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Der Kessel von Demjansk
ОглавлениеFährt man mit dem Finger auf der großen Lagekarte nach Süden, gelangt man vom Oranienbaumer Kessel im westlichen Vorfeld von Leningrad über die lange Wolchowfront bis zum Nordufer des Ladogasees. Am Südufer schließt sich der Kampfraum Staraja Russa-Demjansk an. Bis zum Frühjahr ist der sowjetische Ring um das deutsche II. Armeekorps zwar aufgebrochen, der Kessel rund um die beherrschenden Waldai-Höhen aber nicht von den Truppen der 16. Armee geräumt worden.
Man muss kein Generalstabsoffizier sein, um angesichts der Frontlage und Kräfteverteilung die Absichten der Kombattanten richtig zu beurteilen. Während die Russen den nur wenige Kilometer breiten Verbindungsschlauch wieder kappen wollen, trachten die Deutschen nach einer Verbreiterung ebendieser dünnen Versorgungsbasis. Darüber hinaus träumt der zunehmend wirklichkeitsfremde Führer allerdings noch von einer Großoffensive aus dem südlich gelegenen Raum Ostaschkow. Von hier aus soll der Nordflügel der benachbarten Heeresgruppe Mitte, die 3. Panzerarmee, antreten. Treffpunkt: Waldai-Höhen. Damit soll die große Frontlücke zwischen Demjansk und Rshew angriffsweise geschlossen werden. Im Erfolgsfalle wäre der Gegner zwischen den inneren Flügeln der Heeresgruppen Nord und Mitte abgeschnitten. Und wenn die Führungsstäbe beider Seiten viel planen, bedeutet das wenig Ruhe für die Fritzen und Iwans in der HKL.
So kommt die Front auch im Abschnitt der 290. Infanteriedivision, die den Nordrand des Schlauchs nach Demjansk zuhält, nicht zur Ruhe. Der Sommer 1942 bringt einen regenreichen Juli und damit stark verschlammtes Gelände. Teils sind die Stellungen von Freund und Feind eng verzahnt, was zusätzlichen Stress bedeutet. Oberleutnant Franz Silzner59 vom III. Bataillon/Infanterieregiment 501, berichtet:
„Unsere Gräben wurden von den Russen immer wieder zusammengeschossen, wir konnten nur tief gebückt nach vorn oder in ihnen entlang weiter kriechen. Oftmals waren die Stellungen beider Seiten nur 30 bis 40 Meter entfernt. Das war für beide Seiten die Handgranaten-Wurfweite, und der Iwan war an jedem Tag zwei- bis dreimal in unserem Graben, während wir im Gegenzug das Gleiche taten.“
Einer dieser Gegenstöße soll die Lage nachhaltig verbessern. Kleine Gruppen in Stärke von drei bis vier Mann, die sich besonders auf das präzise Werfen von Handgranaten verstehen, überwinden im Laufschritt das Niemandsland. Feuerschutz geben Maschinengewehre, die flach über die feindlichen Gräben hinweg schießen. Inzwischen haben die Nahkampf-Experten die vorderste Russenstellung erreicht. Gewandt lassen sie sich über den Grabenrand rollen und robben auf der Sohle weiter. Die Stoßtrupps werfen Serien von Handgranaten und bewegen sich im Takt der Explosionen vorwärts. Der verwirrte Gegner wird weich, weicht zum Teil zurück. Aber wer sich über den Grabenrand erhebt, den packt das Dauerfeuer der deutschen MG. Und jene Rotarmisten, die sich hinter der nächsten Grabenkreuzung weiter zur Wehr setzen, werden schließlich mit MPi und Pistole niedergemacht.
Der Gegenstoß führt zu einem vollen Erfolg. Allerdings mit gewissen Nebenwirkungen. Viele Gefallene können nicht unter die Erde gebracht werden. Oberleutnant Silzner und seine Kameraden rümpfen in den nächsten Tagen die Nase, denn „der Leichengestank war derart penetrant, daß wir keinen Bissen mehr essen konnten und herausgezogen werden mußten.“
Erschwerend kommt hinzu, dass der Artilleriebeschuss die bereits bestatteten Toten wieder freilegt. Besonders gefürchtet unter den Landsern sind die 15,2-Zentimeter-Granaten. Die gut 50 Kilo schweren Geschosse der Haubitze 193860 werden auch „Schwarzer Iwan“ genannt, weil sie nach dem Einschlag ganz schwarzgebrannte Krater hinterlassen. Verschiedentlich wird das Kaliber des Geschützes falsch angegeben, nämlich mit 17,2 Zentimeter. Nach dem Beschuss müssen die alten und neuen Toten begraben werden. Je mehr Leichen daliegen, desto flacher fallen die Löcher aus. Sind es zu viele, rollt man die Toten in Bombenkrater. Dann Sumpferde drauf und Birkenkreuze drüber.
Herbert Brunnegger61, Angehöriger der SS-Totenkopf-Division erlebt in dieser „Totenstellung“ auch Kriegsverbrechen der eigenen Leute. Er wird Zeuge, wie ein Kamerad einen schwerverwundeten Rotarmisten in einem vorgelagerten Bombentrichter erschießt. Der Schütze, der seinen Karabiner mit Explosivgeschossen geladen hat, kommentiert seine mörderische Tat in einer völlig verrohten Art:
„Enorm, die Wirkung der B-Munition! Der Schädel in tausend Fetzen!“
Brunnegger muss auch die Folgen eines Feuerüberalls auf eine bespannte Artillerieeinheit der Russen mit ansehen. Der 18-jährige Sturmmann gelangt an einen Waldrand und erkennt „die grauenhafte Wirkung unserer Waffen. Der Anblick der herumliegenden, zerfetzten Menschen- und Pferdeleiber, aus denen es noch dampft, würgt mich zum Erbrechen.“
*
Etwas entspannt hat sich im Laufe des Jahres 1942 vielerorts das Verhältnis zwischen der deutschen Besatzungsmacht und nicht geringen Teilen der russischen Zivilbevölkerung. Dazu tragen sicher auch der Stellungskrieg und die warme Jahreszeit bei. Zwei Faktoren, die sich günstig auf ein halbwegs gedeihliches Zusammenleben auswirken. Das gilt zumindest für den frontnahen Bereich. Dass dahinter weiterhin ein brutaler Vernichtungskampf gegen echte und vermeintliche Todfeinde, Partisanen und Juden, tobt, ist kein Widerspruch dazu. Im Abschnitt der 5. Jägerdivision erhalten einzelne Bauern unter deutscher Regie Land von der Kolchose plus Erntehilfe zugeteilt.
Zwar sind aus den Besetzern längst noch keine Befreier geworden. Aber die Ergebnisse einer verbesserten Besatzungspolitik im zweiten Kriegsjahr sind nicht zu übersehen. Ebenso wenig wie die intimen Kontakte der deutschen Soldaten zu den sowjetischen Frauen. Darunter beileibe nicht nur unfreiwillige. Es gibt viele Zeugnisse der „Liebe im Vernichtungskrieg“, vor allem im deutschfreundlichen Baltikum und in der Ukraine. Die Folgen tragen die Frauen (aus). Nach der Eroberung Charkows durch die Rote Armee im Februar 1943 erschießen Geheimdiensttruppen des NKWD 4.000 Einwohner, vermeintliche Kollaborateure, „darunter auch Mädchen, die sich mit den deutschen Soldaten eingelassen hatten, besonders aber, wenn sie schwanger waren.“62
Auf der Gegenseite hat sich mancherorts der russische Ersatz verschlechtert. Bei der 5. Jägerdivision ergeben Verhöre, dass viele der Überläufer im Alter zwischen 16 und 50 Jahren nur eine sehr kurze Ausbildung absolviert haben. Kanonenfutter für eine rohe Armee, die so verschwenderisch mit eigenem Blut umgeht wie keine zweite in der Kriegsgeschichte. Aber trotz der ungeheuerlichen Verluste scheint das Reservoir an wehrfähigen Männern (und Frauen!) unerschöpflich. In Puncto Kopfstärke bleibt die Rote Armee der Wehrmacht drückend überlegen, besonders an den Nebenfronten der Heeresgruppen Nord und Mitte.
Zu der zahlenmäßigen Überlegenheit des Feindes kommen die Unbilden der Natur. Das Gelände im Kampfraum Demjansk bleibt sumpfig, und die warme Jahreszeit produziert Massen an stechwütigen Mücken. Das Leben wird zur Qual. Zumal die Hauptkampflinie oft nur 20, 30 Meter Sicht bietet und lediglich über kilometerlange Knüppeldämme mit dem Hinterland verbunden ist. Das Vegetieren in feuchten, verrauchten Erdbunkern, mangelhafte Hygiene und Versorgung sowie Läuse, Juckreiz, Ausschläge, Durchfälle, Fieber zehren an den Kräften und Nerven. So bereitet auch eine Nebenfront den Soldaten beider Seiten schlimmen Dauerstress.
Die Ruhe weg scheinen allerdings die dänischen Waffenbrüder des „Freikorps Danmark“63, einem Freiwilligenverband der Waffen-SS in Bataillonsstärke, zu haben. Mancherorts baden die lebensfrohen Skandinavier in wassergefüllten Bombentrichtern. Jedenfalls sind die Dänen nicht so lebensmüde, den Verheißungen der Russen zu folgen, wonach Überläufer angeblich „gutes Essen, weiße Betten, Wein und Frauen“ bekämen. Lieber kämpfen die „Wikinger“ um ihre Freiheit, statt sich ausgerechnet in die zu Recht gefürchtete sowjetische Kriegsgefangenschaft zu ergeben. Zumal die Lage aus damaliger Sicht noch recht hoffnungsvoll scheint.
Das am 8. Mai mit über 1.000 Soldaten in die Kesselschlacht von Demjansk gezogene „Freikorps Danmark“ zählt Ende Juli noch eine Grabenstärke von etwa 300 Mann. Viele Kameraden liegen in russischer Erde begraben. Vergessene Tote. Die Gedenkstätte für die Gefallenen in Hoevelte wird 1945 von dänischen Widerstandskämpfern gesprengt. Toten Landsleuten, die auf der falschen Seite für eine ungerechte Sache ihre jungen Leben geopfert haben, verzeiht man zu dieser Zeit nicht. Selbst tolerante Dänen wollen kompromisslose Zeichen setzen – und das Mitmachen vergessen machen. Mit Donnerknall gegen ein Ehrenmal.64 Und Schimpf und Schande, Tritte und Schläge und mehr für die überlebenden Ostfrontkämpfer nach ihrer Heimkehr.
Von einer anstrengenden Fahrt wieder in Porchow zurück, nimmt der beratende Chirurg der 16. Armee, Professor Dr. Hans Killian65, ein Bad im kühlen, kaffeebraunen Wasser des Schelon-Flusses. Der Freiburger, Jahrgang 1892, empfindet den Rhythmus der Natur dieser Tage als „geradezu hektisch“. Der kurze Sommer in Nordrussland läuft ab wie in einem Zeitraffer. Grüne Hetze. Als fühle die frische Sommerblüte schon wieder die nahe Herbstkühle.
Keine Scheu vor den Blicken des in der Sonne liegenden Professors zeigen drei junge Russinnen, die sich am gegenüberliegenden Ufer entblößen. Die Nackedeis scheinen nicht die geringste Scham zu empfinden. Für Killian ist es, inmitten des nicht enden wollenden Kriegselends, „ein paradiesischer Anblick und ein in seiner Naivität entzückendes Bild […] wie Paris am Schelon“.
Mit den paradiesischen Anblicken soll es schon bald wieder ein Ende haben. Zumal in den Stäben der 16. Armee das Unternehmen „Winkelried“ vorbereitet wird. Die Operation sieht vor, die Landbrücke zum II. Armeekorps im Kessel von Demjansk nach Süden zu verbreitern. Am 27. September beginnt der sorgfältig geplante Angriff. Wie eine chronische Krankheit mit immer wiederkehrenden Symptomen: Trommelfeuer, Luftbombardement, Sturmangriff – und im Anfangs- wie im Endstadium für zahlreiche Betroffene tödlich verlaufend.
Nachdem sich der Frühnebel verzogen hat, herrscht sonniges Spätsommerwetter. Im Tagebuch der 126. Infanteriedivision66 heißt es, dass der Feind an der Ssosna „einzeln in den Löchern getötet werden [musste]; selbst Schwerverwundete schossen bis zum letzten Atemzug.“ Der 19-jährige Helmut Nosbüsch67, Schütze 4 an einem schweren Maschinengewehr (sMG) in der 4. Kompanie/Infanterieregiment 422, macht den Angriff im Südteil des Schlauches mit. Vor dem Antreten ist Glühwein ausgegeben worden. Jetzt teilt der Feind, dessen Stellungen trotz des Luftbombardements durch Stukas und Me 109 größtenteils intakt geblieben sind, aus, und zwar mit grausamer Rohheit, wie Nosbüsch zu berichten weiß:
„Vor einem Erdbunker fanden wir einen deutschen Spähtrupp, tot, nebeneinander liegend mit durchgeschnittenen Kehlen; ein grausiger Anblick […] Wir hatten Kalmücken, Tataren und sibirische Sträflingsbataillone vor uns. Es waren die brutalsten russischen Einheiten, mit denen wir es zu tun hatten. Es gab kein Pardon, vorübergehend wurden keine Gefangenen gemacht.“
Abends meldet Generalleutnant Laux, Kommandeur der 126. Infanteriedivision, 70 Gefallene und 465 Verwundete in den eigenen Reihen. Ein hoher Preis für ein paar Meter Sumpf mehr.
Leichter voran kommt die rechts anschließende 5. Jägerdivision. Aber auch Generalleutnant Allmendingers Einheiten müssen örtlich erbitterten Widerstand brechen. Leutnant von Falkenhayn68, Kompaniechef im Regiment 54, erleidet bei den teils im Nahkampf geführten Gefechten Schuss- und Bissverletzungen!
Neben dem zähen Gegner bereitet den Angreifern das unübersichtliche Gelände, das durch Wald, Moor und Heide geprägt ist, Schwierigkeiten. Nichtsdestotrotz gelingt es, die Landbrücke bis zum 11. Oktober von vier auf zwölf Kilometer nach Süden hin zu verbreitern. Die dünne Nabelschnur zum II. Armeekorps ist etwas dicker geworden. Mit diesem Erfolg sind überhaupt erst die Voraussetzungen geschaffen, den Kessel von Demjansk ausreichend versorgen zu können, um für den mit Sicherheit zu erwartenden nächsten Großangriff der sowjetischen Nordwestfront einigermaßen gerüstet zu sein.
Man muss bedenken, dass schon der Bedarf einer einzigen Division riesengroß ist, und zwar nicht nur an Munition. Allein die 12. Infanteriedivision69 hat im ersten Halbjahr des Ostkrieges 8.110 Tonnen Verpflegung verbraucht. Das bedeutete einen durchschnittlichen Tagesbedarf von 66 Tonnen für das Jahr 1941. Die Bäckereikompanie der Division buk zwischen dem 22. Juni und 31. Dezember über zwei Millionen Brote. Und die Schlachtereikompanie zerwirkte 3.344 Rinder, 1.568 Schweine und 190 Hammel. An Zigaretten sind 1941 über 15 Millionen Stück, an Alkohol fast 100.000 Liter ausgegeben worden. Demzufolge rauchte jeder Divisionsangehörige in den ersten sechs Monaten des Russlandfeldzuges statistisch gesehen 750 Zigaretten. Also im Schnitt vier Glimmstängel pro Tag. Wenn er denn Raucher war; andernfalls tauschte er seine Zigarettenration ein, zum Beispiel gegen Verpflegung. Was den Alkohol betrifft, ergab sich für die genannte Zeitspanne ein durchschnittlicher Konsum von insgesamt fünf Litern. Daraus errechnet sich ein Tagesmittel von gut 25 Millilitern oder, anders ausgedrückt, ein Gläschen Schnaps.
Das Unternehmen „Winkelried“, auch „Michael“ genannt, bezahlen die deutschen Angreifer mit 415 Toten und 1.875 Verwundeten. Die Verluste der russischen Verteidiger werden auf 10.000 (!) Gefallene geschätzt. Dazu kommen Zigtausende Verwundete. Als Gefangene werden 3.178 Rotarmisten eingebracht.70
Um die Verwundeten beider Seiten müht sich der Stabsarzt Werner Forßmann71 nach Kräften. Als ihm zwei schwer getroffene Rotarmisten, die zehn beziehungsweise 15 Kilometer Fußmarsch hinter sich gebracht haben, vorgeführt werden, sieht der Chirurg nur geringe Überlebenschancen. Beiden ist die Bauchdecke aufgerissen, und sie halten ihre ausgetretenen Därme in einem Tuch. Ein Wunder und zugleich ein Beleg für die Härte der Iwans, dass sie es überhaupt bis zum Hauptverbandsplatz geschafft haben. Forßmann steht unter Zeitdruck, reinigt und vernäht notdürftig die Schlingen. Dann stopft er die Därme zurück in die Bauchhöhlen und schließt die Wunden. Als er sich ein paar Tage später nach den beiden Patienten erkundigt, bekommt er von seinem Feldwebel die überraschende Antwort:
„Verdauung normal. Appetit gut.“