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Kapitel 6

– ILYA –

Ilya haderte mit sich selbst. Konnte er sie gehen lassen? Sie schien nicht zu wissen, was sie erwartete. Andererseits gingen ihn ihre Pläne nichts an und vielleicht benötigte sie etwas von dort. Oder sie suchte die Schwarzmagier. Irgendetwas Besonderes hatte sie an sich, das war ihm gleich aufgefallen.

»Hier geht es zu den Gärten Yamodars«, erklärte er und deutete auf einen Abzweig. »Wenn du noch immer dorthin willst, solltest du jetzt gehen. Du kannst uns später in der Stadt wiedertreffen. Falls du aus den Gärten zurückkommst.«

Sie hüpfte vom Wagen, warf ihm einen letzten Blick und ein »Danke« zu und lief los.

Nein, er konnte sie nicht einfach so gehen lassen! Sie brauchte einen sachkundigen Begleiter. Kurz entschlossen sprang auch er vom Bock und folgte ihr. »Wir treffen dich in Denebola!«, rief er Balduin zu. Der schüttelte nur den Kopf und fuhr weiter.

– ERIN –

Ilya folgte ihr. Irgendwie war sie doch froh, nicht allein zu sein. Obwohl sie nicht an seine Geschichten glaubte, hatte sie ein mulmiges Gefühl. Gleichzeitig war sie aber auch verdammt neugierig.

Nach einer Biegung kam endlich das weiße Tor von dem Foto in Sicht. Im Mondlicht leuchtete es unnatürlich hell. Es stand offen, so als wolle es sie willkommen heißen. Auch die weißen Kieselsteine wurden hell erleuchtet. Erin verspürte das starke Verlangen, diesen Weg entlangzugehen. Sie beschleunigte ihre Schritte. Ein angenehm moosiger Geruch stieg ihr in die Nase. Sie atmete den fremden, betörenden Duft tief ein.

Vor dem Tor blieb sie kurz stehen. Was, wenn es eine Falle war? Doch sie musste einfach dorthinein. Dieser Weg! Sie durchschritt das Tor und ging weiter, immer weiter den Weg entlang. Oder konnte man das überhaupt Gehen nennen? Wie auf Rollen glitt sie dahin. Neben ihr tat Ilya das Gleiche. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Erin ließ den Blick umherschweifen. Flackernde Lichter zeigten sich in der Ferne. Das weiche Moos zwischen den Bäumen wurde hier und da vom Mondlicht beschienen. Alles wirkte so mystisch. Nach einigen Minuten kam etwas leuchtend Weißes in Sicht. Der helle Schein zog sie an.

Je näher sie kam, desto mehr schien das seltsam helle Objekt in Bewegung zu sein. Etwas hüpfte lebhaft auf und ab. Standen dort etwa drei leuchtende Gestalten?

Sie musste schmunzeln, als sie erkannte, dass es sich um einen Springbrunnen handelte. Einen sehr schönen noch dazu. In seiner Mitte befanden sich drei erstaunlich detailgetreu gearbeitete Marmorfiguren. Eine Frau stand einem Mann gegenüber. Sie war groß und schlank, hatte lange, glatte Haare, ein schmales Gesicht und spitze Ohren. Er war kräftig gebaut, hatte wallende, lockige Haare und einen Vollbart. Beide trugen Kleider mit aufwendigen Verzierungen. Hinter ihnen befand sich eine dritte Figur im schlichten Kapuzenmantel, leicht gebeugt und von den beiden abgewandt, als wolle sie der Szene entfliehen.

Das Plätschern der Fontänen war wie Gesang in Erins Ohren. Leise summte sie mit. Neben ihr schöpfte Ilya mit den Händen Wasser aus dem Brunnen und trank davon.

»Erin!«, rief er. »Das musst du probieren, es schmeckt einfach vorzüglich.«

Erin konnte sich nicht vorstellen, was an Brunnenwasser so »vorzüglich« schmecken sollte, merkte aber plötzlich, dass sie durstig war. Also probierte sie. Es übertraf all ihre Erwartungen! Sie konnte den Geschmack nichts ihr Bekanntem zuordnen. Frisch. Blumig. Belebend. Süß und würzig. Sie schöpfte eine weitere Handvoll. »Das ist echt gut!«, schwärmte sie. »Siehst du, es ist gar nicht so schlimm hier. Im Gegenteil, es ist großartig!«

Ihr Blick wanderte in den Wald jenseits des Weges, wo bunte Lichtpunkte zwischen den Bäumen hin und her schwirrten. ›Glühwürmchen‹, dachte sie. Glühwürmchen in ungewöhnlichen Farben. Aber das verwunderte sie nicht, an diesem Garten war eben alles außergewöhnlich. Die bunten Lichter schienen ihnen den Weg weisen zu wollen. Federnden Schrittes folgten sie ihnen zwischen den Bäumen hindurch. Erin versuchte, nach ihnen zu greifen, doch sie schwebten immer wieder davon. Sie folgte ihnen durch die Äste einer Trauerweide hindurch auf eine Lichtung.

Und dann geschah es.

Von irgendwo schnellte etwas hervor und umschlang Erins Handgelenk. Es sah aus wie eine Ranke. Panisch versuchte sie, sich loszureißen, doch im Nu wurde auch ihr Fußknöchel ergriffen. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte. Die Ranken zogen sie gegen ihren Widerstand über den Boden. Als Ilya bemerkte, was geschah, ergriff er ihre Hände und versuchte, sie zurückzuziehen. Die Pflanzen waren stärker.

Er ließ los, zog das Messer aus seinem Stiefel und durchtrennte damit die Ranken. Sofort sprang Erin auf die Füße. Sie wollte sich schon aus dem Staub machen, als sich etwas um ihren Hals schlang und sie nach hinten zog. Nach Luft ringend versuchte sie, es zu fassen und zu lockern. Erfolglos. Die Pflanze zog immer weiter, bis Erin mit dem Rücken an einem Baumstamm stand. Ilya versuchte erneut, die grünen Arme mit seinem Messer zu kappen, doch kaum, dass er sie durchtrennt hatte, wuchsen zwei bis drei neue aus dem Stumpf hervor. Was zum Teufel war das? Eine schlug ihm das Messer aus der Hand und zog ihn ebenfalls an den Baumstamm heran, während eine andere Erin an der Hüfte umschloss. Weitere Ranken umfassten ihre Arme und Beine. Bald waren sie beide fest von ihnen umschlossen und am Baum gefesselt.

›Verdammt‹, dachte Erin. Das war wohl doch eine Falle gewesen!

»Verdammt!«, fluchte auch Ilya und gab noch einige weitere Flüche von sich, die Erin nicht verstand. Es mussten irgendwelche agambeanischen Kraftworte sein.

Dann war er still und dachte scheinbar angestrengt nach.

Plötzlich war im Gebüsch gegenüber ein Rascheln zu vernehmen. Eine Person trat daraus hervor. Es war eine kleine Frau in einem roten Kapuzenumhang. Ihr Gesicht war kaum zu erkennen.

»Hey Sie!«, schrie Erin. »Können Sie uns helfen? Hey!«

Die Frau zeigte keine Reaktion. »HILFE!«, rief Erin noch einmal, doch sie ging an ihnen vorbei, leise vor sich hin murmelnd:

»... dem Mann im Berg wird niemals kalt,

der Mann im Berg wird niemals alt.

Zauberer und Königin,

erkennt allein den wahren Sinn.

Der letzten Erben Fünf müsst sein,

um euch von seinem Fluch zu frei’n ...«

Dann verschwand sie zwischen zwei Bäumen.

»Was war das denn?«, entrüstete sich Erin.

Da fügte die Stimme aus der Ferne noch etwas hinzu: »Seht zu, dass ihr hier wegkommt, sonst finden sie euch!«

»Hey, hey, warte!«, rief Erin. »Wer sind die? Was wollen die?«

Die Frau antwortete nicht.

– MELETHRIEL –

Sie war die ganze Nacht durch geritten und doch kaum vorangekommen, dann hatte sie sich und dem Pferd eine Verschnaufpause gegönnt und war am Mittag wieder aufgebrochen. Jetzt neigte sich der Tag dem Ende zu und Melethriel war endlich auf candorischem Gebiet angekommen. Bald würde sie Kilian wiedersehen!

Als sie sich Derrida näherte, war es bereits dunkel. Ihr war sofort klar, dass etwas nicht stimmte, denn hinter dem Hügel, der sie noch von dem Ort trennte, konnte sie den orangen Schein eines hell erleuchteten Nachthimmels sehen. So viele Lichter gab es in Derrida nicht, es sei denn ...

Sie verlangsamte ihr Tempo. Als das Pferd über die Hügelkuppe trabte, bot sich ihr ein furchtbarer Anblick: Fast die Hälfte der Häuser dieses kleinen Ortes stand lichterloh in Flammen. Schreiende Menschen liefen durch die Straßen und versuchten verzweifelt, die Feuer zu löschen. Und noch etwas sah Melethriel: Gruppen von grau uniformierten Soldaten, die sich Straßenkämpfe mit den Dörflern lieferten.

Was war hier los? Wer waren diese Männer und warum griffen sie das Dorf an? Diese Uniformen hatte sie noch nie gesehen. Sie gehörten nicht zu Dairivonern oder Avanindraern, passten zu keinem der agambeanischen Königshäuser. Und überhaupt: Wer sollte einen Grund haben, dieses Dorf anzugreifen? Im Norden herrschte seit vielen Jahren Frieden.

Sie wusste natürlich, dass es das Beste für sie war, sich aus sämtlichen Schwierigkeiten herauszuhalten. Womöglich wurde sie bereits gesucht. Doch sie wollte mehr darüber erfahren, was hier vor sich ging. Also näherte sie sich dem Dorf im Schutz der Bäume und parallel zur Straße weiter an. Durch das Geäst hindurch erhaschte sie einen guten Blick in eine der Gassen. Es war seltsam – nicht alle Dorfbewohner schienen gegen die grau Uniformierten zu kämpfen. Einige kollaborierten offenbar mit ihnen. Andere Dorfbewohner wiederum versuchten auf schnellstem Wege, mit gepackten Rucksäcken und kleinen, beladenen Holzkarren, zu flüchten.

Als ein Trupp Soldaten in Melethriels Richtung marschierte, beschloss sie, doch lieber schleunigst zu verschwinden.

– ILYA –

»Dann wohnst du nicht mehr bei deinen Eltern?«, fragte Erin.

»Nein«, antwortete Ilya, »und ich bin auch schon lange nicht mehr dort gewesen.« Seine Stimmung verfinsterte sich bei dem Gedanken an seinen Vater.

»Geht mir ähnlich. Wo wohnst du?«

»In einer Baumsiedlung namens Meridia.«

»Baumsiedlung?«

»Eine Siedlung aus Baumhäusern. Gibt es so was bei euch denn nicht?«

»Baumhäuser? Du wohnst echt in einem Baumhaus? Aber wie soll das funktionieren? Ein ganzes Haus, das kann doch kein Baum tragen!«

»Siehst du den hier, an dem wir gefesselt sind?«

Sie versuchte, den Kopf zu drehen, doch es gelang ihr nicht.

»Wenn mich diese Ranken nicht davon abhalten würden ...«

Er seufzte. Eine ganze Weile waren sie nun schon hier gefangen und hatten abgewartet. Jetzt startete Ilya einen weiteren Befreiungsversuch, schließlich fühlte er sich wieder etwas nüchterner. Es tat sich leider noch immer nichts. Dieses verdammte Wasser! Warum hatte er davon getrunken? Es hatte ihn ganz benommen gemacht, handlungsunfähig. In Gedanken hörte er wieder die Stimme seines Vaters: ›Viel zu leichtsinnig! Aus dem wird nie was.‹ Fieberhaft versuchte Ilya, auf die Ranken einzuwirken, doch es gelang einfach nicht! Ihm blieb nichts anderes übrig, als Erin weiter bei Laune zu halten. Ihr zu erzählen, was er hier versuchte, würde nicht helfen. Er wusste nicht viel über Maranerinnen, aber genug, um sicher zu sein, dass sie ihm nicht glauben würde. Das hatte ihre Reaktion auf seine Warnungen ja schon gezeigt. Also erzählte er weiter: »Unsere Bäume sind zehnmal so groß.«

»Wow!«, sagte sie. Das sollte offenbar Erstaunen ausdrücken. »Klingt nach wirklich großen Bäumen. Die würde ich gerne mal sehen!«

»Gerne zeige ich sie dir. Auf unserem Weg nach Brock können wir ein paar Zwischenstationen unterbringen. Wenn du nicht einmal Baumsiedlungen kennst, werden noch einige weitere Orte für dich interessant sein.«

Ilya erzählte ihr nun von seinen agambeanischen Lieblingsorten und sie lauschte gespannt. Allzu viel schien es ihr ja nicht auszumachen, hier mit ihm an einen Baum gefesselt zu sein! Das musste an dem Wasser liegen. Er konnte selbst kaum einen klaren Gedanken fassen. Aber er musste sich jetzt konzentrieren. Jeden Moment konnte einer von ihnen auftauchen.

Ilya startete einen weiteren Versuch, legte seinen ganzen Willen hinein. Diesmal tat es seine Wirkung. Er registrierte erleichtert, wie die Ranken sich lockerten. Sie sanken an ihnen beiden hinab und lagen wenig später erschlafft auf dem Boden. Endlich!

Erin schaute ihn verblüfft an. »Wie ist das passiert?«

»Komm, weg hier!«, sagte er und fasste sie bei der Hand. Sie machten sich erst langsam und vorsichtig, dann immer schnelleren Schrittes auf den Weg, weg von dem Baum und hinaus aus diesem verwunschenen Wald. Erst, als sie das weiße Gartentor weit hinter sich gelassen hatten, machten sie Halt, um zu verschnaufen.

»Puh!«, kommentierte er. »Das ist ja gerade noch mal gut gegangen! Ich hoffe, dir ist die Lust auf die Gärten Yamodars erst mal vergangen.« Der Mond tauchte die Kieselsteine ihres Weges in gleißendes Licht. Erin schien sich noch einmal umdrehen zu wollen, doch er zog sie sanft aber bestimmt weiter.

Othersides: Zwei Welten

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