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Der Fleischwolf von Rshew – Sommerschlacht 42
ОглавлениеSüdlich vom Demjansker Kessel liegt der Frontbogen Rshew. Jener berüchtigte Kriegsschauplatz am Nordflügel der Heeresgruppe Mitte, der 15 Monate lang, vom Dezember 1941 bis zum März 1943, schwer umkämpft bleiben soll. Rshew, Eckpfeiler am Oberlauf der Wolga und nur 200 Kilometer nordwestlich von Moskau gelegen, bildet eine permanente Bedrohung für die sowjetische Hauptstadt. Wenngleich auch mehr vom psychologischen Standpunkt aus gesehen als unter militärischen Gesichtspunkten betrachtet. Denn tatsächlich sind die deutschen Kräfte im Frontbogen Rshew, die 9. und Teile der 4. Armee, kaum stark genug, um ihre vorgeschobene Bastion an der Wolga zu halten geschweige denn um anzugreifen. Letztlich wird der vor dem Krieg gut 50.000 Einwohner zählenden Stadt ihre strategisch bedeutsame Lage zum Verhängnis.
Schon bald mehren sich die Anzeichen eines sowjetischen Großangriffs. Dann ist es soweit: Am 30. Juli eröffnet Konjews Kalininfront die Sommerschlacht bei Rshew. Der Generaloberst appelliert an die Rotarmisten seiner Heeresgruppe:
„Ich befehle, die Stadt Rshew zu nehmen! Vorwärts tapfere Soldaten! Gebt dem Lande die alte Stadt Rshew wieder! Tapfer voraus auf Rshew!“
Die 29. und 30. Sowjetarmee berennen die exponierten Stellungen der 9. Armee nördlich und nordöstlich der Stadt. Am 4. August schließt sich Schukows südlich benachbarte Westfront der Offensive an. Dabei schreckt der energische Stratege nicht vor brutalen Maßnahmen gegenüber seinen Soldaten zurück. Hinter der ersten Welle der angreifenden Rotarmisten rollen mitunter Panzer, die Befehl haben, auf die eigenen Leute zu feuern, falls diese nicht energisch genug vor- oder sogar zurückgehen. An den Schwerpunkten greifen die Divisionen auf ein bis zwei Kilometer Frontbreite massiert an. Starke Unterstützung für die Schützen liefert das Trommelfeuer der Artillerie, die nach Tausenden Rohren zählt. Die deutschen Verbände im Schwerpunkt des Angriffs zählen bis zu 9.000 Einschläge pro Tag.
In den Gräben und Stäben ahnt man schon bald: Bei dieser russischen Großoffensive handelt es sich nicht allein um ein Ablenkungsmanöver, das deutsche Kräfte im Zentrum der Ostfront binden und einen Abzug von Verstärkungen für die vorstürmenden deutschen Südarmeen verhindern soll. Vielmehr plant das sowjetische Oberkommando STAWKA, Feldmarschall Kluges Heeresgruppe Mitte aufzuspalten. Die Schlüsselpositionen Rshew und Sytschewka sollen endlich genommen werden, um den deutschen Frontvorsprung zu liquidieren. Darüber hinaus wird die Eroberung von Wjasma und Smolensk, zwei große Etappenstädte im Bereich der Heeresgruppe Mitte, ins Auge gefasst. Aus gutem Grund betraut Stalin Armeegeneral Schukow, den „Retter von Moskau“, mit dieser groß angelegten Operation, die das Zentrum der deutschen Ostfront zertrümmern soll.
Für die 9. Armee ist es von Beginn an ein verzweifelter Überlebenskampf. Die Nordfront gerät mächtig ins Wanken. An der Nahtstelle zwischen der 87. und 256. Infanteriedivision bricht der Russe tief ein. Rshew und die Wolgabrücken in der Stadt, die für die Versorgung des Brückenkopfs auf dem Nordufer des Stroms lebensnotwendig sind, werden indes durch die 6. Infanteriedivision gesichert. Das befehlsführende VI. Armeekorps versucht verzweifelt, den täglichen Massenangriffen der Sowjets Herr zu werden. Während Konjews Verbände die Wolgafront der 9. Armee unter Druck setzen, stürmen Schukows Stoßtruppen südlich von Rshew gegen die deutschen Linien zwischen Subzow und Karmanowo. Die 31. Sowjetarmee überrennt die 161. Infanteriedivision. Im Raum Karmanowo trägt das XXXXVI. Panzerkorps die Hauptlast der Kämpfe. Zwar kann die Westfront Subzow nehmen, aber der entscheidende Durchbruch auf den Eisenbahnknotenpunkt Sytschewka bleibt Schukows Armeen versagt.
Nicht zuletzt bremst das von Mischwäldern und Sümpfen durchzogene Kampfgelände das russische Vormarschtempo. Zudem erzeugen starke Regengüsse schlammige Wege, auf denen sich kaum noch ein Rad dreht. Vor allem aber sind während des monatelangen Stellungskriegs starke deutsche Stützpunkte, Bunker und Feldbefestigungen entstanden. Entsprechend schwer sind die Verteidiger zu überwinden, schnelle Durchbrüche kaum zu erzwingen. Unzählige Rotarmisten fallen dem heftigen Abwehrfeuer zum Opfer. Im Abschnitt der 5. Jägerdivision hört man nachts die russischen Verwundeten im Niemandsland stöhnen. Bald liegt ekelhafter Verwesungsgeruch über dem Kampfgebiet, das die 9. Armee trotz örtlich tiefer Einbrüche eines zahlenmäßig erdrückend überlegenen Angreifers vorerst behaupten kann.
Auf der Gegenseite erlebt Leutnant Peter Michin72 seine Feuertaufe. Beim Erkunden einer günstigen Stellung für die Geschütze seiner Einheit gerät der junge Offizier in einen deutschen Artillerieüberfall. Der Russe nimmt „auf einer Wiese mit schönen Blumen“ volle Deckung, schließt die Augen und betet um sein Leben:
„Als ich später aufstand, sehe ich, daß Gras durch mir unbekannte Säcke wächst. Ich habe einen Sack mit der Hand an mich gezogen. Und welch‘ ein Erschrecken: Das waren keine Säcke, sondern Soldatenmäntel. Sie waren grau. Mäntel von unseren sowjetischen Soldaten. In ihnen waren die Überreste der Leichen. Die Körper waren schon trocken, zusammengeschrumpft und schwarz. Entsetzen ergriff mich. Ohne nachzudenken, lief ich in ein nahegelegenes Gebüsch.“
Im Wolga-Brückenkopf Rshew-Subzow ist die 14. motorisierte Infanteriedivision, kurz: I.D. (mot.), eingesetzt. Darunter Helmut Martin73, der wechselweise als Richtschütze und Geschützführer an einer Panzerabwehrkanone (Pak) fungiert. Der durchtrainierte junge Mann mit den schwarzen Haaren erlebt düstere Wochen in Erdlöchern. Tagsüber kann kein Mensch den Kopf aus der Deckung nehmen. Jede Bewegung wird sofort mit Beschuss quittiert. Martin sieht, wie eine He 111 von den Bomben einer höher fliegenden eigenen Maschine getroffen wird. Das Flugzeug verschwindet vom Himmel – „als ein riesiger Feuerball“.
Zu den Dramen in der Luft kommt das Unglück am Boden. Hilflos muss der 20-jährige Sachse mit ansehen, wie vor seinen Augen der Kamerad Thomas, dem ein Granatsplitter die Brust aufgerissen hat, verblutet. Kurz vor der Einschlagserie sagte der Getroffene noch:
„Am besten, man kriegt eins ins Kreuze, da hat man wenigstens Ruhe!“
Seit dem 10. September spürt Thomas „nichts mehr von dieser elenden Scheiße“, wie er die Hölle bei Rshew kurz vor seinem Tod verfluchte. Die überlebenden Kameraden müssen weiterhin ihre Notdurft in leeren Konservenbüchsen verrichten, da die Vorderhangstellung der Panzerabwehrkompanie am Wolgaufer vom Feind eingesehen wird. Nach verrichtetem Geschäft wirft man die gefüllte Dose über den Rand des Deckungslochs. Das Elend in der HKL stinkt zum Himmel. Martins Kompanie zählt bereits 40 Gefallene. Die Stimmung erreicht einen neuen Tiefpunkt.
Ein Höhepunkt deutscher Waffenentechnik kommt in diesen Tagen bei der Panzerjägerabteilung der 14. I.D. (mot.) zum Einsatz: die Schwere Pak 41. Eine Panzerabwehrkanone, Kaliber 7,5 Zentimeter, mit überragender Durchschlagleistung. Die Mündungsgeschwindigkeit liegt bei 1.210 Metern pro Sekunde. Erreicht wird diese unerhört rasante V0 durch das konisch gezogene Rohr. Das heißt, es verjüngt sich von 7,5 auf 5,5 Zentimeter. Die durchs Rohre getriebenen, zusammengedrückten Granaten durchschlagen die Panzerung jedes sowjetischen Tanks schon ab 2.200 Metern Entfernung. Aus Mangel an Wolfram können allerdings nur zirka 150 Kanonen an die Front geliefert werden. Helmut Martin kann beobachten, wie ein T 34 von einer Schweren Pak 41 unter Beschuss genommen wird. Erst zerreißt „ein scharfer Knall die Luft“, dann ist „eine „kleine, stahlblaue Wolke“ am Turmdrehkranz des Tanks zu sehen – das Zeichen für einen Treffer.74
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Für gepanzerte Fahrzeuge droht auch vom Himmel her Gefahr. Schlachtflieger greifen massiv in die Bodenkämpfe ein. Um die Luftherrschaft über dem deutschen Frontvorsprung wird erbittert gerungen. Dabei erleiden vor allem die roten Falken schwerste Verluste. Allein die II. Gruppe/Jagdgeschwader 51 unter Hauptmann Grasser schießt über dem Wjasmabogen an einem einzigen Tag 46 russische Flugzeuge ab. Nichtsdestotrotz wiegen auch die deutschen Verluste schwer. Erstmals eingesetzte moderne rote Jäger, insbesondere die neue Lawotschkin La-5, erweisen sich der gefürchteten Me 109 als mindestens ebenbürtig. Die einmotorige, 1.850 PS starke Maschine erzielt eine Spitzengeschwindigkeit von 648 km/h. Dazu kommt die starke Bewaffnung mit einer 20-Millimeter-Kanone und zwei 12,7-Millimeter-MG, die dem 8,70 Meter langen Jagdeinsitzer eine beachtliche Feuerkraft verleihen.
Auf deutscher Seite trägt man den speziellen Erfordernissen der Ostfront durch Einführung der FW 190 Rechnung. Die bullige Focke Wulf mit dem Doppelsternmotor ist robuster als der elegante Messerschmidt-Jäger. Das Breitspurfahrwerk erlaubt Starts und Landungen selbst auf primitivsten Rollbahnen. Zudem erweist sich die FW 190 weniger empfindlich gegen Kälte und Beschuss. Und schließlich die überragende Feuerkraft in Form von vier 20-Millimeter-Rohren.
Wenngleich die meisten Piloten der Luftwaffe, dank ihres fliegerischen Könnens und nicht zuletzt aufgrund der größeren Erfahrung, immer noch russische Masse mit deutscher Klasse schlagen, machen sich die numerische Unterlegenheit und dadurch bedingte Überbeanspruchung von Görings Fliegerassen zunehmend bemerkbar. Zumal die taktische Reife des Gegners langsam, aber sicher wächst. Das pausenlos im Einsatz stehende Jagdgeschwader 51 verliert im August 16 Mann. Darunter so erfahrene Piloten wie Oberleutnant Weismann.75 Am 13. August 1942 findet der Sieger in 69 Luftkämpfen seinen Meister. Seit dem Abschuss seiner Me 109 wird der posthum mit dem Ritterkreuz ausgezeichnete „Schützenkönig“ der 12. Staffel vermisst. Der von den Russen als „Fleischwolf von Rshew“ bezeichnete Kampfraum kostet unablässig schwere Blutopfer. Auf beiden Seiten. Vor allem aber zu Lande.
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Der Gefreite Hans Heinz Rehfeldt76 macht die schweren Kämpfe im Verband der motorisierten Infanteriedivision Großdeutschland (GD) mit. Ursprünglich sollte die schlagkräftige Heerestruppe per Eisenbahn nach Frankreich verlegt werden. Doch als die Division endlich auf dem Transport ist, blicken ihre Angehörigen tief betrübt aus den Waggons Richtung Horizont. Denn an diesem 19. August geht die Sonne in Fahrtrichtung auf. Das aber bedeutet: Der Zug rollt nicht wie erhofft nach Westen, sondern nach Osten! Also geht das große Sterben in Russland weiter, statt endlich mal wieder wie Gott in Frankreich zu leben.
Am 20. August rollt der Zug auf dem Smolensker Bahnhof ein. Endstation. Entladen. Sammeln. Motorisierter Weitermarsch über Wjasma auf Sytschewka. Von dort geht es am 28. August über einen Knüppeldamm Richtung Rshew. Dichter Wald deckt die Marschbewegungen gegen feindliche Luftangriffe. Je weiter es nach Norden geht, desto lauter hören die Soldaten das unheimliche Grummeln der Front, Flugzeuggebrumm und Geschützdonner. Die Hölle hat die großdeutschen Grenadiere wieder!
Zirka vier Kilometer südlich Rshew graben sich die Männer vom Regiment 1/GD in Busch und Sumpf ein. Die kampferfahrenen Soldaten haben ein sensibles Gehör entwickelt, um aus dem Lärm der Schlacht die Zwischentöne herauszuhören. Darunter einer, der selbst alte Ostfronthasen stets aufs Neue aufhorchen lässt: der harte Abschussknall von Panzerkanonen – vielen Panzerkanonen! Die Furiere geben Schnaps an die Truppe aus, denn es wird hart kommen. Der Alkohol beruhigt und macht die ersten kühlen Septembernächte in den Erdlöchern etwas erträglicher.
Ab dem 9. September wird es ernst für die Soldaten des II. Bataillons. Die Elitedivision „Großdeutschland“ wird im Rahmen des XXVII. Armeekorps eingesetzt und zählt zu den gepanzerten Eingreifreserven der 9. Armee. Das bedeutet, dass die Einheiten des Verbands schwerpunktmäßig gegen eingebrochenen Feind antreten müssen. Eine Art Feuerwehr, die Brandherde an der Front bekämpft. Darunter auch die 9. Kompanie/II. Bataillon GD, in deren Reihen der Gefreite Rehfeldt steht. „Großdeutschland“ soll nichts weniger, als die Russen bis über die Wolga zurückwerfen.
Der erste Einbruch in die feindliche Grabenstellung gelingt. Doch beim Weiterstoß durch eine sumpfige Mulde wird die Kompanie vom undurchdringlichen Sperrfeuer der russischen Artillerie gepackt und in Deckung gezwungen. Fünf Meter von Rehfeldt entfernt krepiert eine Granate. Der Gefreite fühlt den Luftdruck der Detonation, hört die Splitter fauchen, spürt „einen kurzen harten Schlag am rechten Oberarm“, und fühlt, wie sein rechtes Knie „brennt“. Dazu der beißende Pulverdampf, der in Augen und Lunge brennt. Rehfeldt hat unverschämtes Glück, ist nur leichtverwundet. Er bleibt bis auf weiteres einsatzfähig.
Beim erneuten Antreten seiner Einheit am 11. September ist Rehfeldt wieder dabei. Die eigene Artillerie schießt Wirkungsfeuer. Darunter auch Mörser vom Kaliber 21 Zentimeter. Die schweren Koffer schlagen in die 800 Meter entfernten Feindstellungen. Dann stürmt die Infanterie der 9. Kompanie mit Gebrüll durch das buschige Sumpfgelände. Der Gefreite berichtet:
„Mit ,Hurraaaa!‘ stürmen wir mutig vor. Da wird man einfach mitgerissen! Aber im selben Augenblick, wo wir noch glauben, es heute zu schaffen, hören wir beim Iwan Unmengen von Artillerieabschüssen. Und dann ist da ein Heulen, Rauschen und johlendes Pfeifen in der Luft, wir verhalten kurz – dann sehen wir nur 50 bis 60 Meter vor uns, dort wo jetzt unsere Infanterie sein muss, schnell aufeinanderfolgende Einschläge blitzen, donnern und krachen. Da entsteht in wenigen Minuten eine ,schwarze Wand‘ – eine ,Mauer‘ krepierender Granaten aller Kaliber! Wir stehen starr! So ein Sperrfeuer haben wir bisher noch nicht erlebt! Die Erde bebt, erzittert, Splitter aller Größen fetzen umher! Dort kann man unmöglich hindurch!“77
Fast Unmögliches leistet die 2. Kompanie/Sturmpionierbataillon GD unter Oberleutnant Horst Warschnauer.78 Am 22. September stürmt seine Einheit bei Chermassowo binnen 20 Minuten 120 Bunker im Nahkampf! Mit Flammenwerfern, Sprengladungen, Spaten und Messern bezwingen die großdeutschen Pioniere die sowjetrussischen Besatzungen. Für seine Erfolge während der Operation „Max und Moritz“ wird Warschnauer am 12. Dezember das Ritterkreuz verliehen.
Bis Monatsmitte September ersäuft die Schlacht im Blut und Morast, den schwere Regenfälle erzeugen. In Rehfeldts 40 Mann starkem Granatwerferzug sind fünf Kameraden gefallen, weitere acht verwundet worden. 13 Abgänge binnen sechs Tagen. Und so wie dieser Zug fast ein Drittel seiner ursprünglichen Kampfstärke verliert, bluten Kompanien, Bataillone, Regimenter, Divisionen aus. Deutsche wie russische. Für den Gefreiten Rehfeldt endet die extrem blutige Sommerschlacht um Rshew am 18. September mit der Einlieferung ins Lazarett. Auf dem Verwundetenzettel steht: „Eilt! Granatsplitter-Infektion, Durchschuss. Feldlazarett Artinowo.“
Aber der Gefreite ist der Hölle immerhin lebend entronnen. Im Gegensatz zu vielen anderen GD-Angehörigen. Am 16. September noch hat Rehfeldt die Überreste des von einem Artillerievolltreffer getroffenen Kameraden Karl Viole geborgen, nämlich „blutige Uniformfetzen, einzelne Körperteile, einen Fuß mit dem Schnürschuh – sonst nichts!“.
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Der poetisch veranlagte „Anti-Soldat“ Willy Peter Reese79, der in jenem Sommer 42 mit der 95. Infanteriedivision gleichfalls bei Rshew im Einsatz steht, fasst seine schwermütigen Eindrücke in melancholische Zeilen: „Regenschauer und kühle Tage verwehten mit dem Herbst. In den Mulden sammelte sich lehmgelbes Wasser, und grundloser Schlamm überzog das Sumpfgelände im Raum von Rshew. Entlaubt standen die Erlen im Morast, Feuchte tropfte von Kiefern und Birken, verschmutzt und zertreten drückte sich das Steppengras auf den Boden. Trübe Rinnsale flossen über aufgeweichte Straßen. Die Erde triefte. Bei jedem Schritt sanken die Stiefel ein. Ein Sprühregen überschüttete uns, wenn wir die Fichtenzweige streiften.“
Auch die Einheiten der 5. Panzerdivision ringen schwer um den Eckpfeiler Rshew. Darunter die 5. Kompanie80 des II. Bataillons/Panzergrenadierregiment 14. An einem Bahndamm im Südteil der Stadt liegen sich die Kombattanten auf wenige Meter gegenüber. Die Landser auf der einen, die Rotarmisten auf der anderen Seite. Die über den Damm geworfenen Handgranaten der Iwans schlagen die Panzergrenadiere mit dem Gewehrkolben weg. Ein Wahnsinn: „Baseball“ mit Karabiner und Sprengstoff sowie vielen Toten und Verwundeten. Am 5. Oktober zählt die Kompanie noch eine Grabenstärke von 21 Mann, davon sieben mit leichten Verwundungen.
In der zweiten Septemberhälfte gelingt den Sowjets ein gefährlicher Einbruch in die Nordostfront der Rshew-Verteidigung. Doch einmal mehr zeigt sich eine große deutsche Stärke – der blitzschnelle Gegenstoß. Am 23. September bereinigt ein Stoßtrupp der 6. Kompanie/Infanterieregiment 18 unter Führung von Oberfeldwebel Albrecht Schnitger81 im scharfen Zupacken die Lage. Schnitger! Der geborene Kämpfer hat sich in der 6. Division einen geradezu legendären Ruf erworben. Unter anderem für die Vernichtung einer Feindgruppe in der Seidenfabrik wird der blonde Stoßtruppführer am 18. Oktober mit dem hochverdienten Ritterkreuz ausgezeichnet. Dieser Detmolder ist wirklich ein Phänomen; er scheint die Gefahr zu suchen, aber der Tod scheint ihn nie zu finden. Kann Soldatenglück doch unendlich wehren?
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Bis Ende September gelingt es dem unermüdlichen und taktisch geschickt agierenden Model mit seiner 9. Armee, die russische Walze unmittelbar vor den Toren Rshews zum Stehen zu bringen. Selbst in seinen stark frisierten „Erinnerungen und Gedanken“ fällt es Schukow schwer, das Scheitern der Offensive mehr schlecht als recht zu kaschieren. Entlarvend das seltsame Fazit des Memoirenschreibers:
„Nachdem wir die Verteidigung des Gegners durchbrochen hatten, wurden die Angriffe der Westfront eingestellt, so daß Rshew in den Händen des Gegners blieb.“82
Der Einsatz der letzten Reserven („Großdeutschland“, 72. Infanteriedivision) sowie die alles überragende Tapferkeit, Zähigkeit und Leidensfähigkeit des Landsers haben schließlich den Ausschlag für die deutschen Waffen gegeben. Der Abwehrsieg der Heeresgruppe Mitte ist nicht zuletzt der wendigen und genauen Feuerleitung der Artillerie zu verdanken. Allein das Artillerieregiment GD hat in drei Wochen, vom 10. September bis 1. Oktober, über 30.000 Granaten verfeuert.
Ihre bescheidenen Geländegewinne bezahlt die Rote Armee mit exorbitant hohen Blutopfern. Nach Abschluss der Kämpfe meldet Generaloberst Model fast 250.000 Feindtote. Eine Viertelmillion – eine unglaubliche, erschreckende Zahl! Ein russischer Offizier der 17. Garde-Schützendivision berichtet erschüttert über das Grauen auf dem Schlachtfeld:
„Im ganzen Krieg habe ich nichts Schrecklicheres gesehen: Riesige Bombenkrater, bis zum Rand mit Wasser gefüllt, am Wegesrand zerstörte Fuhrwerke und Autos, tote Pferde und ringsherum nur Leichen. Und aus dem Wald das Stöhnen der Verwundeten.“83
Zu den grässlichen Menschenverlusten kommen immense Materialeinbußen. Zwischen dem 11. August und 8. September sind 1.000 Russenpanzer zerstört worden. Das Flakregiment 10 hat mit seinen gefürchteten 88-Millimeter-Kanonen allein am 9. August nicht weniger als 50 sowjetische Kampfwagen außer Gefecht gesetzt.
Schwer wiegen auch die deutschen Einbußen. Die Verluststatistik der 9. Armee verzeichnet bereits für die ersten beiden Wochen der Schlacht, vom 30. Juli bis zum 14. August, 15.000 Gefallene und Verwundete; oder anders ausgedrückt: täglich 1.000 Abgänge. Insgesamt meldet die Heeresgruppe Mitte nach dem Abflauen der Kämpfe 42.000 Mann blutige Verluste. Aber nicht nur die Grabenstärken sind bedenklich gesunken, auch die Moral scheint in einigen Verbänden angeknackst. Das Kriegstagebuch der sächsisch-fränkischen 256. I.D.84 vermerkt über den 10. August: „Die russischen Panzer verfolgen eine neue Taktik: Sie fahren nur auf 1500 bis 2000 Meter an die HKL heran, bleiben so außerhalb des Bereiches unserer panzerbrechenden Waffen und schießen systematisch als gepanzerte Artillerie jede Stellung, jedes MG und schließlich jedes Schützenloch zusammen. Demoralisierende Wirkung bei der Infanterie, beginnender Panzerschock.“
Und in einem anderen Gefechtsbericht liest man: „Wir Jungen ahnten, die Alten bestätigten es überzeugt: Die Materialschlacht der Somme, der Kampf um stahlzerpflügte, blutgetränkte Quadratmeter wurden in Vorstellungen oder Erinnerungen zu neuerlebter Wirklichkeit.“
Es ist an der Zeit, diese Erinnerungen endlich aus dem Dämmerreich des Vergessens, Verdrängens, Verschweigens zu reißen und in eine angemessene Reihe mit den berühmten militärischen Brennpunkten des Zweiten Weltkrieges zu stellen. Denn am Oberlauf der Wolga, rund um Rshew, sind zumindest kaum weniger Soldaten gefallen als am Unterlauf, bei Stalingrad. Auf russischer Seite kündet jahrzehntelang kaum mehr als eine Gedichtzeile von Alexander T. Twardowski vom Massensterben im Zentrum der Ostfront:
„Ich wurde in der Nähe von Rshew getötet.“
Es darf noch mehr der Menschenopfer gedacht werden. Auf beiden Seiten. Gerade weil es in dieser gigantischen Abnutzungsschlacht keine ruhmreichen Sieger, sondern nur Verlierer gibt, denn der deutsche Abwehrerfolg erweist sich letztlich als wertloser Pyrrhussieg. Zwar binden die 9. und Teile der 4. Armee starke Feindkräfte im Zentrum der Ostfront, und nicht zuletzt ihr Stehenlassen als Lanzenspitze gegen Moskau hat der Heeresgruppe Süd das Überraschungsmoment für den „Fall Blau“ in die Hand gegeben. Aber damit wäre die wichtige Aufgabe der Täuschung des Feindes bis zum Sommer 1942 erfüllt gewesen. Mit Fortschreiten der deutschen Großoffensive im Süden hätte eine vorausschauende Rücknahme des überdehnten Frontbogens um Rshew auf eine verkürzte Sehnenstellung jedenfalls Kräfte in Stärke von einer Armee bei der Heeresgruppe Mitte freigemacht. Ein gutes Dutzend Divisionen, die etwa zur Deckung der langen Donflanke herangezogen werden konnten, statt diese heikle Mission allein den schwachen verbündeten Streitkräften der Ungarn, Italiener und Rumänen anzudienen. Deutsche Verbände, die sehr wahrscheinlich ausgereicht hätten, nicht nur zur Verhinderung der Stalingrader Katastrophe überhaupt, sondern um der Kaukasus-Offensive genug Rückhalt für einen durchschlagenden und nachhaltig gesicherten Erfolg zu geben ...
Aber Hitler will eben nicht mal an Nebenfronten Boden preisgeben, obwohl damit dringend benötigte Reserven für den Schwerpunkt im Süden gewonnen werden könnten. Die kräfteraubende Belagerung Leningrads, der gefährliche Kessel von Demjansk und der exponierte Frontbogen Rshew besitzen dagegen operativ keinen Wert mehr. Statt diese unhaltbar gewordenen Positionen spätestens im Herbst 1942 freiwillig zu räumen, soll die Rote Armee schon bald den Rückzug erzwingen.