Читать книгу Othersides: Zwei Welten - J. Kilior - Страница 17
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Оглавление»Guten Morgen, ich bin Felicitas Sanchez«, stellte sich die neue Professorin vor, während sie schnellen Schrittes den Raum durchmaß. Die für den Posten relativ junge Frau hatte die langen, schwarzen Haare zu einem strengen Zopf gebunden und trug die übliche Uniform, bestehend aus einem weißen Overall mit silbernen Applikationen. Nur ein Detail stach hervor und da musste Erin zweimal hinsehen: Aus ihrer Brusttasche ragte ein grünes Einstecktuch. Wer trug heutzutage etwas so Altmodisches, noch dazu in Grün?
Zunächst wies die neue Professorin sie an, alle Sessel in einem Kreis aufzustellen. Dann wurde es noch seltsamer. Sie forderte die Studenten auf, ihre Knochenschall-Kopfhörer abzunehmen. Nur widerwillig entfernte Erin die kleinen runden Geräte und ließ sie in die Hosentasche gleiten. Das war’s dann wohl mit dem Filmschauen.
Schließlich setzte sich die Neue, zur Verwunderung vieler, selbst mit in die Runde und schlug eine kleine, blaue Mappe auf. »Der Lehrplan verlangt, dass wir uns im Rahmen der Anthropologie damit beschäftigen, was den Unterschied zwischen den Blau- beziehungsweise Südreichischen und den Grün- beziehungsweise Nordreichischen ausmacht. So wie sich der Mensch von den Tieren abhebt, sollen sich auch die Südreichischen von den Nordreichischen abheben.«
›Es geht schon wieder los‹, dachte Erin.
»Oft wird behauptet, die Maranes und Jawharanes seien die am höchsten entwickelten Wesen. Das begründet man mit den fortschrittlichen Technologien, die wir zu entwickeln im Stande waren. Die Nordreichischen, heißt es, seien uns weit unterlegen, da es sich bei ihnen um eine niedere Spezies mit kleineren Gehirnen und geringerer Auffassungsgabe handele. Man sagt, sie würden ihre Umwelt ganz anders als wir, viel mehr wie Tiere, wahrnehmen. Nun, ich weigere mich, diesen Quatsch zu unterrichten.«
Sie schlug die Mappe zu. Plötzlich lag extreme Spannung in der Luft.
Als sie weiterredete, hörten ausnahmslos alle zu. »Noch vor etwas mehr als dreihundert Jahren waren die fünf Länder dieses Kontinents vereint. Laguna Mar, Jawhara, Dairivon, Avanindra und Agambea. Damals gab es noch keine so große Kluft zwischen Süden und Norden. Ja, es gab die fünf Völker, die sich in ihren Gewohnheiten und teilweise auch in ihrem Aussehen unterschieden, doch man lebte friedlich miteinander. Niemand wäre auf die abwegige Idee gekommen, dass eines der Völker besser sei als ein anderes.
Unsere damaligen Herrscher waren über mehrere Generationen hinweg miteinander verwandt, stammten von denselben ersten Siedlern dieses Kontinents ab! Sie hatten sich im sogenannten ›Bund der Fünf‹ zusammengeschlossen. Enya von Laguna Mar, von der Liano-Dynastie, war zu dieser Zeit ihre gemeinsame Königin. Die Hauptstadt des Kontinents lag damals ebenfalls auf maranischem Boden, in Liano Tega. Doch nicht alle waren davon begeistert. Die nördlichen Staaten befürchteten, Laguna Mar könnte zu mächtig werden. Böse Zungen auf beiden Seiten, darunter der maranische Regierungsberater Cortez, behaupteten, dass die anderen Völker ein Komplott gegen den Bund planten und die Macht über den gesamten Kontinent an sich reißen wollten. Solche Gerüchte verbreiteten sich in weiten Teilen der Bevölkerung und ließen Argwohn aufkommen. Alle Fünf schickten Spione in die jeweils anderen Länder, was das Misstrauen weiter erhöhte. In dieser Zeit verdächtigte jeder jeden.
Dann wurde Königin Enya ermordet und der Regierungsberater Carlos Cortez nahm ihren Platz in einer Übergangsregierung ein, die zu einer Diktatur werden sollte.
Die Meinungen darüber, wer die Königin ermordet hatte, waren unterschiedlich.«
»Was?«, unterbrach Naomi. »Es weiß doch jeder, dass es dieser Anwar war.«
»Das ist die Seite der Geschichte, die wir kennen, richtig. Sie lautet, dass Anwar von Dairivon die Königin auf einem gemeinsamen Ausflug hier an den westlichen Felsenküsten Laguna Mars ermordet haben soll. Enya hatte weder Kinder noch Geschwister, was ihren Cousin Anwar zum rechtmäßigen Thronfolger machte.«
Wieder unterbrach Naomi: »Die waren verwandt?! Ein Nordstaatler und eine Maranerin?«
»Wie ich bereits erwähnte, die Herrscher der fünf Länder waren alle mehr oder weniger eng miteinander verwandt. Sie hatten dieselben Vorfahren und es war auch nicht unüblich, dass Vertreter der Fürstenhäuser untereinander heirateten.«
»Igitt«, kommentierte Ramón.
»Der Teil der Geschichte, den beide Seiten bestätigen würden, lautet, dass Anwar für den Mord an Königin Enya verurteilt und hingerichtet worden ist.
Die Sicht des Nordens auf die Ereignisse ist jedoch eine andere als unsere: Dort heißt es, Carlos Cortez habe Enya ermordet und die Tat Anwar angehängt, damit Cortez selbst Herrscher Laguna Mars und des gesamten Kontinents werden konnte.
Die Nordstaaten Dairivon, Agambea und Avanindra erkannten Cortez jedoch nicht als rechtmäßigen Herrscher an und schlossen sich gegen ihn zusammen. Sie erklärten Anwars Sohn Tristan zu ihrem König.
Jawhara dagegen schloss sich Laguna Mar und Cortez an.
So hatten sich die Parteien, die im Blau-Grünen Krieg gegeneinander kämpfen würden, bereits herausgebildet.
Es bedurfte nur noch eines kleinen Funkens, um das große Feuer zu entfachen. Dies geschah, als agambeanische Soldaten auf der maranischen Seite der Grenze gesichtet wurden.
Diktator Cortez zögerte nicht lange und griff an. Diesen Teil kennt ihr zur Genüge. Der Krieg dauerte fünf Jahre und sollte keinen Sieger hervorbringen. Nach langen und unermüdlichen Kämpfen mit hohen Verlusten waren beide Parteien am Ende ihrer Kräfte. Sie vereinbarten die Einstellung aller Kampfeshandlungen und errichteten gemeinsam, ja, gemeinsam, die Mauer, die bis heute Süden und Norden voneinander trennt.«
»Schwachsinn!«, rief Ramón.
»Es würde zu Cortez passen«, entgegnete Livina, »und es klingt plausibel.«
Frau Sanchez fuhr derweil fort: »Lasst uns nun zu unserem eigentlichen Fach, der Philosophie zurückkehren. Wir haben also herausgefunden, dass wir alle Eins waren und es heute noch wären, hätte uns nicht der hinterlistige Plan eines Diktators auseinandergetrieben. Diese wichtige Erkenntnis haben viele vergessen oder verdrängt. Der Hass ist zu stark, um uns unserer gemeinsamen Wurzeln zu erinnern.
Ja, nun gibt es also diejenigen, die behaupten, die Maranes seien allen anderen Völkern überlegen. Sicher, äußerlich sieht es so aus, als seien wir weiter entwickelt. Wir verfügen über Rechenmaschinen, während in den Wäldern von Agambea noch Rechenschieber benutzt werden, mit genau einer Funktion, wohl gemerkt: einfachste Rechenaufgaben lösen. Wir reisen in komfortablen UVB-Shuttles, während man sich in den grünen Hügeln von Avanindra angeblich noch auf Pferdekutschen verlässt. Die Nordreichischen verfügen weder über Elektrizität noch über fließend Wasser, vergesst erst recht Landesvernetzung, Zentralsteuerungskomfort, Identitätschips und alles, was ihr sonst noch für selbstverständlich haltet!«
Ein Raunen ging durch die Runde.
»Doch so befremdlich und unvorstellbar das im ersten Moment auch klingen mag, ich bin überzeugt, dass die Menschen im Norden sich ebenfalls weiterentwickelt haben, nur in eine andere Richtung als wir. Es soll dort zum Beispiel sehr begnadete Heiler geben, die abgetrennte Gliedmaßen in wenigen Stunden nachwachsen lassen können. Und einige unter ihnen können ganz ohne eingebaute BioCom über weite Entfernungen miteinander kommunizieren.«
»Das klingt aber alles sehr vage.« Naomi hatte die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt. »Haben Sie irgendwelche Beweise dafür?«
»Leider war auch ich noch nicht dort, um es herauszufinden«, antwortete die Professorin mit einem gewitzten Lächeln auf den Lippen. Erin hätte fast wetten können, dass das gelogen war.
Eine nachdenkliche Stille trat ein, die erst nach einigen Minuten von Livinas leiser Stimme unterbrochen wurde. »Dann hassen wir die Nordreichler völlig umsonst?«
»Die Nordreichischen zu hassen ist eine Denkweise«, erklärte Frau Sanchez langsam und deutlich, »die uns unsere Eltern und der Staat von klein auf eingetrichtert haben. Unsere Eltern haben sie von ihren Eltern gelernt, und die wiederum von ihren. Du hast schon recht, wir hassen sie ›umsonst‹, denn am Ende verlieren wir alle nur dadurch. An Freiheit und an Erfahrungen. Im Grunde sind wir doch sehr arm, denn wir kennen nur unsere eigene Kultur.«