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16. Juni 2006

Möwenburg

Carla und Emma saßen im Zug und waren aufgeregt. Seit über drei Jahren waren sie nicht mehr in Möwenburg gewesen. Damals hatten sie Doris besucht und waren bei Nele und Thomas Schuster eingeladen gewesen, um die Zwillinge anzusehen.

»Ob sich viel verändert hat?«, fragte Emma ihre Schwester.

»Glaube ich nicht«, bemerkte Carla. »Was soll sich in Möwenburg schon groß ändern? Es ist halt eine nette, gemütliche Kleinstadt.«

»Jaja, dir war es da schon immer zu eng und provinziell. Ich freue mich, endlich mal wieder ein paar Tage dort zu verbringen. In ein paar Stunden können wir schon auf das Meer schauen.«, Emma seufzte und malte mit dem Finger ein Herzchen auf die Fensterscheibe des Zuges. Draußen zogen Wiesen und Felder vorbei.

»Schau nur, Schafe!«, rief Emma aufgeregt und wedelte mit der Hand vor dem Fenster herum. »Kaum ist man aus Hamburg raus, wird es auch schon grün.«

Carla zog ihren Laptop aus der Tasche.

»Ich muss leider noch etwas für Frau Hagen fertig machen. Ich hoffe, das ist in Ordnung?«, sie sah Emma schuldbewusst an.

»Klar, kein Problem, ich habe etwas zum Lesen dabei. Aber ich wäre froh, wenn du auch mal richtig abschalten würdest.«

»Glaub mir, das wäre ich auch,« murmelte Carla, während sie ihre Datei öffnete und zu tippen begann.

Knapp eineinhalb Stunden später stiegen Emma und Carla in Möwenburg aus dem Bus, der sie von Kiel aus in ihre alte Heimat gebracht hatte. Emma sah sich auf dem idyllischen Marktplatz um und hüpfte aufgeregt mal nach rechts, mal nach links.

»Carla, schau, die Eisdiele. Sie ist immer noch da. Und der Blumenladen, der Bäcker, alles ist fast wie früher. Nein, es ist viel schöner. Schau nur, der Bäcker hat neue Markisen, weiß und grün. Und die Blumenkübel. Wie schön!«

Carla stöhnte. »Emma, kannst du mal kurz ruhig sein? Mein Handy klingelt. Und ja, ich finde auch, dass die Markise hübsch ist.« Sie grinste und zog ihr Handy aus der Tasche. Als sie den Namen im Display erkannte, erstarb ihr Lächeln. Frau Hagen höchstpersönlich.

In dem Moment bremste ein kleines, rotes Auto neben Emma und Carla und eine schicke Dame stieg aus. Sie trug eine schöne türkisfarbene Tunika zu einer weißen Hose, hatte eine große Sonnenbrille auf der Nase und trug einen flotten, blond gesträhnten Kurzhaarschnitt. Die Dame strahlte die beiden an und breitete ihre Arme aus. Emma fand ihre Sprache als Erste wieder.

»Tante Doris? Wow, du siehst fantastisch aus!«

Carla hatte vor Schreck ihre Chefin weggedrückt. Sie schaute zuerst auf ihr Handy, dann auf ihre Tante, dann schaltete sie das Handy aus und steckte es entschlossen in ihre Tasche.

»Ich behaupte einfach, da war ein Funkloch«, bemerkte sie, bevor sie auf ihre Tante zuging.

Beide umarmten Doris und schauten sie bewundernd an.

»Du siehst fantastisch aus!« Carla zupfte an Doris Haarsträhnen. »Die Frisur steht dir richtig gut. Und die Farbe ist toll!«

»Danke.« Doris strahlte. Vor etwas über einem Jahr war sie noch eine unscheinbar gekleidete Frau mit dunkelgrauen Haaren gewesen. Seit dem Tod ihres Bruders hatte sie immer mehr überlegt, ob sie ihr Leben wirklich so lebte, dass sie irgendwann einmal zufrieden zurückblicken konnte. Vor eineinhalb Jahren hatte ihre Mutter Käthe darauf bestanden, in ein Heim zu kommen. Sie wollte nicht von ihrer Tochter gepflegt werden.

»Ich werde immer mehr vergessen und es wird schwerer werden, auf mich aufzupassen«, hatte Käthe zu Doris gesagt. »Ich möchte, dass du dein Leben noch genießt. Ich hatte meins. Bitte, ich weiß, dass es mir in »Möwenruh« gut gehen wird. Ich kenne einige Pflegerinnen dort.«

Schließlich hatte Doris ihre Mutter schweren Herzens ins Heim gebracht. Aber diese war dort sogar noch einmal aufgeblüht. Käthe fühlte sich wohl mit den anderen, älteren Leuten. Sie hatte dort ein hübsches Zimmer und die Pfleger und Schwestern waren sehr nett.

Doris hatte beschlossen, ihr Leben mehr zu genießen. Sie war immer fleißig gewesen, hatte viel gearbeitet und sich wenig gegönnt. Eine eigene Familie hatte sie nie gegründet, das hatte sich nicht ergeben. Umso mehr hatte sie sich gefreut, als erst Carla und dann Emma auf die Welt gekommen waren. Sie hatte die Mädchen so gerne um sich gehabt. Aber dann zog Carla nach Hamburg und ihr Bruder verunglückte mit seiner Frau. Als Käthe im Heim war, wurde es sehr still in Doris Leben. Sie hatte sich auf ihre Hobbys besonnen, hatte einen Zeichenkurs besucht, eine nette Gruppe gefunden, die sich einmal die Woche jeweils bei Einem zum Kochen, Essen und Quatschen traf, hatte eine Typberatung gemacht, ging viel in Museen und Veranstaltungen und genoss ihr Leben. Sie fühlte sich rundherum wohl.

Nun waren »ihre Mädchen« endlich mal wieder bei ihr. Sie freute sich sehr.

»Was hast du mit deiner Hand angestellt?« Doris griff vorsichtig nach Emmas linker Hand.

»Das ist nur ein Schnitt, es tut fast gar nicht mehr weh und musste nur geklebt werden.«

»Wollen wir erst einmal zu mir fahren? Dann könnt ihr euch frisch machen.«

»Gerne.« Carla wuchtete zuerst Emmas voluminösen Koffer in den Kofferraum von Doris kleinem Auto, dann quetschte sie ihre kleine Reisetasche daneben. Sie stiegen ins Auto und Doris brauste los.

Bei Doris zu Hause hatte sich auch einiges geändert. Die Wohnung wirkte sehr luftig. Emma strich staunend durch die drei Zimmer. Alles war hell gestrichen, es gab keine wuchtigen Möbel mehr.

»Ich habe sehr viel ausgeräumt.« Doris trat hinter Emma und strich liebevoll über die Lehne des hellgrünen Sofas. »Ich konnte die dunklen Möbel nicht mehr ertragen. Und eine Schrankwand kommt mir bestimmt nie wieder ins Haus!« Doris lachte.

»Das sieht alles so schön aus.« Emma schaute bewundernd die kleine, weiße Kommode an, die im Wohnzimmer stand. Dort hatte früher die besagte Schrankwand ihren Platz gehabt. Ein kleines Bücherregal mit hübschen Glastüren stand an der Wand daneben.

»Wo sind deine ganzen Bücher?«, fragte Emma.

»Ich habe nur noch meine liebsten Bücher im Regal, die anderen habe ich verschenkt, weil ich sie doch nicht noch einmal lese. Es kommen so viele neue, gute Bücher heraus. Ich bin jetzt in so einer Tauschgruppe, das ist sehr praktisch, weil ich dann meine Wohnung nicht so vollstellen muss.«

Carla kam aus dem Arbeitszimmer, in dem sie mit Emma schlafen würde.

»Das ist ja eine tolle Ausziehcouch. Richtig gemütlich!« Carla gähnte und streckte sich.

»Du kannst dich auch gerne hinlegen, du siehst müde aus.« Doris strich Carla über die Wange.

»Ich möchte wenigstens noch einmal ans Meer und die Wellen rauschen hören. Dann schlafe ich nachher bestimmt wie ein Baby. Außerdem habe ich Hunger. Gibt es Alex` Fischbüdchen noch?«

»Klar, man kann dort jetzt sogar draußen sitzen, er hat einen kleinen Bereich mit einer Art Pavillon überdacht, sehr gemütlich. Dort sitzt man windgeschützt, kann aber trotzdem aufs Meer gucken.«

»Oh, wie schön, wollen wir dort hingehen? Die Fischbrötchen waren immer so lecker.«

»Klar, wollen wir gleich los?«, konnte Doris gerade noch fragen, da waren Emma und Carla schon zur Tür geflitzt und jubelnd hinausgelaufen.

Zwei Stunden später saßen sie in der Dämmerung in Decken gewickelt in Alex` Fischbüdchen und schauten den Möwen zu, die zwischen den Tischen nach Futter suchten. Dazwischen hüpften auch ein paar freche Spatzen herum. Einer hatte es gerade geschafft, einer Möwe ein Stück Brot abzuluchsen, und flog jetzt schnell mit seiner Beute davon. Die Möwe blieb verdutzt zurück.

Carla gähnte und rieb sich über den Bauch.

»Das war so lecker!«, schwärmte sie. Sie schaute träge zum Meer und gähnte.

Emma wickelte sich glücklich in ihre Decke.

»Nirgendwo ist es so schön wie hier.« Sie knibbelte mit dem Daumen an der Kerze auf dem Tisch herum. Doris lächelte.

»Das hast du schon immer gemacht. Vor dir war nie eine Kerze sicher.«

»Ups«, Emma grinste. »Tut mir leid. Ich habe wohl eine Schwäche für Wachs. Klappt es morgen mit Nele und Thomas? Können wir den Dachboden ansehen?«

»Ja, das ist kein Problem. Die beiden haben schon einen Großteil ihrer Sachen aus dem Haus geräumt, also bekommt morgen keinen Schreck.«

»So schnell?« Emma sah betrübt aus.

»Du hast gehofft, sie überlegen es sich nochmal? Ach Emma, das Haus seiner Mutter ist so groß und sie hat es extra umgebaut. Nele und Thomas haben mit den Kindern ihren eigenen, großen Bereich, mit eigenem Eingang. Seine Mutter wohnt in einer kleineren, frisch ausgebauten Wohnung unterm Dach. So eine Chance hätte ich mir auch nicht entgehen lassen.«

»Ich weiß. Aber was sollen wir denn mit dem Haus machen? Ich möchte es nicht verkaufen.« Emmas Miene verdunkelte sich.

»Das wird sich finden.« Doris strich Emma über den Arm. Dann stutzte sie.

»Was ist das für ein Grunzen?« Doris lauschte.

Emma spitzte ebenfalls die Ohren. Schließlich deutete sie lächelnd auf Carla. Die war in ihrem Stuhl eingeschlafen. Ihr Kopf war zur Seite geneigt und ihr Mund war leicht geöffnet. Sie schnarchte leise.

»Ich glaube, wir müssen nach Hause gehen. Obwohl es mir sehr leidtut, sie jetzt zu wecken.« Doris sah Carla liebevoll an.

»Vielleicht hat Alex ja einen Bollerwagen für uns, dann können wir Carla nach Hause rollen.« Emma kicherte und Doris schaute sie strafend an.

»Nein, das tun wir Carla nicht an. Stimmts, Carla!«, fragte sie etwas lauter in deren Richtung.

Carla schreckte auf, wischte sich verstohlen über das Kinn und blinzelte.

»Was ist los?«, fragte sie. »Warum sitzen wir noch hier?«

»Weil du so schön geschlafen hast.«, stichelte Emma.

»Gar nicht!«, murmelte Carla, erhob sich etwas schwerfällig und die Drei gingen nach Hause und fielen sofort in ihre Betten.

Emmas Sommermärchen

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