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Das Grauen ruht auch in der Gegenwart nicht

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In der Luft über Li erschien ein Lichtkegel.

Ein grauhaariger Mann mit dicker Hornbrille und grauem Dreireiher war darin zu sehen. Seine goldene Uhrenkette bewahrte die zugehörige Taschenuhr gerade so vor dem Absturz, indes er mir enthusiastisch zur Begrüßung zunickte.

Ich nickte respektvoll zurück.

»Wenn er klug ist, geht er nach der Abweisung nicht in Berufung!«, sagte Richter Homayer ohne irgendwelche Vorworte.

Ich hatte ihm eine Nachricht geschickt, in der ich ihn um eine private Konferenzschaltung unserer Nanobots gebeten hatte.

»Es ist keine Pflichtverletzung des Landes California festzustellen«, bekräftigte der Richter bereits, was er mir schon einmal gesagt hatte. »Wodurch sollte diese begründet sein?«, fuhr er fort. »Die Zivilisten sind aufgrund unglücklicher Umstände zum tragischen Opfer geworden.«

»Und wenn er doch in Berufung geht?«, wollte ich ängstlich wissen. Mir war klar, dass man sich bei dieser Klage nur zum Feind des Volkes machen konnte.

»Nun, dann ist das Land California dafür nicht zur Verantwortung zu ziehen. Die interessante Frage wird dann eher sein: Von welcher Waffenart sprechen wir bei diesem Drohnenangriff – mit oder ohne KI? Haben sie autonom oder auf Befehl gehandelt? Deshalb hält sich der Kaiser schließlich noch immer bedeckt, nicht wahr? Oder anders gefragt: Wer hatte Schuld, dass es Opfer gab? Die Maschinen? Jemand, der sie steuerte, ihnen den Befehl gab, einen Knopf drückte? Und sind programmierte Algorithmen einer KI auch ein Befehl eines Menschen, der Schuld hat, wenn die Maschine danach handelt? Äußerst komplexe Fragen, die alle von unserer Gesetzgebung nicht geklärt sind, weil der Kaiser sowie die Gildenoberhäupter eine Weiterentwicklung der Waffengesetze seit Beginn der neuen Weltordnung unterbinden.«

Das brachte mich zum Nachdenken. Insbesondere, weil ich tief in mir hoffte, dass Ivan als Kardinal der Blauen Garde nicht dafür belangt werden konnte. Schließlich hatte er nichts damit zu tun gehabt. Es gab so viel zu beachten. So viel stand auf dem Spiel. Die Technologie hatte sich seit der Umbrüche weiterentwickelt, die Gesetze aber nicht. Wie konnte das sein? Was hatte der Kaiser all die Jahre gemacht? Sich zurückgelehnt? Alles verschlafen?

Anscheinend, gab ich mir selbst die wenig befriedigende Antwort, hatte jedoch auch immer mehr das Gefühl, dass es durch die klaffenden Lücken in der Rechtsprechung schwierig werden würde, California erfolgreich zu verklagen. Ruhiger lehnte mich ebenfalls zurück. »Besten Dank. Für den schnellen Anruf und Ihre Zeit. Das weiß ich sehr zu schätzen«, ließ ich Richter Homayer wissen. »Das Thema nochmal durchzusprechen hat mich beruhigt.«

»Immer gern. Wenn Sie Fragen haben, zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren. In ein paar Minuten muss ich in eine Sitzung. Wir hören voneinander.«

Der Lichtkegel von Lis Projektion erlosch.

Das Gespräch war zu Ende.

Alles, was Richter Homayer bereits zur Vereitlung der Klage an Formulierungen im Vorfeld an mich weitergereicht hatte, war längst präventiv in meine Regierungserklärung eingeflossen und veröffentlicht. Hoffentlich beruhigte sich die Lage bald.

Nach einem weiteren Blick auf den ausführlicheren Untersuchungsbericht war ich damit zufrieden und unterzeichnete auf der letzten Seite mit blauer Tinte. Geschwind zog ich eine Schublade des Sekretärs auf und holte meinen Regentenstempel hervor. Ich packte schwungvoll Stempel und Stempelkissen auf das gewienerte Holz der Platte. Ein letztes Aufklappen, die leichte Drehbewegung des Stempels auf dem Stempelkissen, um die blaue Farbe aufzunehmen und schon setzte ich meinen persönlichen Stempel neben meine Unterschrift.

Offizieller konnte ich es nicht machen – wünschte mir, dass das und die geplante Trauerfeier Ende der Woche ausreichten, um einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen. Um die Schrecken dieses Tages langsam zu vergessen, denn das Grauen ruhte auch in der Gegenwart nicht.

Es hatte Anschläge gegeben. Ein Toter hier, ein Toter da. Scheinbar willkürlich und doch nicht willkürlich genug, um reiner Zufall zu sein. Immerhin willkürlich genug, um kein allzu großes Aufsehen zu erregen.

Noch.

Rayn beschäftigte sich in meinem Namen näher mit der Angelegenheit. Ein toter Magician wäre als Kollateralschaden irgendwelcher Machtkämpfe möglich. Das, was sich in California unter den magisch begabten Bürgern abspielte, schienen allerdings gezielte Attentate zu sein, oder vielmehr das Werk von Rebellen, die im Untergrund agierten – so vermutete Rayn.

Doch wozu brachten sie wahllos Magicians um? Weil sie sie hassten? Ganz allgemein magisch Begabte hassten? Wie konnte dann die größte Rebellin von allen eine durch und durch magisch begabte Frau sein? Das ergab keinen Sinn.

Ich weigerte mich just, von ihr jemals wieder als meine Mutter zu denken. Meine Mutter und mein Vater waren für mich gestorben. Nur so konnte ich all die schmerzhaften Erinnerungen zum Thema Familie ganz hinten, in eine Ecke meines Gedächtnisses packen. Dass sie mich irgendwann wieder heimsuchen würden, wusste ich. Ich hoffte nur, dass es nicht allzu bald sein würde und die Zeiten dann ruhiger wären. Sodass ich mir Zeit nehmen konnte, mich damit auseinanderzusetzen. Zeit, die ich jetzt nicht hatte.

Die Anschläge häuften sich.

Noch hofften wir, eine Verbindung zwischen den Opfern zu finden, abgesehen davon, dass sie Magicians waren. Noch hatte ich keine öffentliche Warnung herausgegeben. Bald würde ich es tun müssen.

Stirnrunzelnd verstaute ich meine Stempelutensilien wieder im Sekretär und raffte die Pergamentbögen zusammen, die Yasemine für mich einscannen und an alle Medien weiterleiten würde.

Gerade als ich mich erhob, öffnete sich die Tür.

America´s next Magician

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