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Qualitätsentwicklung und Professionalisierung im Feld des Ganztags
ОглавлениеQualität kann nur in Bezug auf bestimmte, die Qualitätsentwicklung orientierende, Ziele bestimmt, untersucht und weiterentwickelt werden. Zudem haben verschiedene Akteur:innen bzw. Akteursgruppen unterschiedliche Perspektiven auf die – vom eigenen Standort und aus dem eigenen Erleben heraus wahrgenommene – Qualität von etwas.
In Bezug auf das aktuelle Bildungs- und Qualitätsverständnis von Ganztagsschulen spiegelt auf der Ebene der Ideal- bzw. Zielvorstellungen die folgende Definition den fachwissenschaftlichen Diskurs wider: »Unter der Prämisse, dass Ganztagsschule einem gegenüber reinem Fachlernen aber auch ›bloßer Aufbewahrung‹ der Schüler/-innen erweiterten Bildungsverständnis folgt, ist die umfassende Entwicklung der Persönlichkeit der Schüler/-innen Ziel von Bildung und Erziehung in der Ganztagsschule. (…) Zu betrachten sind demnach nicht nur die Lernfortschritte der Schüler/-innen im kognitiven Bereich, sondern auch fächerübergreifende Wirkungen auf z.B. Motivation, Wohlbefinden und soziales Lernen in Abhängigkeit schulischer Qualitätsmerkmale« (Fischer et al. 2012: 24). Erkennt man die Gültigkeit dieser sehr allgemein gehaltenen Kriterien für den aktuellen Diskurs zum Thema Ganztag und seiner Qualitätsentwicklung an, stellt sich dennoch die Frage, aus wessen Perspektive Qualität beschrieben und bewertet wird, wer dabei mitreden kann und wer nicht. Werden über wissenschaftlich fundierte Kriterien hinaus auch die Qualitätsvorstellungen von Trägern, Fachkräften und Eltern einbezogen? Wird vor allem den Kindern in dieser sie unmittelbar betreffenden Angelegenheit das Gehör geschenkt, das ihnen rechtlich verbrieft ist?
Eine konsequent interperspektivisch konzipierte Qualitätsentwicklung (vgl. Nentwig-Gesemann et al. 2021) impliziert, dass es weder für den empirischen Zugang zu Qualität noch für die praktische Herstellung von Qualität und die Qualitätsentwicklung ausreicht, wenn die verschiedenen Perspektiven nebeneinander gedacht und behandelt werden. Vielmehr muss es darum gehen, das Zusammenspiel der diversen Ebenen und Akteursgruppen, die wechselseitigen Wirkmechanismen und Spannungsfelder zwischen Norm und Habitus, die bei ihrem Aufeinandertreffen entstehen, in den Blick zu nehmen und zu bearbeiten. Die Kernprinzipien einer solchen Qualitätsentwicklung sind Transparenz, Diskurs und Kompromissfreundlichkeit.
Ohne Zweifel zählen die pädagogischen Fachkräfte zu den qualitätsrelevanten Akteursgruppen im Ganztag: Sie müssen – in den gegebenen Rahmenbedingungen – tagtäglich und in der direkten Interaktion mit den Kindern (und Eltern) professionell agieren und die Qualität des Ganztags als Lern- und Lebensort hervorbringen. Darüber hinaus sind sie als Mitglieder eines pädagogischen Teams mit der Erwartung konfrontiert, den Ganztag als Organisation so weiterzuentwickeln, dass er den an ihn gerichteten Erwartungen gerecht wird. Die Rede vom Ganztag als »Schule der Zukunft« und die damit verbundenen Hoffnungen auf »eine Neuordnung des Lernens durch die Verbindung von fachlichen und überfachlichen Gegenstandsbereichen« (Jürgens 2018: 5 f.) schrauben die Erwartungen in die Höhe und bleiben zugleich – zwangsläufig – diffus. Im Sinne eines »Doing Ganztag« kann die Qualität (hier im Sinne von Beschaffenheit) der ganztägigen Erziehung, Bildung und Betreuung nur in komplexen Wechselwirkungsbeziehungen hergestellt werden, zu denen neben den Menschen auch Programmatiken, Strukturen, zeitliche und räumlich-materiale Settings gehören.
Die Praxis der pädagogischen Fachkräfte im Ganztag kann dann als professionell bzw. professionalisiert betrachtet werden, wenn es ihnen gelingt, eine »konstituierende Rahmung« (Bohnsack 2020: 30 ff.) zu entwickeln, eine habitualisierte, verlässliche Praxis, welche nicht in erster Linie an vorgegebenen Programmatiken und deren Umsetzung orientiert ist, sondern auf das eigene Erfahrungswissen ebenso rekurriert wie auf die Orientierungsrahmen bzw. den Habitus der Eltern und vor allem der Kinder. Ein auf den Ganztag bezogenes Beispiel wäre, dass Fachkräfte eine konstituierende Rahmung in Bezug auf die Frage entwickeln müssen, wie sie mit dem Spannungsverhältnis zwischen der organisationalen Norm der Hausaufgabenbetreuung und dem Wunsch der Kinder nach Spielen und Erholung umgehen wollen. Als professionell zu bezeichnen wäre, wenn es den Fachkräften gelingt, auf eine monoperspektivische Fremdrahmung zu verzichten (in deren Folge dann das Hausaufgabenmachen zur Pflichtaufgabe bzw. sogar zum Zwang wird) und stattdessen mit den Beteiligten (hier den Eltern und vor allem den Kindern) in einen kompromissorientierten Diskurs zu gehen und eine verlässliche Regelung zu finden, wo die Stimmen der Kinder angemessen Gehör gefunden haben.