Читать книгу Die schlechteste Hausfrau der Welt - Jacinta Nandi - Страница 16
59 Minuten
ОглавлениеIch würde nie sagen, dass das Leben mit einem Baby langweilig ist, aber manchmal ist das Interessanteste am Tag die Reise zu Kaufland. Und heute hat die Reise zu Kaufland 59 Minuten gedauert.
Das Baby ist jetzt 14 Monate alt. Als der Teenager 14 Monate alt war, war er kein Baby mehr für mich, aber wahrscheinlich bleibt das Baby wegen des Teenagers in meinen Augen für immer ein Baby. Oder? Der Teenager wird morgen 14 Jahre alt. VIERZEHN JAHRE ALT! VIERZEHN!! Eigentlich erwachsen, in Schottland und in Game of Thrones darf er heiraten. Ich weiß leider gar nicht, was er jetzt machen darf nach dem deutschen Gesetz. Weil ich so schlecht integriert bin. Wahrscheinlich Pornos mit toten Tieren drin gucken und bei Kommunalwahlen abstimmen. In England dürfte er im Restaurant Wein zum Essen bekommen. Darf er das hier? Keine Ahnung. Habe dem Teenager mal versprochen, dass er mit 14, also direkt an seinem 14. Geburtstag, Reservoir Dogs gucken darf, aber jetzt sagt er, Tarantino-Filme sind sowieso Schnee von gestern außer Django Unchained, den er schon gesehen hat.
Das Baby, das jetzt kein Baby mehr ist, war damals, als es noch ein echtes Baby war, ein Stillverweigerer. Jetzt ist es ein Kinderwagenverweigerer. Obwohl der Wagen jetzt so sauber ist! Der Rücken hart wie Eisen und krumm vor Widerstand. Keine Chance. Wenn der Teenager und mein Freund beide da sind, können wir ihn in den Kinderwagen zwingen, aber dann bleiben Omas stehen, um zu kontrollieren, ob sie nicht das Jugendamt anrufen sollen, weil es so gewalttätig aussieht. Wenn ich alleine mit dem Baby bin, habe ich die Kinderwagenbenutzung aufgegeben, und wir laufen.
Wir laufen. Wir laufen langsam. Wir laufen und laufen. Wir laufen von der Bäckerei zum Kaufland. Mit Kinderwagen dauert das 6 Minuten, vielleicht 7. Wir laufen. Wir laufen jetzt. Minuten und Minuten und Minuten und Minuten vergehen. Sie vergehen so langsam wie wir laufen. Das Problem ist nicht, dass das Baby besonders langsam läuft. Eigentlich läuft es gut. Eigentlich rennt es toll. Das Problem ist, dass es stehen bleibt.
Das Baby bleibt stehen, um Hunde anzugucken. Ooooh, oooh, sagt er. Ich gucke ihn an, ich kann das verstehen, denke ich. Stell dir vor, du bist ein Baby, neu auf der Welt, alles ist neu, du bist wie ein Alien, der gerade gelandet ist, und du siehst plötzlich einen Hund. Ist das ein kleiner haariger Mensch, denkst du, oder ist das ein laufender Teddybär? Oder halb Mensch, halb Bär? Ooooh, oooh, sagt das Baby. Ich gucke auf mein Handy, ganz kurz. 20 Minuten laufen wir schon.
Das Baby bleibt stehen, um einen Baum anzufassen.
Ooooh, oooh, sagt es. Ich gucke ihn an, ich kann das doch verstehen, denke ich. Stell dir vor, du bist ein Baby und du siehst einen Baum. Keine Ahnung, was er dabei denkt, aber er will das anfassen. Der Baum fühlt sich wahrscheinlich schön an. Ooooh, oooh, sagt er dabei. »Magst du die Bäume?«, frage ich, vielleicht wird er später Gärtner, denke ich, wenn es noch Gärten geben sollte, wenn er erwachsen ist.
Das Baby bleibt stehen, um eine Straßenlaterne ganz leicht zu streicheln. Ooooh, oooh, sagt er. Ich kann auch das verstehen, denke ich. Stell dir vor, du bist ein Baby und du siehst eine Straßenlaterne. Wahrscheinlich will er prüfen, ob das ein Baum aus Metall ist oder nicht. Ooooh, oooh, sagt das Baby. »Das ist eine Straßenlaterne«, sage ich. »Damit es in der Nacht noch Licht gibt.« Ooooh, oooh, sagt er. Vielleicht wird er doch Elektriker, denke ich.
Das Baby bleibt stehen, um einen Stuhl zu prüfen. Oooh, oooh, sagt er. Dann klettert er drauf und sitzt da wie ein Buddha und macht Winke-winke zu den Obdachlosen. Ich kann es verstehen, denke ich, stell dir vor, du bist ein Baby, und du hast gerade gelernt, wie man auf Stühle klettert. Woher soll er wissen, dass er auf den Stühlen in der Wohnung sitzen soll, aber die auf der Straße ignorieren muss? Oooooh, oooh, sagt das Baby und ab und zu HIIIIIIIIIIIIII, wenn ein Obdachloser sehr freundlich winkt.
Das Baby bleibt stehen, um alten Müll in den Mund zu stecken. Kleine Stöcke und so, die Packung von einem Lolly.
Ooooh, oooh, sagt er. Ich nehme ihm den Müll aus dem Mund, das Baby schreit mich an, NEIN!, schreit er. NEIN! »Du darfst Müll nicht essen«, sage ich. Das Baby schenkt mir einen Stein. Mein Herz schmilzt vor Liebe, aber ich weiß ganz genau, dass wir nie im Kaufland ankommen werden. Bis wir im Kaufland ankommen, ist die AfD an der Macht. »Ist dieser Stein für mich?«, frage ich. Das Baby sagt nichts zurück. Ich schmeiße den Stein weg, als es gerade nicht zu mir schaut. Ooooh, oooh, sagt das Baby. Es hat wieder Müll gefunden, aber es steckt ihn jetzt nicht in den Mund, sondern versucht, damit zu zeichnen, auf dem Bürgersteig.
Das Baby bleibt stehen, um ein Auto anzulecken. Langsam fange ich an, mein Verständnis für die Aktionen meines Babys zu verlieren. Stell dir vor, du bist ein Baby, du würdest doch kein Auto anlecken, oder, sie sehen doch gar nicht lecker aus? Ist doch bescheuert, dieses Baby. »Leck nicht an Autos!«, sage ich. »Sie sind nicht lecker.« Zwei Hipster laden Pappkisten aus einem Auto, das Baby klettert rein. Sie fragen mich, ob es Süßigkeiten haben darf, ich sage, eigentlich nein, aber kann ich vielleicht eine kriegen, wir laufen jetzt seit 39 Minuten. Ich hole das Baby raus aus dem Auto. Das Baby findet jetzt mehr Müll – einen alten blutigen Tampon, es guckt sich das interessiert an, jetzt kann ich es wieder verstehen, es ist immer so interessant, wenn blutige Tampons den Weg in die Öffentlichkeit finden: Was ist da passiert, in welcher Eile muss man sein, um seinen Tampon auf der Einkaufsstraße zu wechseln? Ich nehme dem Baby den Tampon ab und schmeiße ihn hinter ihm weg.
»Iiiiiiih«, sage ich, und hoffe, dass er später nicht frauenfeindlich wird, weil ich ihm beigebracht habe, dass Menstruationsblut eklig ist.
Mein Telefon klingelt, ich wende meine Augen für drei Sekunden weg vom Baby und dann … IST ES WEG! DAS BABY IST WEG! ICH SCHREIE UND SCHREIE, KALTE KALTE PANIK, WO IST ER, IST ER AUF DER STRASSE? ER IST TOT, WO IST DAS BABY? HAT EIN HUND IHN GEFRESSEN? Die Hipster zeigen mir, dass er sich unter einem Speisekartenaufsteller versteckt hat, und ich hole ihn raus und trage ihn wie schwere Kartoffeln zu Kaufland. Und das war das Interessanteste, was mir heute passiert ist.