Читать книгу Gretchens Rache - Isabel Rohner - Страница 5
ОглавлениеThank God, it‘s Friday
– oder doch nicht
Das Klingeln des Handys riss Linn Kegel aus dem Tiefschlaf. Welcher Idiot rief sie um diese Uhrzeit an? Und welche Idiotin hatte das Handy mal wieder nicht ausgeschaltet, bevor sie ins Bett gegangen war? Sie presste sich ein Kissen auf die Ohren und verzog sich in die hinterste Ecke ihres Bettes. Bis spät in die Nacht hatte sie noch am Plot für einen neuen Krimi gearbeitet und war erst um halb sechs in die Federn gekommen. Da konnte eine Autorin doch bitte erwarten, dass man sie am nächsten Tag ausschlafen ließ!
Fünf Minuten später meldete sich das Handy erneut.
»Ihr könnt mich mal«, murmelte sie unter ihrer Decke und wollte gerade wieder einschlafen, als es an ihrer Haustür klingelte.
»Lasst mich doch alle in Ruhe«, stöhnte sie. Doch das Klingeln hörte nicht auf. Widerwillig rollte sich Linn aus dem Bett und zog sich die Schlafbrille vom Gesicht. Ihre feuerroten Haare standen wild vom Kopf ab.
Nun schrillten Türklingel und Handy sogar im Duett.
»Jaja, ich hab’s ja verstanden. Huere siech!«, fluchte sie auf Schweizerdeutsch und schleppte sich zur Gegensprechanlage, dabei stieß sie sich auch noch den kleinen Zeh am Türrahmen. Aufjaulend und mit schmerzverzerrtem Gesicht warf sie einen Blick auf die Küchenuhr. Was hatten die Leute nur, es war doch gerade mal halb zwölf. Da musste man doch nicht so einen Terz machen. Oder hatte sie vielleicht etwas bestellt, das heute geliefert wurde? Sie konnte sich nicht erinnern. Was sollte sie bei dem aktuellen Stand ihres Kontos auch schon groß bestellen?
»Wer stört und mordet meinen Schlaf?«
»Ha! Mal wieder typisch!«, tönte die Stimme ihres Verlegers Jo Hartmann aus der Gegensprechanlage. »Verpennen, aber Shakespeare zitieren. Und nicht mal richtig! Ich warte im Auto auf Sie, Frau Kegel. Sie haben zehn Minuten. Und vergessen Sie Ihren Kamm nicht!«
Hartmann? Was machte denn Hartmann vor dem Haus? Linn lehnte ihre Stirn an die kühle Wohnungstür. Dann fiel es ihr wieder ein. Heute war Freitag. Heute begann das »Wochenende des Grauens«, wie sie es nannte. Hartmann nannte es Pressearbeit.
»Schiisdräck, vedammte Mischt«, schimpfte sie in ihrem Ostschweizer Dialekt. Wann würde sie es endlich lernen, solche Termine nicht immer aktiv zu verdrängen? Ihr Verlag hatte ein Pressewochenende im Spreewald organisiert: Seine erfolgreichsten Autorinnen und Autoren sollten auf die wichtigsten Feuilletonchefs und Literaturkritiker treffen. Zwei ganze Tage lang. Achtundvierzig Stunden ohne ein Entkommen. Sogar gemeinsame Abendessen waren eingeplant. Ein Albtraum.
Linn hasste solche Veranstaltungen. Sie hasste Pressegespräche und sie hasste Smalltalk mit anderen Autorinnen und Autoren. Überhaupt mit anderen Menschen. Sie wollte einfach nur zu Hause bleiben und in Ruhe an ihrem neuen Buch arbeiten. Möglichst ohne Kontakt zur Außenwelt. Aber das alles hatte sie Hartmann schon vor Wochen gesagt. Und schon vor Wochen hatte er geantwortet, dass sie laut Vertrag zu PR-Events verpflichtet sei. Was sollte sie darauf auch antworten?
»Schiissdräck«, fluchte sie immer weiter, während sie sich einen vierfachen Espresso machte, sich kurz unter die Dusche stellte und wahllos einige Klamotten in eine Reisetasche stopfte. Die Wohnung sah mal wieder aus wie Sau. Hoffentlich würde ihre Mitbewohnerin das freie Wochenende nutzen, um endlich mal durchzuputzen. Bei diesem Gedanken musste Linn lachen. Völlig unrealistisch. Ihre Mitbewohnerin Jenny Siefert war genauso chaotisch wie sie selbst. Wahrscheinlich war das der einzige Grund, warum sie schon so lange zusammenlebten. An menschlicher Sympathie jedenfalls lag es nicht.
Dreizehn Minuten nach der Klingelattacke griff sie nach ihrer geliebten abgewetzten Lederjacke, zog die Haustür hinter sich ins Schloss und stieg in Hartmanns Auto – die Haare noch feucht, in einer Hand eine Flasche Wasser, in der anderen eine angematschte Banane, das letzte Essbare, das sie auf die Schnelle in der Küche hatte entdecken können. Achtundvierzig Stunden mussten doch irgendwie zu überstehen sein, dachte sie. Doch erst stand eine mindestens sechsstündige Autofahrt in den Spreewald an. Sechs Stunden. Mit Hartmann.
»Okay, Frau Kegel, ich weiß, dass Sie auf dieses Wochenende überhaupt keinen Bock haben«, grüßte ihr Verleger sie betont gut gelaunt. »Aber ehrlich gesagt: Sie müssen auch gar keinen Bock haben. Es geht nämlich auch ohne.«
»Sie sind ja besonders witzig drauf heute«, erwiderte Linn.
»Warum sollte ich nicht? Ich habe eine lange Autofahrt vor mir und verbringe diese Zeit mit einer meiner unterhaltsamsten und sonnigsten Autorinnen! Da kann man sich doch nur freuen.«
»Haha«, antwortete Linn lahm.
Jo Hartmann ließ sich die gute Laune nicht verderben. »Auf mich wartet wahrscheinlich das denkwürdigste Wochenende in der Geschichte des Verlags!«
Linn warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das sandgelbe Wohnhaus, in dem sie schon seit ihrer Studienzeit wohnte, und zu ihrem Fenster im zweiten Stock.
»Ein denkwürdiges Wochenende? Seien Sie bloß vorsichtig, was Sie sich wünschen!«
»Warum? Wenn Sie sich ein bisschen zusammenreißen, kann doch eigentlich nichts schiefgehen.«
Damit startete er den Motor und fuhr durch die Kölner Südstadt zur Inneren Kanalstraße in Richtung Autobahn.