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ОглавлениеKapitel 1
– IN LAGUNA MAR –
Erin lauschte dem stetigen, leisen Brummen der Belüftungsanlage, während sie auf dem Bett lag und in die Dunkelheit starrte. Ihr Zimmer im Studentenwohnheim von Antibique war geräumig und verfügte über die üblichen Annehmlichkeiten. Eine Seite des Raumes wurde komplett von einer Videofensterwand eingenommen. Noch war sie in einem undurchdringlichen Schwarz getönt, doch bald würde sie hell werden. Dann würde sie Erins Tagesplan anzeigen und ihr Vorschläge machen, was aus dem Sortiment ihres katalogisierten und automatisierten Kleiderschrankes sie anziehen sollte – natürlich passend zum Wetter. Nicht, dass sie an einem gewöhnlichen Tag auch nur für fünf Minuten das Gebäude verließ.
Die Vorschläge, oder besser gesagt Vorschriften, würden selbstverständlich dem maranischen Standard entsprechend nur die Farben Blau, Weiß und Silber enthalten. Sie würden ihr an ihrem Avatar vorgeführt werden, der irgendwie nie so verschlafen aussah wie ihr echtes Ich.
Statt auf den üblichen Ablauf zu warten, stand Erin auf und riss das kleine, quadratische Fenster inmitten der großen Glasfront auf. Sofort erklang ein nerviges Piepsen, gefolgt von der Lautsprecheransage: »Achtung! Luftregulation unterbrochen! Bitte schließe das Fenster.«
Sie fragte sich, warum man es überhaupt öffnen konnte.
Draußen dämmerte es schon. Das Meer erstreckte sich ruhig und graublau bis zum Horizont, darüber färbte sich der Himmel von Weiß-Blau zu Rosa. Bald würde die Sonne aufgehen. Erin betrachtete die Szenerie eine Weile, dann streckte sie ihren Kopf etwas weiter aus dem Fenster und schaute an der verspiegelten Fassade entlang: hundert Stockwerke hinunter, hundert Stockwerke hinauf, kein einziges Fenster offen.
Wenig später betrat sie den Aufzug. Sie bewegte ihre Augen schnell nach oben rechts, um das Menü ihrer AR-Linsen aufzurufen, fixierte den Punkt ›Frühstück‹ und bestellte ArtLachs-Brötchen. Dann schaute sie auf ihr Radar, um festzustellen, ob ihre Freunde schon im Frühstückssaal waren. Kleine blaue Kreise tauchten am Rande ihres Sichtfelds auf und markierten die Positionen von Delano und Livina.
Alle Aufzüge öffneten sich direkt in die riesige Halle. Aus vierzig nebeneinanderliegenden Türen ergossen sich Studenten in den Raum. Sie ordnete sich in den Strom ein, vorbei an endlosen Reihen aus Tischen und Stühlen, die hin und wieder durch dekorative Elemente unterbrochen wurden: Virtuelle Wasserfälle, die von der zehn Meter hohen Decke direkt in den Boden hinein stürzten. In der Mitte des Raumes begrüßte sie ein riesiger Brunnen, dessen Wasserfontänen immer wieder kleine Werbeanzeigen herausspringen ließen.
Nicht schon vor dem Frühstück! Sie aktivierte ihren Werbeblocker. Dann folgte sie den blauen Pfeilen, die ihr den Weg zum Tisch ihrer Freunde wiesen.
»Morgen Cici!«, rief Delano mit einem Grinsen. Er hing mehr in seinem Stuhl, als dass er saß.
»Ich heiße Erin«, entgegnete sie, wie schon so oft. Erin Cécile Maresota, um genau zu sein. Die anderen wollten das nicht einsehen, aber konnte sie es ihnen verübeln? Erin war schließlich kein maranischer Name. Er kam aus dem verhassten Norden und, mal ehrlich, wer wollte schon mit denen in Verbindung gebracht werden?
Erin für ihren Teil mochte ihren Namen und kämpfte recht erbittert, aber leider meist erfolglos dafür, so genannt zu werden. Schließlich stammte er von ihrer Mutter.
Ivirinia Maresota starb, als Erin drei Jahre alt war. Sie konnte sich nicht daran erinnern. Schlimmer noch, Erin konnte sich überhaupt nicht an ihre Mutter erinnern.
Man sagte, sie habe anders ausgesehen und sich seltsam benommen. Mehrfach sei sie verschwunden und erst nach langer Zeit wiederaufgetaucht. Schließlich habe sie einer ihrer »Ausflüge« das Leben gekostet. In der Nähe der Grenze sei sie in Seenot geraten, ihr Schiff gesunken und niemand habe überlebt. Erins Vater Flavio redete nicht über das tragische Unglück. Er redete generell nicht über Ivirinia. Überhaupt redeten Erin und ihr Vater wenig, denn er wohnte in der weit entfernten Seestadt Caracol.
Erin war, zumindest was ihr Aussehen betraf, eine typische Maranerin. Sie hatte ein schmales Gesicht mit vollen Lippen und war von relativ großer, schlanker Statur. Gut, ihre schwarzen Haare waren glatt, was unter ihren Landsleuten eher selten vorkam. Doch sie hatte die typischen Augen, so dunkelblau wie der Ozean weitab von allen Küsten. Kaum jemandem fiel auf, dass ihre Haut ein kleines bisschen heller war als die der meisten.
»Setz dich hier her, Erin!« Livina deutete auf den Platz neben sich. Sie strahlte Erin aus ihren dunklen Augen an. Die unbändigen schwarzen Locken umspielten ihr rundes Gesicht so wie die Grübchen ihr Lächeln. Sie waren schon seit der Mittelschule befreundet.
Auf Livinas anderer Seite saß Ramón Cortez, wie immer eine Spur overdressed, was nicht wirklich zu der chaotischen Frisur und dem Dreitagebart passte. Erin mochte ihn nicht. Er war faul, arrogant und gab oft rassistische Bemerkungen von sich. Sie war überzeugt, dass er mit dem nach seinem Sturz vor zweihundertfünfzig Jahren verschwundenen Diktator Carlos Cortez verwandt sein musste, obschon er das jedes Mal, wenn man ihn darauf ansprach, entschieden abstritt. Leider war er nicht so einfach loszuwerden. Er war Delanos bester Kumpel und hatte ein Auge auf Livina geworfen.
Zu Erins Überraschung saß heute noch eine weitere Person am Tisch, eine junge Frau mit kurzen, schwarzen Rastazöpfen.
»Giii, ich bin Mariah«, stellte sie sich mit einem breiten Grinsen vor, das strahlend weiße Zähne entblößte, der größtmögliche Kontrast zu ihrer maranisch-dunklen Haut.
»Mariah kommt aus Nivilossa«, erklärte Livina. »Sie ist zum Semesterstart zu uns gewechselt. MarChat hat sie uns als Freundin vorgeschlagen.«
Die neue Kommilitonin war nicht die einzige Veränderung in diesem Semester. Bei genauerer Betrachtung ihres Stundenplanes stellte Erin fest, dass sie eine neue Professorin in Philosophie bekommen hatte.
Sie stöhnte. Auf all diese Vorlesungen hatte sie so gar keine Lust, denn im Grunde war es immer das Gleiche: In Geschichte würden sie über die Blau-Grünen Kriege und die Wichtigkeit der Mauer »diskutieren«. Sie schütze das Südreich, bestehend aus Laguna Mar und Jawhara schließlich vor einem Einfall der brutalen Nordstaatler. Dann würden sie darüber philosophieren, was die Überlegenheit der maranischen Rasse gegenüber allen anderen ausmacht, um schließlich über das mangelnde Kunstverständnis und die lächerlich entarteten Kunstwerke der Nordlinge herzuziehen. Maranische Politikwissenschaft war wirklich nicht das, was sie sich unter dem beliebten Studienfach vorgestellt hatte.
*
Im Geschichtssaal nahm Erin ihren angestammten Platz neben Livina in der hintersten Reihe ein. Sie ließ ihren Blick über die Köpfe schweifen. Hinter dem Pult zeigte die Videofensterwand eine riesige maranische Flagge, die sich im sanften Wind bewegte: eine silberne Muschel auf blauem Grund. Die restlichen Fenster waren transparent geschaltet und zeigten die Gebäude der Umgebung. Türme aus Glas und Stahl, die direkt aus dem Meer ragten.
»Was gibt’s Neues von der Studentenvereinigung?«, flüsterte Erin Livina zu.
»Nicht viel, aber nächste Woche ist wieder Rooftop-Party, da solltest du unbedingt vorbeischauen.«
»Habe ich da was von Rooftop-Party gehört?«, kam es von vorne. Delano drehte sich neugierig zu ihnen um. »Auf einer solchen Party darf ein Delano Costa-Mandia nicht fehlen, nicht wahr, Cici?«
Er reckte den Kopf in einer dynamischen Bewegung, die die blau gefärbten Haare aus seiner Stirn zurückwarf und erwartete eine Bestätigung.
»Hör mal, Lani, ich heiße Erin!«, stellte sie wieder einmal klar.
Im Nu fiel er in sich zusammen.
Livina verdrehte nur die Augen.
Als der Geschichtsprofessor den Raum betrat, verstummten die Studenten augenblicklich. Er kam direkt zur Sache.
»Wie wär’s, wenn mir mal einer von euch die Vorteile der großen Mauer nennt?«
Sofort schnellte Naomi Delvins Hand in die Luft und wie immer wurde sie direkt drangenommen.
Mit der Präzision eines Roboters betete sie die offizielle Meinung herunter.
»Die große Mauer dient dazu, unser Staatsgebiet ganz klar vom Nordreich abzugrenzen. Außerdem schützt sie uns vor einem unerwarteten Angriff dieser Kreaturen. Auf einer abstrakteren Ebene steht sie für die Abgrenzung unseres fortschrittlichen Denkens von den zurückgebliebenen Denkweisen des Nordens.«
»Sehr gut!« Der alte Professor lächelte zufrieden und faltete die Hände im Schoß.
Die Vorlesung verlief genauso, wie Erin es erwartet hatte. Manchmal fragte sie sich, wozu sie überhaupt noch herkam.
*
In Kunst saß Erin an einem der dreißig runden Tische mit Livina, Ramón und Delano. Als ihr Kunstprofessor hereinkam, war Ramón mal wieder dabei, einen am Galgen hängenden Nordreichler zu zeichnen. Er hatte besonderen Wert auf Details wie fahle, fleckige Haut, spitze Giftzähne und tentakelähnliche Arme gelegt, was Delano sehr zu amüsieren schien. Er bestand darauf, dass Ramón ihm auch noch eklig hervorstehende Glupschaugen verpasste.
»Stellt euch mal vor, die Nordreichler würden im Kunstunterricht sitzen und euch so zeichnen!«, zischte Erin.
Ramón verschränkte die Arme vor der Brust. »Die kennen uns ja gar nicht.«
»Und du sie auch nicht. Woher willst du wissen, wie sie aussehen?«
»Genau, Ramón!«, warf Livina ein. »Mach erst mal ‘ne Reise dorthin. Ich habe gehört, da soll es jede Menge Wald geben.«
»Ja und Bäume, die Menschen fressen!«, lachte er.
Bäume, die Menschen fressen, so ein Quatsch! Erin schüttelte den Kopf. Sie hatte schon ein paar Dinge über den Norden gehört – von einer inoffiziellen Quelle natürlich. So etwas zählte jedoch nicht dazu.
Ihr aktuelles Kunstthema war es, den Unterschied zwischen den Nord- und Südstaaten in einer Bleistiftzeichnung darzustellen. Dabei sollten sie in einer Hälfte etwas typisch Südstaatliches und in der anderen etwas typisch Nordstaatliches zeichnen.
Ramón hatte sich schon etwas überlegt: Er wollte auf der einen Seite eine hübsche Villa und auf der anderen eine schäbige Holzhütte zeichnen. Welche Seite wofür stand, bedurfte keiner weiteren Erklärung.
Delano indes wollte es sich besonders leicht machen. Er hatte bereits eine Seite Meeresblau und die andere Waldesgrün ausgemalt, als Erin ihn daran erinnerte, dass nur Bleistiftgrau erlaubt war.
Nun musste er sich etwas Neues einfallen lassen.
Er stupste sie mit seinem Stift an. »Mensch Cici, sag mir doch mal, was ich zeichnen soll!«
»Ich habe noch nicht einmal eine Idee für mein eigenes Bild!«, protestierte sie.
»Mal doch ... mich! Als Beispiel für einen wunderschönen Maraner.«
»Na toll und was soll dann auf die andere Seite?«
»Ramón! Als ein hässlicher Nordreichler!«
Die Runde konnte sich das Lachen nicht verkneifen.
»Halt die Schnauze!«, zischte Ramón. »Als wenn ich auch nur die winzigste Ähnlichkeit mit diesen Zombies hätte!«
»Hast du schon mal so einen solchen ›Zombie‹ gesehen?«, fragte Erin. Wie oft musste sie eigentlich noch die gleiche Diskussion führen?
»Nein«, entgegnete er, »und das will ich auch ganz bestimmt nicht.«
Ihr Professor hatte lange genug zugehört. »Seid doch endlich still!«, rief er. »Ihr sollt arbeiten, nicht reden. Euch ist hoffentlich klar, dass am Ende dieser Stunde Abgabe ist?«
»Verdammt!«, kam es von allen Seiten.
Erin wurde langsam nervös, denn ihr fiel einfach nichts ein!
»Das ist doch ein ganz schön bescheuertes Thema!«, rief sie lauter, als sie beabsichtigt hatte. Alle Köpfe drehten sich zu ihr um. »Ja, ist doch wahr!« Das musste eigentlich jedem klar sein! »Wir sollen hier etwas typisch Nordreichisches zeichnen, obwohl wir noch nie dort waren. Es wird ja jede Menge über diese Länder erzählt. Aber wenn man dann mal nachfragt, woher so manch einer dieses scheinbare Wissen hat, heißt es nur ›das sagen alle‹, ›das steht im Landesnetz‹ oder ›das ist halt so‹.«
Herr Giordano schaute peinlich berührt im Raum umher. »Ihr sollt eben das zeichnen, was ihr euch unter den Nordländern vorstellt. Seid ein wenig kreativ.«
»Schön!«, schnaubte Erin. »Dass das nichts Gutes ist, ist ja klar, bei dem, was man uns hier einbläut!«
Sie hatte genug davon. Und wahrscheinlich dachten die Nordreichler auf der anderen Seite der Mauer genauso von ihnen!