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Operation „Störfang“ – Mansteins 11. Armee erobert Sewastopol

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Viel Zeit zum Feiern bleibt den Siegern nicht. Schon läuft das Räderwerk zur nächsten, noch gewaltigeren Angriffsschlacht an. Operation „Störfang“ soll Sewastopol zu Fall bringen. Die Festung hält General Petrows Küstenarmee mit sieben Schützendivisionen in einer Gesamtstärke von über 100.000 Mann. Im Schlachtverlauf werden noch Verstärkungen auf dem Seeweg zugeführt. Den Verteidigern stehen gut 600 Geschütze, über 1.000 Granatwerfer, aber nur ein paar Dutzend Panzer und kaum mehr als 50 Flugzeuge zur Verfügung. Ihr gegenüber ist die 11. Armee mit siebeneinhalb deutschen und eineinhalb rumänischen Divisionen, zusammen rund 200.000 Mann, aufmarschiert. Dazu kommen überlegene Flieger- und Artilleriekräfte. Insgesamt warten 1.300 Geschütze auf den Feuerbefehl, darunter 600 großkalibrige Rohre. Auf deutscher Seite ist es die stärkste Konzentration an Artillerie während des gesamten Zweiten Weltkriegs. Ein unglaublicher Aufwand, zu dem der Gegner gezwungen hat. Die Russen haben die Zugänge zur Stadt massiv befestigt. Zahllose Bollwerke im Vorfeld müssen erst sturmreif geschossen werden. Manstein erkennt: Dafür reicht das übliche Vorbereitungsfeuer von Stunden oder gar Minuten nicht aus. Der Oberbefehlshaber der 11. Armee setzt vielmehr auf die Wirkung einer tagelangen Kanonade. Geplant ist eine nachhaltige Zerstörung.

So beginnt die Operation „Trappenjagd“ am 2. Juni mit einem fünftägigen Artilleriebeschuss und Luftbombardement. Richthofens Geschwadern stehen insgesamt 600 Maschinen zur Verfügung. Die totale Luftherrschaft der Deutschen bleibt auch in den Tagen des „Störfang“ unangefochten. Das VIII. Fliegerkorps fliegt bis zu 1.200 Einsätze pro Tag. Mit der überwältigenden Feuerkraft, die Heer und Luftwaffe entfesseln, sollen Hunderte Betonwerke, bestückt mit schwersten Batterien, breite Bunkergürtel und 350 Kilometer Schützengräben systematisch eingeebnet werden.

Unter den deutschen Geschützen wirken drei einzigartige Riesenrohre: der Gamma-Mörser im Kaliber 42,7 Zentimeter. Aus dem 6,72 Meter langen Rohr können 923 Kilo schwere Geschosse bis zu 14,25 Kilometer weit verschossen werden. Der Mörser „Karl“, auch „Thor“ genannt, hat ein Kaliber von 61,5 Zentimeter. Er verfeuert aus seinem fünf Meter langen Rohr 2.200 Kilo schwere Granaten auf Entfernungen bis zu fünf Kilometer. Die Geschosse durchschlagen zweieinhalb Meter dicken Beton beziehungsweise 45 Zentimeter starken Stahl. Noch weitaus monströser wirkt das Eisenbahngeschütz „Dora“. Das Ungetüm ist 43 Meter lang, sieben Meter breit, 12 Meter hoch und 1.350 Tonnen schwer. Dieses größte Geschütz der Welt, Kaliber 80 Zentimeter, verschießt Riesengeschosse im Gewicht von 4.800 beziehungsweise 7.000 Kilo. Die 7,80 Meter langen Granaten erzielen, je nach Art der Munition, Reichweiten von 38 bis 47 Kilometern. Zur Bedienung gehören nicht weniger als 4.120 Mann, die drei Schuss pro Stunde abfeuern können. Das Megageschütz durchschlägt bis zu acht Meter dicken Eisenbeton respektive 32 Meter gewachsenen Boden. Eine wahnsinnige Schöpfung durchgeknallter Rüstungsfachleute.

Der Luftwaffensoldat Kurt Kull9, Angehöriger der Flakbatterie 293, wird Zeuge der monströsen Veranstaltung. Seine Zwei-Zentimeter-Flak ist zum Schutz des Eisenbahngeschützes „Dora“ eingesetzt. Der blutjunge Frankfurter berichtet über den großen Knall:

„Der Schuss war ein umwerfendes Erlebnis: Die Detonation war so gewaltig, dass es uns zu Boden riss. Die zurücksausende Lafette konnte durch elastische Puffer erst nach mehreren Hundert Metern aufgefangen werden.“

Kull und seine Kameraden können sogar den „Austritt des Geschosses aus dem Riesenrohr“ genau verfolgen. Die einschlagenden Granaten reißen Löcher von der Größe eines Wohnhauses.

Während seines Einsatzes auf der Krim wird Kull allerdings auch Zeuge eines anderen niederschmetternden Ereignisses. Als die Flak-Kanoniere neue Stellungen schanzen, stoßen sie auf ein Massengrab mit männlichen Leichen. Kull und seine Kameraden erhalten Befehl, die Toten wieder mit Erde zu bedecken und sich ihre Deckungslöcher woanders zu graben …

Im Herbst 1942 soll die düstere Ahnung aus dem Sommer durch ein weiteres Vorkommnis indirekt bestätigt werden. Diesmal kann Kull durchs Fernrohr beobachten, wie SS-Angehörige 30 bis 40 kniende Männer durch Genickschuss liquidieren. Als der Frankfurter seinem Hauptmann Reichert gutgläubig Meldung über die Exekution macht, antwortet dieser schroff:

„Kull, vergessen Sie, was Sie gesehen haben!“

Aber der 20-jährige mit dem Bubi-Gesicht kann das Verbrechen nicht so einfach verdrängen, leidet seither unter Albträumen.

Derweil zermürbt das tagelange Trommelfeuer die Verteidiger Sewastopols. Allein die 8,8-Batterien des Flakregiments 18 verschießen im Laufe der 27-tägigen Schlacht 181.787 Granaten. Und das Artillerieregiment 22 der 22. Infanteriedivision verfeuert über 100.000 Granaten. Kann sich da überhaupt noch wer zur Gegenwehr erheben, wenn die deutsche Infanterie zum Sturm antritt?

*

Am 7. Juni beginnt der Vorstoß der 11. Armee auf Sewastopol. Den Hauptschlag führt das LIV. Armeekorps unter General der Artillerie Hansen mit der 22., 24., 50. und 132. Infanteriedivision von Nordosten her. Aber trotz des tagelangen Vernichtungsfeuers gibt es erbitterte Gegenwehr – erst im waldigen Berggelände, dann in den Festungswerken. Mörderischer Hitze liegt über dem rauchgeschwängerten Schlachtfeld. Am 13. Juni zeigt das Thermometer 38 Grad Celsius. In den Sturmgeschützen, die den vorgehenden Stoßtrupps zugeteilt sind, herrschen über 50 Grad. Schweiß fließt in Strömen, und bald auch Blut. Ein Mitkämpfer der Infanterie beschreibt seine Eindrücke der Schlacht:

„In einer kleinen Senke plötzlich ein feindliches MG-Nest. Auf unser Feuer hin stehen drei Mann auf und heben die Hände. Als wir langsam näher gehen, schießen zwei andere, die noch in Deckung liegen, mit dem MG auf uns. Ein weiterer stellt sich tot. Als wir vorbei sind, flitzt er hoch und will uns in den Rücken fallen. Das ist die bolschewistische Kampfmethode. Sie alle sprechen sich ihr Urteil selbst. Auf dem Boden Minen über Minen. Neben mir fliegt ein Kompanieführer in die Luft, fällt zurück und – steht, beinahe unverletzt wieder auf den Füßen. Aber nicht alle haben solches Glück.“10

Und wer meint, dass rumänische Offiziere nur Sonderrechte gegenüber der ihnen anvertrauten Truppe besitzen, Untergebene schlagen, sich gar feige vor dem Feinde zeigen, erlebt bei Sewastopol auch die andere Seite der Verbündeten. Die Männer der Sturmgeschützabteilung 197 bezeugen, wie todesmutige Führer aufrecht gegen die russischen Bunker vorgehen und ihre Soldaten durch das persönliche Beispiel mitreißen. Tapfere Offiziere und Männer braucht es unter diesen heiklen Kampfbedingungen ganz gewiss. Da sind zum Beispiel diese bis zu drei Meter tiefen russischen Laufgräben, die gegen Beschuss ziemlich unempfindlich und nur schwer aufzurollen sind. Zumal sie von entschlossenen, fanatisch kämpfenden Gegnern geschickt verteidigt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die sowjetischen Batterien an den Schwerpunkten der deutschen Stoßgruppierungen auf den Meter genau eingeschossen sind. Ihr Sperrfeuer kostet Blut und Zeit. Beides ist knapp auf deutscher Seite.

Der von seinem Oberarm-Durchschuss schnell wiedergenesene Pionier-Unteroffizier Josef Wimmer von der 50. Infanteriedivision erzählt von erbitterten Nahkämpfen gegen einen „sich zäh verteidigenden Iwan“ und erwähnt angesichts der eigenen blutige Verluste „unsere aufwallende Wut“ sowie die anschließende „brutale Reaktion. Wir machten sechs Gefangene, und fünf andere Russen wurden erschossen.“11

Im Vorfeld des Alten Forts sieht Wimmer plötzlich einen russischen Stahlhelm blitzen – „in etwa einhundertfünzig Meter Entfernung. Ich ließ mir rasch einen Karabiner reichen, entsicherte, zielte und schoss. Der Helm flog durch die Luft; man konnte es gut sehen.“ Der Unteroffizier vermutet, einen Späher getroffen zu haben. Kurz darauf wird Josef Wimmer durch 33 Granatsplitter schwer verwundet.

Bis zum 17. Juni toben die schweren, verlustreichen Kämpfe. Dann endlich gelingt die Wegnahme von sechs Festungswerken. Im Gefechtsbericht der 22. Division heißt es über die Kämpfe des Infanterieregiments 16 um das Fort Stalin: „Der »Andrejew-Hügel« war nur besetzt von Mitgliedern der kommunistischen Partei, dem wohl zähesten Feind, den wir je erlebt haben. Ein Bunker wurde von der Pak beschossen, ein Treffer in die Scharte verursachte 30 Tote, aber die überlebenden Russen wehrten sich weiter! Endlich, um 15 Uhr, kam der Gegner aus den Trümmern heraus. Die eigenen Offiziere waren sämtlich ausgefallen. Leutnant Zwiebler aus der Führerreserve erhielt die gesamten Teile des I. und III. Bataillons zur Führung. Ein Schwerverwundeter sagte, auf seinen zersplitterten Arm und verbundenen Kopf deutend: »Das ist nicht so schlimm – wir haben den Stalin!« Das war der Geist der Besessenheit, ein Ziel erreichen zu wollen. Erbarmungslos brannte die Sonne auf die Stahlhelme. Leichengestank lag über dem wüsten Schlachtfeld. Eine unbeschreibliche Menge Fliegen verekelte die reichliche Verpflegung.“

Beim Schwesterregiment 47 sind am 18. Juni noch 17 Offiziere, 50 Unteroffiziere und 372 Mann einsatzfähig. Damit hat nur jeder sechste Angreifer dieses im Schwerpunkt eingesetzten Verbands die ersten 12 Tage der Großoffensive auf Sewastopol unversehrt überstanden. Für Manstein „scheint das Schicksal des Angriffs in diesen Tagen auf des Messers Schneide zu stehen“.12 Neben den hohen Verlusten ist es vor allem der Zeitdruck, der dem Oberbefehlshaber der 11. Armee Kopfzerbrechen bereitet. Das OKH drängt bereits auf den Abzug des VIII. Fliegerkorps vom Nebenkriegsschauplatz Sewastopol an den Nordflügel der Heeresgruppe Süd ...

Viele Opfer fordert auch das Ringen der 132. Infanteriedivision um das mit überschweren Geschützen vom Kaliber 30,5 Zentimeter bestückte Fort „Maxim Gorki“. Immer wieder müssen Artillerie und Bomber der festliegenden Infanterie den Weg frei schlagen. Ein Mitkämpfer berichtet:

„Wiederum bot sich das ungeheuerliche Schauspiel eines fast dreiviertelstündigen Stuka-Angriffs auf den felsigen Berg. Turmhoch standen die Rauch- und Staubsäulen über dem Werk und verdichteten sich allmählich zu einer gewaltigen Wolke, deren langsamer Abzug für das gesamte Schlachtfeld das hervorstechendste Merkmal war.“13

Von den 1.000 Mann Besatzung des „Maxim Gorki“ ergeben sich schließlich noch ganze 40 Rotarmisten, allesamt verwundet – der Rest ist gefallen.

Am 21. Juni nimmt der Infanterist Walter Winkler14 an der Erstürmung der Bunker des Nordforts teil. Der Angehörige der 11. Armee berichtet:

„Die Zugänge zu den Stollen und Berghallen waren durch Panzertore gesichert […] Der wohlgemeinte Versuch, mit Hilfe von Gefangenen die Besatzungen zur Aufgabe zu bewegen – schon wegen der vielen Zivilisten in den Stollen – schlug fehl […] Ein junger Freiwilliger eines Pionierbataillons ließ sich schließlich vom Felsrand abseilen, um mit einer geballten Ladung einen der Eingänge aufzusprengen. Doch noch während er am Seil hing, ereignete sich eine gewaltige Explosion: Die Besatzung dieses Stollens hatte sich mit, wie sich später herausstellte, 1.400 Zivilpersonen in die Luft gesprengt.“

*

Der tiefe deutsche Einbruch an der Nordfront wird schließlich sechs Tage später zum Durchbruch auf die Sewernaja-Bucht erweitert. Pulverdampf und Staub, Hitze und Verwesungsgestank liegen über dem infernalischen Schlachtfeld. Der Kampf um die Seefestung auf der Krim geht in die letzte Runde.

Inzwischen ist auch Bewegung in die Südostfront von Sewastopol gekommen. Bis zum 25. Juni rückt das XXX. Armeekorps unter General der Artillerie Fretter-Pico mit der 72. und 170. Infanterie- sowie der 28. Jägerdivision auf die beherrschenden Sapun-Höhen vor. Die Hirschberger Jäger erzwingen den entscheidenden Durchbruch. In der Chronik der 28. Jägerdivision heißt es:

„Die Härte des Kampfes zeigen die vielen Verwundeten, die durch Bajonettstiche und Handgranatensplitter verletzt sind. Ein Gegenangriff auf die Höhe bricht bereits im Sperrfeuer der Artillerie zusammen.“

In der Nacht vom 28. auf den 29. Juni herrscht reger Betrieb am Nordufer der Sewernaja-Bucht. 100 prall gefüllte Sturmboote setzen auf die andere Seite über. Die angelandeten Stoßtrupps nehmen das befestigte Steilufer. Damit ist die Schlacht entschieden, wenngleich bis zur endgültigen Einnahme der Stadt am 5. Juli noch fast eine Woche vergehen soll.

Hauptmann der Luftwaffe Werner Pabst15 beschreibt den apokalyptischen Endkampf um die Festung: „Das ganze Land mußte mit Bomben und Granaten buchstäblich erst umgepflügt werden, ehe sie ein Stück zurückwichen.“

Die schier unglaubliche Opferbereitschaft vieler Rotarmisten nötigt nicht wenigen Landsern höchsten Respekt ab. Der Vertreter des Auswärtigen Amts beim Armeeoberkommando (AOK) 11, Hentig, berichtet am 6. Juli 1942 über Iwans Tapferkeit:

„Daß die Leistungen ungeheuerlich waren, wird gerade von Frontsoldaten anerkannt. Wie oft habe ich nicht voll Staunen gehört: ,Das hätte kein Franzose und kein Engländer, das hätten wir nicht einmal ausgehalten.‘ [...] Nur von der äußersten Front, kaum je von der deutschen Presse, ist das Draufgängertum und der in vielen Fällen unerhörte Mut nicht nur des Soldaten, sondern auch des Kommissars und Politruks anerkannt worden.“

Am Ende taumeln 95.000 zu Tode erschöpfter Rotarmisten in Gefangenschaft. Eine erstaunlich hohe Anzahl Überlebender angesichts des massiven deutschen Beschusses und Bombardements. Und ein Indiz für die enorme Stärke der sowjetischen Befestigungen. Beleg auch dafür, wie begrenzt die tatsächliche Wirkung von Trommelfeuer vielfach ist. Iwan versteht es eben vortrefflich, sich tief in die schützende Erde einzugraben. Nichtsdestotrotz bedecken Zehntausende Leichen das „umgepflügte“ Schlachtfeld. Davon sollen sich bis zu 5.000 der Gefangennahme durch Suizid entzogen haben. Von ehemals 200.000 Einwohnern hausen noch gut 30.000 in den Ruinen der leidgeprüften Stadt.

Neuneinhalb Monate ist die 11. Armee auf der Krim gebunden gewesen. Während dieser Zeit sind schwere Blutopfer erbracht worden. Seit Beginn des Ostfeldzuges hat der Großverband 70.000 Mann verloren, im Schnitt 10.000 pro Division! Überproportional hohe Verluste. Bis zu 25.000 deutsche Soldaten sollen im Kampf um die Krim gefallen sein.16 Auf Seiten der Roten Armee ist von annähernd 160.000 Toten in dem quälend langen Ringen auszugehen. Laut Feldmarschall Bock trägt nichtsdestotrotz Mansteins Feldherrnkunst wesentlich zur Bereinigung der Lage bei.

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