Читать книгу Othersides: Zwei Welten - J. Kilior - Страница 21
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ОглавлениеDie abendliche Freizeit nutzten Delano und Ramón, um in die Nachbarbucht zu verschwinden, wo sie die Jacht von Ramóns Familie holten. Sie wollten die Felsenküste entlangfahren und luden auch Erin und Livina dazu ein. Doch die zogen es vor, Frau Sanchez’ Geschichten zu lauschen.
»Wisst ihr, die Mauer wurde nicht ohne Übergänge konzipiert. Allein in dem Teil der Grenze, der Laguna Mar von Agambea trennt, gibt es zwanzig Wachtürme, jeder mit einem Durchgang.
In der Anfangszeit wurden noch des Öfteren kleine Delegationen über die Grenze gelassen, um Handel zu treiben. Erst im Laufe der Zeit und nachdem einige Händler nicht zurückgekehrt waren, wurde dies eingestellt. Die Wachtürme blieben weiter bemannt, um einen möglichen Angriff aus dem Norden zu verhindern. Nachdem dann lange Zeit nichts passiert war, zog man nach und nach das Personal ab. Die Regierung scheint sich mittlerweile recht sicher zu sein, dass vom Norden keine Gefahr mehr ausgeht. Heute sind nämlich nur noch vier der Türme besetzt: die auf Höhe von Porto Colana, Calderra, Girona und Gorda. Schon seltsam, oder?«
Einige der Studenten schauten sie verwundert an, einige andere eher besorgt.
»Auch gibt es nur wenige Vorkehrungen, die verhindern, dass jemand von uns in den Norden gelangen könnte. Die größte Barriere ist unser Wille. Alles andere sind nur faule Tricks. Einblendungen über unsere AR-Linsen zum Beispiel, die uns patrouillierende Roboter zeigen, wo keine sind. Nein, wenn ich ehrlich bin, ist das mit dem Willen schon der erste und größte Trick. Wer von uns will schon in den Norden?«
War das gerade ein Zwinkern oder hatte Erin sich das eingebildet? Ihr brannten einige Fragen auf der Zunge. Als die Gruppe um Naomi durch einen Schwarm Mücken abgelenkt war, ergriff sie die Gelegenheit.
»Frau Sanchez, haben Sie denn keine Angst, dass offizielle Stellen – die Hochschulaufsicht, die Regierung – etwas dagegen haben, dass sie uns solche Dinge erzählen? Ein Freund meinte, wir werden überwacht.«
Die Professorin schmunzelte. »Oh, sie haben ganz sicher etwas dagegen. Aber so schnell bekommen sie das nicht mit. Ich bitte euch ja nicht umsonst immer, eure Kopfhörer, die auch ein Mikrofon enthalten, abzunehmen. Und hier sind wir komplett von allen Kommunikationswegen abgeschnitten. Das hat einige Vorteile. Glaub mir, ich weiß, wo die Schlupflöcher sind.«
Das sollte Erin wohl beruhigen, doch sie war noch nicht überzeugt.
»Du wolltest aber noch etwas anderes fragen?«, hakte Frau Sanchez nach.
Erin blickte sich erneut zu Naomi um, bevor sie mit gedämpfter Stimme weitersprach. »Wir befinden uns ja sehr nah an der Grenze. Ich habe mich gefragt, ob auch hier einer dieser Übergänge ist?«
Frau Sanchez senkte ihre Stimme ebenfalls und beugte sich zu ihr herüber. »Zufällig befindet sich ganz in der Nähe einer. Hier in diesem Areal. Siehst du den Pfad, der in den Wald hineinführt? Er endet dort oben. Ein außergewöhnlich beschwerlicher Weg zu einem sehr verlassenen Ort. Soweit ich weiß, ist die Tür zum Wachturm nicht mal verschlossen.«
Als Ramón und Delano von ihrem Ausflug zurückkehrten, entschuldigte sich Frau Sanchez und zog sich auf ihr Zimmer zurück, um den nächsten Tag vorzubereiten. Die Studenten blieben noch ein wenig draußen sitzen. Es war für sie eine ungewöhnliche Art, den Abend zu verbringen, ganz ohne MarCocktails und die üblichen AR-Kostüme und Upgrades, die über die Linsen dargestellt wurden. Ohne funktionierende Landesnetz-Verbindung sah man die anderen genauso, wie sie wirklich waren. Das hatte etwas Intimes. Man merkte genau, dass es einigen unangenehm war. Naomi und ihre Freundinnen verließen die Runde dementsprechend früh.
Daraufhin entspannten sich alle anderen merklich. Sie nahmen eine aktuelle Diskussion wieder auf.
Livina räusperte sich. »Also ich kann mir noch immer nicht vorstellen, dass alles so stimmt, wie Frau Sanchez es erzählt. Immerhin würde das bedeuten, dass man uns bisher nur Lügengeschichten eingetrichtert hat, damit wir die Nordreichischen hassen. Warum sollte jemand so etwas tun?«
»Damit er an die Macht kommt«, entgegnete Erin, »und sich dort hält. Carlos Cortez steckt dahinter.«
»Aber Carlos Cortez gibt es nicht mehr. Er wurde bei der Maranischen Revolution gestürzt und durch ein demokratisches System ersetzt. Es gibt keinen Grund, weiterhin Lügen über den Norden zu erzählen.«
»Vielleicht doch ...« Leo hatte angedeutet, dass es für die Regierung nützlich war, wenn die Maranes ein gemeinsames Feindbild hatten.
»Schluss jetzt mit Spekulationen!«, schimpfte Ramón. »Mir ist das herzlich egal und wir werden es nicht rausfinden, sofern wir nicht selbst hingehen und nachsehen.«
Als Erin an diesem Abend im Bett lag, dachte sie noch lange an den Grenzübergang. Sie malte sich aus, wie es dort aussehen würde. Dort und dahinter.