Читать книгу Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter - Iris Nentwig-Gesemann - Страница 7
Theoretische Verortungen Ganztag als Ort der Gestaltung (inter- und intra-) generationaler und organisationaler Ordnungen
ОглавлениеDie Dokumentarische Kindheitsforschung ist dadurch gekennzeichnet, dass die kollektiven Erfahrungen und Erlebnisse von Kindern, ihre handlungsleitenden Orientierungen und Praktiken sowie die sozialen (u. a. auch pädagogischen) Praktiken rekonstruiert werden, in denen Kindheit, Kinder und Kindsein immer wieder neu hervorgebracht und ausgestaltet werden. Dabei wird auch die Mit-Wirkung von räumlichen, materialen und zeitlichen Arrangements an der Hervorbringung bzw. Genese von Praxis in den empirischen Blick genommen. Die generationale Ordnung betrachten wir nicht als binäres Gegeneinander, sondern als ein komplexes (pädagogisches) Feld, das im Sinne Karl Mannheims von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit geprägt ist: »Er [Mannheim] geht davon aus, dass auf der einen Seite jedes Individuum ›mit Gleichaltrigen und Verschiedenaltrigen in einer Fülle gleichzeitiger Möglichkeiten‹ lebt, also in gemeinsamer Zeitgenossenschaft, dass auf der anderen Seite für jeden die gleiche Zeit eine andere Zeit, nämlich ein anderes Zeitalter selbst ist, das er nur mit Gleichaltrigen teilt« (Hengst 2009: 59).
Der rekonstruktive Blick auf das Binnenleben in den Einrichtungen, und dabei noch einmal fokussiert auf die Perspektiven und Interaktionsgeflechte der Kinder, sucht also immer auch nach empirischen Spuren für den praktischen Umgang mit der generational-pädagogischen Rahmungshoheit der Erwachsenen zum einen und der organisationalen Rahmungshoheit zum anderen (Nentwig-Gesemann und Gerstenberg 2018). Im Ganztag werden nicht nur (inter- und intra-)generationale Ordnungen aus- und umgestaltet, sondern die (teils noch unklaren) Normen, Programmatiken und Rollenerwartungen des Ganztags als eines multiprofessionellen Handlungsfeldes, in dem eine Kooperation von Schul- und Sozialpädagogik erwartet wird, treffen auf habituelle Muster der Akteur:innen im Feld. In den konkreten Ganztagen, die in diese Studie einbezogen wurden, konnten dementsprechend sehr unterschiedliche normative Vorstellungen zum Wesen des Ganztags, wie auch ganz verschiedene habituelle Praktiken der Ausgestaltung dieses pädagogischen Feldes durch die in ihm handelnden und interagierenden Akteur:innen vorgefunden werden.
Immer wieder stoßen Kinder mit ihrem kindspezifischen Orientierungsrahmen auf andere (organisationale, pädagogische und generationale) Rahmungen, die sich als nicht kongruent erweisen: Das, was die raum-zeitlichen Strukturen, die materialen und sozialen Arrangements, die organisationalen Regeln, Normen und Rollenerwartungen vorgeben, ist der Raum, in dem die Kinder im Ganztag sich bewegen und den sie mitgestalten. Immer dann, wenn Spannungen deutlich wurden, konnte in der Studie ein besonders klarer Blick auf die Spezifität der Perspektiven der Kinder geworfen werden. Dabei fragen die empirischen Rekonstruktionen in einer soziogenetischen Einstellung auch nach dahinterliegenden gesellschaftlichen, organisationalen und interaktionalen Milieus bzw. konjunktiven Erfahrungsräumen, in die die Perspektiven der Kinder eingebettet sind.