Читать книгу Gretchens Rache - Isabel Rohner - Страница 4
ОглавлениеProlog
Wie immer ließ sie sich bei der Pflege ihrer Pflanzen viel Zeit. Langsam ging sie von einer zur nächsten – von der Aloe Vera zum Elefantenohr, vom afrikanischen Feigenbaum zum Zebrakraut und weiter. Jede schaute sie sich aufmerksam an und entschied dann, ob sie sie goss, ihre Blätter zärtlich streichelte, sie beschnitt oder einfach ein bisschen mit ihr redete. Manchmal sang sie ihnen etwas vor, sogar dem Bambus, auch wenn er das nicht immer mochte. Am liebsten jedoch waren ihr die Orchideen. Sie hoffte insgeheim, dass die anderen Pflanzen das nicht mitbekamen, und versuchte ihre Vorliebe nicht allzu deutlich zu machen. Aber insbesondere, wenn die Orchideen wieder zu blühen begannen, fiel ihr das schwer. Dann musste sie sich bewusst zusammenreißen, um erst alle anderen Pflanzen in dem kleinen, warmen Raum zu versorgen, bevor sie sich den Orchideen zuwandte.
Auch an diesem Tag war es so. Sanft strichen ihre Finger über die großen Blätter ihrer prächtigen Monstera deliciosa. Sie überprüfte die Fortschritte der Setzlinge – wie gern hätte sie mit dem Versuch, eine eigene Brechnuss zu züchten, endlich Erfolg, doch noch war es ein kleiner und schmächtiger Trieb, der da aus der Erde hervorzubrechen begann. Aus den Augenwinkeln sah sie schon die zartrosa und hellblauen Blüten ihrer Schmetterlingsorchideen. Wie wunderschön diese Blumen doch waren! Dass einige Menschen Orchideen für tote Gewächse hielten, konnte sie nicht verstehen. Sie waren einfach perfekt schön. Wäre sie eine Pflanze, sie würde sich wünschen, eine Schmetterlingsorchidee zu sein. Stolz, hochgewachsen und makellos.
Sie konnte nicht mehr länger warten. Eifrig zog sie sich einen Stuhl an die Fensterbank, auf der die Orchideen standen, und begutachtete jedes Detail: Bewunderte die zarten, doch widerstandsfähigen Blütenblätter mit dem charakteristischen Labellum, die langen eleganten Stängel mit den kurzen Blättern, befühlte die Konsistenz der Erde.
Sie war ganz in Gedanken versunken, als sie schließlich die Fliege bemerkte, die sich in den Raum verirrt hatte und sich nun auf dem Neuzugang niederließ, den sie erst gestern in der Gärtnerei gekauft und neben die Orchideen auf die Fensterbank gestellt hatte. Angezogen von der Farbe und wohl auch vom Duft, saß die Fliege nun auf den saftig rotgrünen Blättern der Dionaea muscipula.
Ohne Eile, aber mit zunehmender Gier erkundete die Fliege das süße Sekret auf den Blättern. Mit ihrem Saugrüssel folgte sie ihm auf den beiden aneinander liegenden halbkreisförmigen Blattflächen – eine kaum größer als die Fliege selbst. Sogar die Blattkanten mit ihren langen Stacheln wurden sorgfältig abgesaugt, ja es sah fast so aus, als ob die Fliege jede Ritze des Blattes liebkoste. Dann krabbelte sie auf die Blattfläche zurück.
Das war der Moment, als die Venusfliegenfalle wie ein Fangeisen zuschnappte.
Die Fliege war von der Schnelligkeit und der unerwarteten Bewegung völlig überrascht. Zwischen den Stacheln, die ihr nun wie Gitterstäbe den Weg versperrten, konnte sie zwar das rettende Außen noch sehen, ein Ausweg jedoch bot sich ihr nicht. Hektisch begann sie, sich in ihrer engen Zelle hin und her zu drehen. Jede Ecke abzusuchen. Wäre sie ein Mensch, sie hätte an den Stäben gerüttelt und laut geschrien. Ob auch Fliegen um Hilfe riefen?
Die Beobachterin konnte ihren Blick nicht von diesem Schauspiel abwenden. Sie wusste zwar, dass die Dionaea jetzt mit ihrer Arbeit beginnen würde, doch bislang war sie selbst noch nie Zeugin dieses Vorgangs geworden. Es war faszinierend. Was für eine außergewöhnliche Pflanze!
Erst würde die Dionaea untersuchen, ob ihre Beute es überhaupt wert war, verdaut zu werden. Lautete die Antwort ja, würden sich die Blätter langsam und genussvoll komplett schließen und ihrem Opfer jede Hoffnung nehmen. Je nachdem, ob die Pflanze ihre Beute ganz oder nur teilweise verdauen wollte, würden sie sich nach einem oder auch erst nach zehn Tagen wieder öffnen. Reichte es ihr vorher, würde sie das tote Insekt einfach wieder ausspucken. Die Reste würden auf die Erde fallen und dort ihren Zersetzungsprozess beenden. Diese Nährstoffe nähme die Pflanze dann über ihre Wurzeln wieder auf, während in ihren Fallen vielleicht schon eine neue Fliege gefangen wäre und auf ihren Tod wartete.
Zärtlich berührte die Beobachterin die Fliegenfalle mit der Spitze ihres Zeigefingers. Das Insekt krabbelte immer noch panisch umher. Sie konnte die Bewegung der kleinen Beine durch das Blatt hindurch spüren.
Dann schloss sich die Falle plötzlich ganz und nach einer Weile hörte das Krabbeln auf.
Der Blick der Beobachterin ging zurück zu den zartrosa und hellblauen Blütenblättern der Orchideen. Ja, diese Blumen waren wunderschön, doch auch irgendwie passiv, verglichen mit der fleischfressenden Nachbarpflanze, in deren unauffälligem Blattkerker nun ein tödlicher Vernichtungsprozess ablief.
Nach einer Weile beugte sich die Beobachterin nach vorne und berührte das geschlossene Blatt vorsichtig mit den Lippen. Sie meinte, in den feinen Blattadern eine Vibration spüren zu können.
»Willkommen in unserer Familie«, hauchte sie.
Vielleicht würde sie ihren Wunsch, eine Schmetterlingsorchidee zu sein, doch noch einmal überdenken.