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Die Erscheinung der Engel
ОглавлениеBewahr in deiner Seele dir
die reine Kraft – zu staunen:
von Geistes-Wunderwelten raunen
doch alle Dinge hier.
Herbert Hahn
Aus vielzähligen Engeldarstellungen der christlichen Kultur kennen wir Engel als schöne, erhabene, geflügelte Gestalten. Auch wurden Engel in der früheren religiösen Kunst als ‹Kinder› dargestellt. Viele Maler hatten damals noch ein lebendiges Seelenempfinden für die Wirklichkeit der Engel, die Kindgestalt war Ausdrucksmittel für den Reinheitscharakter ihrer Wesen. Die Qualität der Unverfälschtheit, des Himmlisch-Reinen, sollte dadurch vermittelt werden. Doch wie wirkt ihr Anblick auf uns, wenn wir sie geistig schauen?
Ein Erstes: Engel sind heilig, und das vernimmt man ganz unmittelbar in ihrer Gegenwart. Wenn man sie selbst danach fragt, was ‹heilig› ist und warum sie ‹heilig› wirken, dann antworten sie: «Heilig bedeutet: ‹Aus der Kraft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes›. Das ist heilig: ‹aus der Kraft der Trinität›.»
Ein Weiteres: Engel sind lichtvoller, schöner, erhabener, vielgestaltiger und in ihrer Ausstrahlung ergreifender als alle Gemälde und bildlichen Darstellungen, die wir kennen. Wenn wir uns innerlich auf sie einstimmen, sehen wir sie als innig-anmutige Lichtwesen in mannigfaltigen Ausdifferenzierungen, in unterschiedlichen Größen, in differierenden Haltungen, Merkmalen und Physiognomien. Keinesfalls sind die Engel ‹gleich›. So wie wir Menschen in der Gesamtgestalt immer als ‹Mensch› wahrgenommen werden können, so zeigen sich auch die Engel in einer erkennbaren ‹Engelgestalt›. Doch wie jeder Mensch auf Erden sein ganz eigenes, individuelles Aussehen hat, so zeigen sich Engel auch in ganz vielseitigen, ausdifferenzierten Ausdrucksgestalten.
Sie erscheinen uns, als ob sie in wunderschönen ‹Lichtschleiern› gekleidet wären, die in ganz feinen, durchscheinenden Farben leuchten. Diese ‹Schleier› sind nicht etwas ‹außerhalb› des jeweiligen Engels, sondern stellen die eigene Seelenleiblichkeit der Engel dar, sie gehören ganz unmittelbar zu ihrem Wesen dazu. Die Gewandfarben der Engel sind zugleich Ausdruck ihrer individuellen Aufgabe und ihres Wirkungsbereiches. Ein Friedensengel zum Beispiel erscheint immer weiß, oder in einem Weiß, welches ganz leicht gelb-gold durchsetzt ist. Ein solcher Engel könnte nicht rötlich erscheinen, denn das würde nicht seiner charakteristischen Natur entsprechen. Die Farbigkeit der Engel spiegelt also ihren Auftrag und ihre Bestimmung wider.
Manche Engel sind in einer einheitlichen Farbe ‹eingekleidet›. Bei den meisten kann man jedoch mehrere Farben wahrnehmen, die in sanften Verläufen ineinander übergehen. Einige Engel haben um ihr Haupt ein besonderes Leuchten, wie einen goldscheinenden Aura-Kranz andere nicht. Von den für uns gewohnten irdischen Eindrücken ist das feine, durchschimmernd-lebendige Leuchten der Regenbogenfarben das Einzige, das man mit den Farbgebungen der Engelgewänder vergleichen könnte. In der geistigen Welt gibt es jedoch in einer gleichen Farbnuance weit mehr Differenzierungen, als wir das von unserer irdischen Sinneswelt her kennen. Es gibt zum Beispiel Weißtöne, die sich in ihrer ‹Gestimmtheit› unterschiedlich anfühlen, obwohl sie alle ganz weiß ‹aussehen›. Christus dienende Engel sind in ihren Gewandfarben strahlend weiß, und die Engel der Himmelsmutter sind ebenfalls strahlend weiß, und trotzdem trägt ihre Farbigkeit eine etwas anders geartete Wirkung in sich, an welcher man sie unterscheiden kann.
Wenn Engel gleichen Aufgabenbereichen unterstehen und in Gruppen tätig sind, dann erstrahlen sie auch entsprechend in der gleichen Farbe. Durch unseren ungeübten Blick können wir dabei den Eindruck haben, dass sie sich zum Verwechseln ähnlich sind. Doch wenn wir unsere innnere Aufmerksamkeit länger darauf richten, bemerken wir, dass auch diese gruppenbildenden Engel durchaus unterschiedlich sind. Ihr Antlitz und ihre Haltung haben immer auch etwas Individuelles, und die Gewänder weisen, obwohl sie sich in den genau gleichen Nuancen zeigen, doch feine Detailunterschiede auf.
Es gibt nicht männliche und weibliche Engel, wie wir es vom Menschengeschlecht her kennen. Es gibt jedoch Engel, die überaus kraftvoll, groß, aufrecht und sehr entschieden bis streng wirken können und die wir eher als ‹männlich› bezeichnen würden. Und es gibt Engel, die in ihrer Wirkung vorwiegend eine berührende, verständniserfüllte Milde und eine sanfte, umhüllende Wärme ausströmen. Diese würden wir dann eher als ‹weiblich› bezeichnen. Engel verkörpern durch ihre Gestalt also unterschiedliche Aspekte des Geistigen, denen sie entsprechen. Diese Merkmale bilden zugleich die Grundqualitäten ihres eigenen Wirkens ab.
Auch können wir bei den Engeln feststellen, dass ihr Inneres und ihr Äußeres immer im Einklang miteinander sind. Das ist anders als bei uns Menschen, denn wir können durchaus etwas nach außen darstellen, was sich in unserem Inneren ganz anders gestaltet. Ein Mensch kann zum Beispiel überaus freundlich wirken und sprechen, dabei aber etwas Abfälliges denken, etwas Negatives empfinden, sogar etwas Böses tun. Bei den Engeln ist es nicht so. In ihrem Wesen gibt es keine Widersprüche und Diskrepanzen, keine ‹Brüche›. Rudolf Steiner beschreibt es folgendermaßen: «Der Mensch ist fähig, etwas wahrzunehmen und andere Vorstellungen in seinem Inneren zu erwecken, auch zu äußern, als sie den Wahrnehmungen entsprechen. Die Möglichkeit der Lüge besteht bei den Wesenheiten der dritten Hierarchie, wenn sie ihre Natur beibehalten, nicht. (…) Diese Wesenheiten müssen im Reich der absoluten Wahrheit leben, wenn sie sich überhaupt erleben wollen. (…) Und jede Abweichung von der Wahrhaftigkeit würde diese Wesenheiten betäuben, ihr Bewusstsein herabstimmen.»2
Wesen und Erscheinung der Engel sind also übereinstimmend und bilden zugleich eine Einheit mit ihrer Mission. Ihr unterstes Wesensglied ist ihr ätherischer Leib, der jedoch feiner gewebt ist als der menschliche. Ihr astralischer Leib ist ihr eigentlicher ‹Lebensleib›, also das, was bei uns das Lebendige unseres Ätherleibes ausmacht.
Auf die Frage nach ihrer Erscheinung und Beschaffenheit geben die Engel folgende Hinweise:
«Wir sind aus Licht gewebt.»
«Was bedeutet das?»
«Eure Substanzialität ist aus den vier Elementen gewoben, die dem Irdischen eigen sind, aus unterschiedlichen Ätherqualitäten und aus sehr ausdifferenzierten Astralsubstanzqualitäten. Bei uns ist es so, dass wir nicht einfach aus ‹Äther› sind, sondern vorwiegend aus Lichtäther, aber mit weiteren Ätherqualitäten gemischt, die unserer jeweiligen Natur und Beschaffenheit entsprechen. Das Seelische, das uns belebt und sich in unserer ‹Farbigkeit› darstellt, ist ein weit durchgeistigteres, reineres Astralisches als bei euch, es ist ein ‹höheres›, ‹geläutertes› Seelisches. Und dieses macht gar nicht unser ‹Empfinden› aus, sondern ist uns nur Lebensleib. Unser ‹Empfinden› und ‹Denken›, unser inneres Sein ist bereits geistig.
Das Seelische ist euch Innenleben, uns ist es – in einer geläuterten Qualität – Lebensleib, wie euch der Ätherleib. Du siehst einem Engel an seiner Erscheinung sofort sein ‹Seelisches› an, weil das schon sein ‹lebendiger Leib› ist. Und darin drückt sich zugleich sein Geistiges aus, weil er eins ist mit sich selbst.
Ihr seid das noch nicht, werdet es aber im Laufe eurer Entwicklung durch die Inkarnationen. Einige geistige Wesen können sich durchaus verstellen, aber wenn man sie in ihrer eigentlichen Gestalt sieht, erkennt man sofort ihre Geistigkeit, da diese eins ist mit ihrer seelischen Erscheinungsform. Bei euch Menschen spiegeln sich in den jeweiligen Inkarnationen jeweils nur bestimmte Aspekte eures Wesens in eurer Erscheinung wider. Das Geschulte, das Erlittene, das Erarbeitete sieht man einem Menschen auch an. Aber er kann sich noch sehr verbergen und verstecken, wie Luziferische auch. Das wird in einigen Jahrtausenden nicht mehr möglich sein. Euer Antlitz wird sichtbar die Außenseite eurer Innenseite werden.»
Die luziferischen Engel können also anders erscheinen, als sie sind, sie können sich verstellen, die Gestalt eines anderen Wesens annehmen, können uns etwas vormachen und uns hereinlegen. Auch die ahrimanischen Wesen können diese Eigenschaften haben, doch nur sehr bedingt, denn sie sind nicht Meister im Spiel mit dem Licht.
Ganz anders ist es bei den Engeln des wahrhaftigen Lichts. Ihr Äußeres entspricht ihrem Inneren in harmonischer Übereinstimmung, sie bilden eine völlige Einheit und stellen somit als Gesamtgestalt eine ‹verkörperte Wahrhaftigkeit› dar. Zugleich ist ihre Erscheinung nicht so unveränderlich wie unsere physische Gestalt. Sie ist wandlungsfähig und bringt dadurch unterschiedliche Ebenen des Eingebunden-Seins in ihren jeweiligen Wirkungsfeldern zum Ausdruck.
Bei Festlichkeiten des geistigen Geschehens, wie zum Beispiel in den Heiligen Nächten, erscheinen die Engel in prächtigeren, feierlicheren Gestalten, so als ob ihre Gewänder ‹fedriger›, eindrücklicher und leicht ausladender wären. Immer wieder erstaunte und bewegte mich diese Wahrnehmung.
Eines Tages schaute ich mir eine weiß-hellgräuliche Vogelfeder an, die ich im Garten gefunden hatte. Sie war vom Ansatz her bis zu ihrer Hälfte ganz flauschig und weiß; ab der Hälfte zur Spitze hin war sie ausladender und von der Struktur her glatt. Auch verdunkelte sich ihre Farbigkeit nach außen hin. Erneut entstand in mir die Frage nach der sich verändernden Erscheinung der Engel:
«Wie wundersam diese Federn als Teil des ‹Vogelkleides› sind. Wie ist es mit euren ‹Engelkleidern›?»
«So ähnlich ist es mit unseren ‹Gewändern› auch. Es gibt eine innere Seite, die ganz ‹fedrige›, ‹flauschige›, wie ihr sie nennen würdet. Diese entfalten wir in besonderen, bestimmten Augenblicken und Zusammenhängen. Und es gibt die äußere Seite, die ‹glattere›, ‹fließendere› und ‹farbendurchwobenere›, in der wir euch in der Regel sichtbar werden. Unsere ‹Gewänder› sind Teil unsere Wesens, wir ziehen sie nicht ein und aus, wie ihr das mit euren Gewändern macht. Sie spiegeln ausdruckshaft unsere Aufgabenbereiche, unser Wirken, unseren ‹Charakter› – wobei auch der Charakter nicht so ist wie bei euch. Bei euch kann er von Leben zu Leben wechseln, wie auch das Erdenkleid, das ihr von Inkarnation zu Inkarnation wechselt – wenn auch euer Kern der gleiche ist. Bei uns ist der ‹Charakter› das, was unseren Kern darstellt und charakterisiert. Und das ist etwas Durchtragendes, Stetiges – nicht starr, denn auch wir befinden uns in Entwicklung, aber auch nicht wechselhaft, sondern strömend sich formend.»
«Wie sind eure Farben ‹vergeben›, was ist ihre Bedeutung?»
«Lediglich für den Blick aus eurer Welt darauf: Weiß ist die obere himmlische Welt, das reine Licht aus den höheren Sternensphären. Gold ist aus dem Zentrum, es ist die geistige Sonne eures Kosmos. Alle explizit sonnenhaften Wesen haben das himmlische Gold in sich, es erscheint in ihren Gewändern, um ihren sonnengebundenen Ursprung und ihre Aufgabe darzustellen. Oder es erscheint in ihrer Aura, was ihre Verbundenheit mit der Sonne aufzeigt und darauf hinweist, dass sie im Auftrage, im Sinne, im Dienste der Sonne handeln.»
«Wie ist die Farbigkeit der Wesen, die dem Gottvater direkt unterstellt sind?»
«Das könnt ihr kaum erfassen. Aber wenn, dann erscheinen Seine Engel im weiß-grünlichen Spektrum, zumindest meistens. Bei manchen ist da auch etwas ‹Ehernes›, aber nicht im metallischen Sinne, sondern als Abbild der Urgrundsubstanz der Schöpfung, die aus dem Licht entstanden ist.»
«Wie ist es mit den anderen Farben?»
«Sie wirken zusammen als sich gegenseitig ergänzende, sich unterstützende Aspekte des Schöpfungs-Seins. Sie dienen unterschiedlichen Aufgabenbereichen in der Gesamtheit der Schöpfung. Alle zusammen, wenn sie harmonisch miteinander ‹klingen›, erstrahlen wieder im heiligen Weiß, im Schöpfungslicht des Anfangs. Aber es ist ein Weiß, das alle Farben in sich trägt. Es hat sich der Welt in all seinen Facetten verschenkt, damit all diese Facetten auf ihre Weise wirken können und in der Ergänzung zu den anderen heilend, heilsam werden können. – Aus der Einheit die Vielheit, aus der Vielheit eine neue, selbst errungene Einheit. Darin ist die gesamte Entwicklung eurer Welt, eures Kosmos zusammengefasst!»
Durch die ‹Farbigkeit› der Engelerscheinungen können wir also einen Abglanz derjenigen Wirklichkeiten erleben, in deren Wirksamkeiten diese Wesen jeweils stehen. Unsere Wahrnehmungen sind hier jedoch nur ein anfängliches ‹Erspüren›, ein ‹seelisches Ertasten› dieser mannigfaltigen Realitäten der Geistwelten.
So wie die Engel uns in unterschiedlicher Gestalt, Farbigkeit und Größe erscheinen, so treten sie auch in unterschiedlicher Weise an uns heran. Hier stellt sich immer die Frage: ‹Wo› erlebe ich den jeweiligen Engel? Erlebe ich ihn zum Beispiel von vorne auf mich zukommend, erlebe ich ihn hinter mir oder vielleicht seitlich von mir stehend? Natürlich sind die Engel nicht an die irdischen Raumverhältnisse des ‹Hier› und ‹Dort› gebunden, wie wir es innerhalb der physischen Verhältnisse sind. Doch wir Menschen sind daran gebunden, und unsere Wahrnehmungen geschehen stets durch uns selbst. Rudolf Steiner stellt diesen Zusammenhang in wunderbarer Weise dar: «Man müsste also immer sagen – nicht: Ich nehme einen Engel wahr – denn das entspricht nicht ganz genau dem Erleben –, sondern man müsste sagen: Ich spüre, ich empfinde, dass ich von einem Engel wahrgenommen werde.»3 Hier geht es also darum, in welcher Weise ich ein ‹Gegenüber› in einem Engel erlebe. Wie nehme ich wahr, dass mich der Engel wahrnimmt?
Das, was für uns die ‹Verortung› eines Engels ist, also die ‹örtliche› Wahrnehmung der Engelgestalt, deutet bereits auf einen geistigen Sinnzusammenhang hin. Unser Erleben ist hier lediglich die ‹Übersetzung› eines bestimmten Aspektes des Verhältnisses zwischen dem Engel und mir. Wenn ich mich zum Beispiel von einem Engel eingehüllt erlebe, deutet dies auf ein anderes Verhältnis zwischen uns beiden hin, als wenn ein Engel unmittelbar vor mir erscheint und mich dadurch direkt anspricht. Diese Unterschiede sind uns bereits aus unseren physischen Verhältnissen vertraut: Wenn eine Mutter ihr Kind in liebevoller Umarmung hält, drückt sich darin eine andere seelisch-geistige Geste aus, als wenn jemand entschieden auf mich zuschreitet. Wiederum anderes spricht sich aus, wenn jemand geduldig neben mir steht und wartet, bis ich mich ihm zuwende, als wenn jemand mich frontal und eindringlich anblickt. Diese Begegnungsgesten innerhalb der Raumverhältnisse sind auch für unser normales Tageserleben niemals rein physisch, sondern bereits Ausdruck einer seelisch-geistigen Sprache. Und so ist es auch mit der Erscheinung der Engel: Natürlich ‹steht› der Engel nicht ‹hinter› mir, weil er selbst weder ‹steht› noch örtlich an meinen Rückenraum gebunden ist. Aber wenn ich ihn dort erlebe, dann weist dieses erlebte Bild auf einen bestimmten Aspekt unseres gemeinsamen Bezuges hin.
Zeit- und Raumverhältnisse erscheinen uns im Irdischen als durchaus abgegrenzt und somit auch als recht starr. Im Lebendigen des Geistigen sind sie das aber überhaupt nicht. Dadurch, dass wir in diesen Zusammenhängen noch ungeübt sind, denken wir beispielsweise die Engel eher als ‹statische› Gestalten, Gemälden oder Statuen gleich. Doch das sind sie nicht, ganz im Gegenteil. Sie sind sehr beweglich und wandlungsfähig, sie können – physisch gedacht – gleichzeitig an mehreren Orten agieren, können – zeitlich gedacht – gleichzeitig mehrere Tätigkeiten ausführen und können sich uns auch unter unterschiedlichen Aspekten ihres Wirkens zeigen.
Da wir selbst der schwere Klotz am Bein unserer Wahrnehmung sind, können wir schrittweise lernen, uns innerlich etwas beweglicher zu machen. In der Sinneswelt machen wir zum Beispiel die Erfahrung, dass wir jemanden, der uns gegenübersteht, deutlicher, ichhafter erfassen können als jemanden, den wir hinter uns erspüren. Der vordere Raum ist für unser Bewusstein nicht nur der ‹sichtbarste›, sondern auch der ‹wachste› und ‹klarste›. Nun können wir versuchen, diese klarere Wahrnehmungsqualität auch im Geistigen anzustreben. Ein geistiges Wesen, welches uns beispielsweise von der Seite erscheint, können wir bitten, dass es sich vor uns hinstellt. Dabei werden wir bemerken, dass wir es auf diese Weise viel deutlicher erkennen können. Übend können wir hier Verschiedenes experimentieren, um die Qualitäten unserer eigenen Wahrnehmungsfähigkeit kennenzulernen.
In einem unserer Seminare reagierte ein Teilnehmer recht aufgebracht bei einer solchen Übung. Es ging darum, den eigenen Schutzengel aus dem hinteren Rückenraum nach vorne hin zu bitten, damit wir ihn bewusster wahrnehmen. Dieser Teilnehmer empfand es als Anmaßung, ein geistiges Wesen zu ‹bewegen›. Doch eine solche Betrachtungsweise ist sehr irdisch geprägt. Die Interaktion zwischen einem Menschen und einem Engel findet im Menschen statt, innerhalb seines eigenen Herzensraums, sie ist kein äußeres, physisches Geschehen. Der Mensch ‹scheucht› dabei nicht den Engel hin und her, sondern erübt dadurch nur seine eigene seelische Beweglichkeit. Wenn wir die Engel ernsthaft und liebevoll darum bitten, uns hier zu unterstützen, sind sie gerne bereit, es zu tun. Durch lebendige Seelenbilder veranschaulichen sie uns die hier bestehenden Unterschiede zwischen unseren Welten:
«Unsere Welt, das Reich der Engel, ist in einer gewissen Weise ganz anders gestaltet als eure Welt. Ihr erlebt euch umgeben von einer Außenwelt, die euch als ‹Objekt› erscheint. Für uns ist dies nicht so, für uns ist alles ‹Subjekt›, wenngleich auch nicht ‹unser› Subjekt.»
«Ich kann das ‹denken›, für uns Menschen ist es aber nicht leicht, es wirklich nachzuvollziehen.»
«Gut, schaue: Ein Schäfer blickt auf seine Schafherde und auf seinen Hund, auf die Wiesen, den Wald, die ihn umgebenden Berge. Zugleich ist jedes Schaf schon Teil seines Wesens, er ist ‹ausgedehnt› und umfängt sowohl ätherisch als auch seelisch die gesamte Herde. Auch der Hund ist Teil seines Wesens, wie der verlängerte Arm bestimmter Willensimpulse von ihm. Auch die Landschaft mit ihrer Charakteristik ist wie ‹in› ihm. Er umspannt mit seinem Ätherwesen auch diese, und sie prägt sich ihm so ein, dass sie sein Inneres formt. Kannst du das nachempfinden?»
«So weit schon, ja. Aber wie ist es genau bei euch?»
«So ähnlich und doch ganz anders. Der Engel erlebt sich gleich in der Ausdehnung und Umgreifung seines Wirkungsfeldes. Er hat seine Aufgabe, zum Beispiel den Menschen, den er zu hüten hat, in sich. Der Mensch ist nicht außerhalb seiner, sondern innerhalb seines eigenen Wesens.»
«Ja, ich verstehe. Aber warum sehen wir euch ‹neben› uns?»
«Weil das euer Blick des Getrennt-Seins ist. Zunächst könnt ihr nur auf diese Weise Wesenheiten voneinander unterscheiden. Das wird sich mit der Zeit auch verändern, je mehr ihr lernt, geistig zu schauen. Die ‹Trennung› und das ‹Nebeneinander-Hinstellen› helfen euch, überhaupt das Vorhandensein mehrerer Ebenen und mehrerer Wesenheiten wahrzunehmen.»
«Noch eine ganz andere Frage: Warum können Menschen bei eurer Erscheinung ‹Furcht› empfinden? Was bedeutet dieses ‹Fürchte dich nicht›?»
«Das ‹Fürchte dich nicht› ist zunächst der Hinweis auf ein geistiges Schauen. Einen Engel wahrzunehmen bedeutet, zumindest für euch als heutige Menschen, herauszugehen aus der Sicherheit eurer Sinneswarnehmung. Eure Sinne sind für euch, in der Burg eures Getrennt-Seins von der Außenwelt, wie die Brücken über den Wassergraben, der eure Festung umringt. Ihr könnt diese Brücken herunterlassen oder hochziehen. Eure Sinneswahrnehmungen bringen euch Eindrücke von außen, wie wenn eure Reiter euch über die heruntergelassenen Brücken etwas von der Welt außerhalb eurer Burg hereintragen würden. – Eure Selbst- und Weltwahrnehmung war nicht immer so und wird auch nicht immer so bleiben, aber in dieser Zeit eurer Entwicklung ist sie so.
Auch die geistige Welt erscheint euch in eurer Welt des Getrennt-Seins als etwas außerhalb eurer Burg Seiendes, wie eine in weiten Fernen sich abzeichnende Landschaft. Nun, die Wahrnehmung eines Engels vollzieht ihr nicht über eure gewohnten Sinne, da fehlen euch die vertrauten Brücken. Es ist dabei so, wie wenn der Berg, den ihr am Horizont erahnt habt, auf einmal auf euch zuschreitet oder gar plötzlich vor eurer Burg auftaucht. Die ‹Überbrückung› fehlt euch, die Unmittelbarkeit des Erlebnisses erschreckt euch. Denn: Einen Engel nehmt ihr mit dem Herzen wahr, dabei kennt ihr die ‹Herzensbrücke› eurer Festung noch gar nicht. – Dies ist der eine Aspekt.
Der andere Aspekt ist die ‹geistige Kraft› eines Wesens, und dieser hat zu allen Zeiten gegolten. Vor einem Wurzelzwerg erschrickt fast niemand. Vor dem eigenen Schutzengel auch nur wenige. Doch vor einem großen Vatergott-Engel oder vor einem Erzengel ist die empfundene Ehrfurcht größer, da diese Wesen auch eine andere Substanzialität des Geistigen verkörpern. Vor einem grünen Hügel stehend, empfindet ihr auch etwas anderes, als wenn ihr unmittelbar am Fuße der Himalaya-Berge steht. Die Furcht ist hier ein Hinweis auf eine bestimmte Qualität der Ehrfurcht gegenüber der auftretenden geistigen Größe. Und beachtet dies: Ein erfahrener Bergsteiger verliert zwar die Furcht vor dem großen Gebirge, doch niemals seine Ehrfurcht davor. So könnt ihr auch, mit der wachsenden Erfahrung, zwar nicht die Ehrfurcht, aber die Furcht vor der höheren Geistigkeit verlieren.»