültigkeit werde ich irgendwann ersticken. Daran oder an dieser Liebe, die ich nach all der Zeit immer noch für dich empfinde. Aber eins ist klar, an dir werde ich ganz sicher zu Grunde gehen.

In den vergangenen Monaten habe ich mir das Gehirn zermalmt und meine Seele zwischen dünnen Seiten aus recyceltem Papier zerrieben. Mein Herz hat auf schwarze Tinte geblutet und meine Finger sind Wund von all den Zeilen, die ich halb an dich und halb an mich selbst gerichtet habe. Immer heimlich. Immer leise. Weil wir das ja so tun, wir leiden allein. Wer seinen wunden Punkt zeigt, riskiert, dass andere ihre Finger tief hineinbohren. Also schweigen wir. Tun alle so, als wäre das Leben eine bunte Tüte Gummibärchen, natürlich ohne Lakritze.

Es ist ein warmer Mittwoch im Mai. Ich sitze im Garten, trinke Weißwein und neben mir schnarcht das Hundekind zufrieden. Ich fasse einen Entschluss. Es wird Zeit, der Welt zu zeigen, wie weh das immer noch tut und wie wenig ich es schaffe vorwärts zu kommen. Das kleine, braune Notizbuch ist fast voll und gefüllt mit meinen Gefühlen. Ich glaube zu wissen, dass ich nicht der einzige Mensch bin, der taumelt und fällt. Der stolpert und verzweifelt. Ich bin mir sogar sicher, dass sich so schon andere gefühlt haben müssen und in Zukunft bestimmt auch noch so fühlen werden. Ich breche mein Schweigen und richte mein Wort direkt an dich, der du diese Zeilen liest: Du bist nicht allein. Egal wie schlimm und schrecklich dein Leben gerade zu dir ist. Wie ungerecht und unberechenbar. Ob du einen Anteil an deiner Situation zu tragen hast oder da vollkommen unschuldig hineingeraten bist. Ob du es am Ende schaffst oder nicht. Du bist nicht allein.

Vor dir sind schon so viele gefallen und gescheitert. Tatsächlich tun wir das alle. Niemand von uns kommt durch dieses Leben ohne blaue Flecken und Narben. Manche von uns kaschieren sie nur besser als die anderen und ich habe mich nun einmal dazu entschieden, sie offen vor mir her zu tragen. Sie aufzuschreiben und dir zu zeigen. Vielleicht fühlst du dich danach ein bisschen besser und ich mich nicht mehr ganz so schlecht. Wenn alles gut geht, lernen wir beide damit zu leben, zu lieben und wieder zu lachen. Denn es ist scheiß egal, ob du nachts sofort den Weg nach Hause findest, es zählt einzig und allein, dass du mutig genug bist weiter in die Dunkelheit zu gehen. Nur so kannst du am Ende dort ankommen, wo du hingehörst. Das braune Notizbuch war lange Zeit meine Taschenlampe und ich hoffe, dass dieses Buch auch ein Licht für dich sein kann.

Brimborium...oder was das Herz nicht erträgt

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