Читать книгу Othersides: Zwei Welten - J. Kilior - Страница 23
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ОглавлениеAm Samstagvormittag fühlte Erin sich verkatert. Bloß hatte sie keinen Alkohol getrunken. Sie verstand nicht, was in der Nacht mit ihr los gewesen war. Vielleicht Migräne? Kopfschüttelnd trat sie zu den anderen.
Ihre kleine Gruppe stand um den Brunnen in der Eingangshalle versammelt. Er war aus einem einzigen Stück Marmor gefertigt, erklärte ihnen Frau Sanchez. Alles per Hand. Die Studenten konnten sich überhaupt nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte, also hatte die Professorin Hammer, Meißel und zwei Blöcke Stein mitgebracht. Nun durften sie sich daran ausprobieren.
Bei dem weichen Sandstein gelang es allen, ein mehr oder weniger definiertes Stück abzuschlagen. Bei dem dunklen, härteren Stein schaffte es zunächst niemand.
Ramón wollte das nicht auf sich sitzen lassen und schlug bei seinem zweiten Versuch mit so viel Aggression auf den Meißel ein, dass es ihm zumindest gelang, eine kleine Ecke abzuschlagen – und den Griff zu zerbrechen.
Als sie sich wieder der Betrachtung des Brunnens zuwendeten, waren die Studenten auf einmal richtig beeindruckt.
Frau Sanchez wies sie auf die vielen typisch Maranischen Motive hin: Delfine, Muscheln, Wellen und ein Schwarm Fische am Boden des unteren Beckens.
»Wenn ihr aber glaubt, dieser Brunnen enthält nur maranische Elemente, dann täuscht ihr euch.« Sie lenkte nun ihre Aufmerksamkeit auf die Säule, die das untere Becken trug. An ihr befanden sich Verzierungen, die wie Blätter und Ranken aussahen.
»Efeu«, erklärte sie, »eine Pflanze, die man zuhauf in Agambea antrifft. Und seht ihr die Struktur im Marmor dahinter? Sie soll an die Rinde eines Baumes erinnern. Die Säule stellt also einen Baumstamm dar.«
»Dort unten«, sie wies auf die Stelle, an der die Säule in die Basis überging, »sind Wurzeln angedeutet, die im Boden, also in der Basisplatte, verschwinden. Und nun hier, an der Unterseite des Beckens!« Die Studenten mussten sich ein wenig bücken, um es erkennen zu können: Fünf Arme, ähnlich den Ästen eines Baumes, trugen das Bassin.
Frau Sanchez fuhr mit zunehmender Begeisterung fort.
»Seht ihr die Knoten hier? Jeder der fünf Arme trägt an dieser Stelle ein anderes Symbol, ein sogenanntes Wappen. Die Symbole stehen für die fünf Königshäuser des Kontinents, die einstigen Herrscher der fünf Länder.«
Erin betrachtete das Wappen, das ihr am nächsten war. Es zeigte auf der einen Seite drei Ähren, auf der anderen eine Eule und in der Mitte etwas, das sie nicht erkennen konnte.
Frau Sanchez erläuterte: »Da haben wir die Catalassis in Dairivon, ihr Wappen schmücken goldene Ähren auf rotem Grund, sowie eine weiße Eule auf grünem Grund, stellvertretend nicht nur für ein hohes Vorkommen an Eulen, sondern auch für die größte Bibliothek des Nordens. Dazwischen befindet sich die Flamme, die für die Drachen steht.« Sie erklärte das so beiläufig, als glaubte sie, diese gäbe es wirklich.
Dann wären da die Savonier in Agambea, ihr Symbol ein grüner Baum auf rotem Grund. Die heutige Flagge ähnelt dem noch, sie zeigt einen weißen Baum auf grünem Grund. Agambea ist zu weiten Teilen mit Wald bedeckt.
»Die Irigarays von Avanindra haben eine dornenlose Rose auf weißem Grund nebst einem weißen Pferd auf grünem Grund in ihrem Wappen. Natürlich sind sie bekannt für ihre Pferdezucht.
Das Wappen der Arjuwani aus Jawhara zieren eine gelbe Sonne oben und eine grüne Palme darunter. Und schließlich sind da noch die Lianos von Laguna Mar, deren Wappen einen grünen Baum umgeben von fünf Schlüsseln zeigt. Das einzige übrigens, aus dem kein Element in die heutige Flagge übernommen wurde. Was denkt ihr, haben diese Wappen auf einem maranischen Brunnen zu suchen?«
Die Studenten schwiegen sich dazu aus.
»Na, keine Idee? Also gut, ich verrate es euch: Es soll uns an unsere gemeinsame Herkunft erinnern. Die fünf Königshäuser sind alle Äste ein und desselben Baumes und sie teilen sich dieselben Wurzeln. Nur auf einer derart soliden Säule kann ein Staat wie Laguna Mar stehen.« Sie deutete auf die Säule, den Stamm und die Becken des Brunnens.
»Woher wissen Sie all das?«, fragte Naomi skeptisch.
»Ich halte eben Augen und Ohren offen. Wenn man einmal damit anfängt, ist es gar nicht so schwer.« Da war es wieder, dieses verschmitzte Lächeln.
Den Rest des Tages widmeten sie der Betrachtung der zahlreichen in der Villa verteilten Kunstwerke. Sie durften dazu zunächst einmal herumlaufen und sich alles ansehen.
Ölbilder von alten Segelschiffen hatten sie schon des Öfteren gesehen. Hier jedoch gab es Gemälde, die für maranische Augen befremdliche Dinge zeigten. Livina und eine weitere Kommilitonin standen gerade vor einem gruseligen Bild. Es stellte einen Wald dar und irgendwo, etwas versteckt im Schatten der Bäume, ein unheimliches Wesen. Es hatte Ähnlichkeit mit den Bären, die es früher in den Bergen gegeben haben sollte, sah aber deutlich bedrohlicher aus. Das Tier war komplett schwarz, mit dichtem, struppigem Fell, langen Klauen und einem furchteinflößenden Maul mit Hunderten spitzer Zähne, die es auf dem Bild gerade entblößte.
Die beiden waren sich nicht einig, ob es sich um die nordländische Version eines Bären handelte oder eher die Vorstellung zeigte, die man in Laguna Mar von den Bewohnern des Nordens hatte.
Ein Motiv in einem hässlich-pompösen, goldenen Holzrahmen zog Erins Aufmerksamkeit auf sich. Es zeigte eine Bergkette, jedoch nicht die grünen Berge, die Laguna Mar nach Norden hin von Agambea trennten, sondern weiße Berge.
›Das muss Schnee sein‹, dachte sie.
»Könnte die Bergkette sein, die Agambea im Norden von Avanindra abgrenzt«, vermutete Mariah. Erin schaute sie verblüfft an.
»Oh, in meiner Verwandtschaft wird noch die ein oder andere Erzählung vom Norden weitergegeben, übrigens ganz ähnliche Dinge, wie Frau Sanchez erzählt.« Sie zuckte mit den Achseln, als wäre das nichts Besonderes. »Ich finde es allerdings mutig, dass sie sich traut, so etwas in der Öffentlichkeit zu tun. Ich meine vor Studenten, deren Eltern im Wahrheitsministerium sitzen könnten.« Mariah nickte in Richtung einer kleinen Gruppe am anderen Ende des Flurs, darunter Naomi. »Ich würde das nicht mehr tun, aber, na ja, sie hat jedenfalls meinen Respekt.«
Sie wendete sich wieder dem Bild zu. »Es heißt, es sei die einzige Bergkette, die permanent mit Schnee bedeckt ist. Siehst du die grünen Hügel, die sich davor erheben?«
Erin betrachtete nun auch die weite Landschaft im Vordergrund.
Zum ersten Mal wurde ihr klar, dass der Norden ziemlich groß sein musste, viel größer als Laguna Mar.
»Das muss Avanindra sein«, erklärte Mariah weiter. »Wir schauen also von Norden her auf die Bergkette. Und da müsste noch etwas sein ...« Sie ging nun ganz nah an das Bild heran. »Ja, hier! Siehst du das? Dieser Berg ist nicht schneebedeckt.«
Erin beugte sich ebenfalls vor. Tatsächlich, einer der Berge war nicht weiß-bläulich, sondern graubraun und oben flach, als wäre seine Spitze abgebrochen.
»Das muss der höchste Berg Agambeas sein. Er befindet sich ein ganzes Stück weiter hinten, mitten im Land. Man sieht ihn hier auf dem Bild, weil er höher als die anderen ist.«
»Aber warum gibt es dort keinen Schnee?«, fragte Erin. »Je höher, je kälter, ist das nicht so?«
»Die Lage hat auch einen Einfluss. In den nördlichsten Ländern ist es am kältesten. Aber in diesem Fall gab es noch einen anderen Grund: Es ist ein Vulkan. Ein aktiver Vulkan, aus dem ständig heiße Gase austreten. Deshalb schmilzt der Schnee dort sofort. Weißt du, was verrückt ist? Die Hauptstadt Agambeas, Denebola, liegt direkt daneben.«
Erin war beeindruckt von Mariahs Kenntnissen und gleichzeitig enttäuscht, dass niemand aus ihrer Familie etwas über den Norden wusste. Wobei – vielleicht nicht ganz? Es gab ja noch Leo. Sie erinnerte sich nicht, wie lang es schon her war, dass er ihr das erste Mal über MarChat geschrieben hatte. Er hatte ihre Mutter gekannt, scheinbar sogar ziemlich gut. Erin stellte sich vor, dass er mit ihr verwandt war, doch so genau hatte er sich nie dazu geäußert. Er schrieb in Rätseln. Seine Nachrichten regten sie zum Nachdenken an über das Leben, das sie führte und über ihre ganze kleine Welt. Irgendetwas stimmte hier nicht und so langsam stieg sie dahinter.
Gedankenverloren durchstreifte Erin die Villa und entdeckte auf der Innenseite der Kellertür noch ein interessantes Bild. Es war eigentlich nicht mehr als eine Postkarte, die in einen dekorativen Rahmen auf der Tür gesteckt worden war. Sie nahm sie heraus und betrachtete sie genauer. Die Karte zeigte einen mit leuchtend weißen Kieselsteinen bedeckten Weg inmitten eines Waldes. Er führte auf ein niedriges, hölzernes Tor zu und dahinter weiter in den Wald hinein. Das Tor stand einen Spaltbreit offen.
Irgendwie übte dieses Bild eine magische Anziehungskraft auf Erin aus. Das konnte kein gewöhnlicher Ort sein, er schien nach ihr zu rufen. Sie wollte unbedingt dorthin, wo auch immer das war.
In der Hoffnung, einen Hinweis zu finden, drehte sie die Karte um. Auf der Rückseite stand tatsächlich etwas geschrieben, in schwarzer, verschnörkelter Schrift:
Einladung in die Gärten Yamodars von Denebola.
Das musste eine ziemlich wirkungsvolle Einladung sein! Und noch etwas wurde ihr jetzt klar. Sie kannte diese Karte, hatte das Motiv schon einmal gesehen. Damals, als sie heimlich die Kiste mit den Hinterlassenschaften ihrer Mutter durchsucht hatte. Ihr Vater hatte sie erwischt und die Karte weggeworfen. Kein Wunder, sie zeigte einen Ort in Agambea.