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Kapitel 4 – IN AGAMBEA –

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Melethriel war außer sich vor Wut. Die alte Feindschaft zwischen den agambeanischen Königshäusern war heutzutage doch kaum mehr als eine Formalität. Die Könige hatten nur noch wenig zu sagen, denn am Ende bestimmte der Rat mit mehrheitlichem Beschluss. Da die drei Häuser Savonia, Cydonia und Candor in etwa gleich viele Ratsmitglieder stellten, waren sie entsprechend gleich einflussreich. Dass Cydonia den König stellte, war unbedeutend, es war nur eine repräsentative Funktion.

Trotzdem meinte ihr Vater offenbar, sich bei König Duncan beliebt machen zu müssen, indem er sein einziges Kind mit dessen zweitem Sohn, Prinz Hildur, verheiratete.

Deshalb also hatten sie sie hierher gebracht!

Aber warum musste es unbedingt Cydonia sein? Warum hatten sie sie nicht nach Candor geschickt, dorthin, wo ihr Kilian war? Candor war genauso bedeutend und angesehen.

Ihr Vater hatte etwas von einem wichtigen Bündnis erzählt, man müsse sich gegen den Feind zusammentun. Was für ein einfältiges Gerede! Sie wollte da nicht mitspielen!

Frustriert saß Melethriel in ihren großen, neuen Gemächern auf Schloss Cydonia und schaute hinaus in die weitläufige Hügellandschaft. Fast alles war mit dichtem, grünem Wald bedeckt, hier und da sah man eine Ansammlung von Häusern. Wie Perlen an einer Schnur reihten sie sich am Fluss Kallidrin entlang auf.

Sie blickte sehnsüchtig das Tal hinunter. Längst außer Sichtweite, an seinem Ende, lag Candor.

Dann ging Melethriel im Zimmer umher. Der Boden war mit prachtvollen Teppichen ausgelegt, die Wände mit edlem Holz getäfelt. Überall hingen in Gold gerahmte Stillleben, die Obstschalen oder Blumen zeigten. Geld hatte König Duncan genug.

Eine Landschaftsdarstellung über dem großen, roten Sofa erinnerte sie an eine Reise nach Avanindra, die sie gemeinsam mit ihrem Vater unternommen hatte. Sie zeigte sanfte, grasgrüne Hügel. Damals hatte sie mit den Kindern der Dienerschaft im Hofgarten spielen dürfen, während ihr Vater mit dem König Verhandlungen geführt hatte. Er war ihr nie böse gewesen, wenn sie schlammverschmiert zurückgekommen war. Ihre Mutter war immer zuhause geblieben. Zum Glück, sie hätte einiges daran auszusetzen gehabt.

Aber dieser Heirat hätte sie mit Sicherheit nicht zugestimmt. Sie hatte immer gewollt, dass ihre Tochter glücklich war. Leider war sie nicht mehr da. Ihr Vater hatte andere Prioritäten.

Melethriel ließ sich in einen der Sessel sinken. Was sollte sie nur tun?

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Bevor sie antworten konnte, hatte Prinz Hildur schon den Raum betreten.

»Euer Vater ist abgereist!«, verkündete er. »Er lässt Euch grüßen. Zu unserer Verlobung wird morgen Abend ein Bankett gegeben. Eure Kleider könnt Ihr dazu nicht tragen, wir werden Euch morgen neue besorgen müssen.«

Melethriel schaute an sich herunter und verschränkte die Arme.

»Was ist so schlecht daran?«, fragte sie.

»Oh, nichts für ungut, aber Ihr seht darin doch eher aus wie ein einfaches Dorfmädchen.«

»Wenn ich Euch nicht gut genug bin, dann schickt mich doch zurück nach Savonia!«

»Ihr missversteht mich. Ich will Euch nur helfen!«

»Danke, ich brauche keine Hilfe!«

»Etwas freundlicher könntet Ihr Euch mir gegenüber ruhig verhalten, schließlich sind wir schon bald Mann und Frau.«

»Das werden wir ja sehen!« Melethriel lehnte sich trotzig in ihrem Sessel zurück. Damit war sie wohl zu weit gegangen, denn sie konnte sehen, wie das Gesicht des Prinzen immer röter wurde, als er auf sie zukam. Er beugte sich zu ihr runter, die Hände auf den Sessellehnen abstützend. Sein Gesicht war genau vor ihrem. Eine Ader über seinem rechten Auge zuckte.

Sie schluckte.

»Ich gebe Euch nun einen gut gemeinten Rat«, flüsterte er, »wagt es nicht, von hier zu verschwinden. Und wagt es erst recht nicht, nach Candor zu gehen. Das wäre ein Riesenfehler.«

Damit richtete er sich auf und ging zur Tür. »Zu Eurer eigenen Sicherheit werde ich Wachen vor Euren Gemächern postieren.«

Während die Tür ins Schloss fiel, hatte Melethriel Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Wusste er von ihr und Kilian? Warum war ihr Vater schon abgereist? Und was sollte das überhaupt? Warum wollte Hildur sie einsperren?

Nein, es war genug! Sie musste von hier verschwinden, und zwar jetzt sofort, bevor die Wachen kamen und sie keine Chance mehr hatte.

Sie ging zur Tür und lauschte. Alles still. Die Hand hatte sie schon nach der Türklinke ausgestreckt, als sie innehielt. Ich sollte erst nachsehen.

Flach auf dem Fußboden kauernd sah sie durch den Spalt unter der Tür. Da standen sie schon: zwei Paar Füße zu jeder Seite. Verdammt! Es war zu spät, sie konnte nicht entkommen.

Wieder ging sie im Zimmer auf und ab. Vielleicht gab es einen anderen Weg, vielleicht durch die Fenster? Nein, da ging es zwanzig Meter in die Tiefe. Obwohl ... sie ging hinüber zum Schlafzimmerfenster. Dort hatte sie doch ein paar Rosen gesehen.

Tatsächlich: Unterhalb des Fensters befand sich, über und über bewachsen und kaum noch sichtbar, eine Rankleiter. Das würde schwierig werden. Aber es war die einzige Möglichkeit.

Kurz entschlossen kletterte sie auf den Fenstersims. Sie blickte erneut hinunter. Verdammt, das war tief!

Vorsichtig kletterte Melethriel über den Rand. Ihre Füße tasteten blind zwischen den Rosen hindurch nach einer Sprosse und fanden sie. Jetzt musste sie eine Stufe tiefer gehen, um mit den Händen auf die Leiter umgreifen zu können. Gar nicht so einfach, denn diese begann erst einen halben Meter unterhalb der Fensterbank. Sie atmete tief durch, dann setzte sie den ersten Fuß weiter nach unten. Den zweiten musste sie dazustellen, doch sie kam nicht durch das dichte Gewirr aus Ästen. Dornen zerstachen ihr die Waden. Sie zitterte, während sie das Fensterbrett umklammert hielt.

Also gut, dann musste sie Platz machen. Vorsichtig hüpfend bewegte sie den rechten Fuß zur Seite, um die Rosen wegzuschieben.

Das war zu viel für das Holz, das nicht dafür ausgelegt war, einen Menschen zu tragen: Plötzlich brach die Latte und sie konnte sich nicht mehr halten. Sie fiel.

Verzweifelt griff sie um sich, erwischte irgendetwas Festes. An einer Hand baumelte sie da und versuchte mit den Füßen erneut Halt zu finden. Sie fand eine Sprosse und atmete erleichtert aus.

Sich fest an die Leiter klammernd analysierte sie die Situation. Blut rann an ihrem rechten Arm hinunter. Sie musste eine dornige Ranke ergriffen haben. Ansonsten hatte sie sich nichts getan. Glück gehabt! Vorsichtig machte sie sich an den weiteren Abstieg.

Othersides: Zwei Welten

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