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KAPITEL 6

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Ich kehrte ins Hotel zurück, legte die Unterlagen auf den Tisch und schob sie ganz weit nach hinten bis an die Kante. Da ich es nicht über mich gebracht hatte, den Cops die Wahrheit zu sagen, plagten mich Schuldgefühle, die mir nun wie ein zentnerschwerer Stein im Magen lagen. Und es gab noch einiges mehr, das auf meinem Gewissen lastete: Obwohl ich mich in Kriminalpsychologie gut auskannte, hatte ich mich nie im Detail mit den von meinem Bruder begangenen Taten auseinandergesetzt, weil ich fürchtete, Jeremy nach dem Aktenstudium für ein Monster zu halten und in ihm nicht mehr das gepeinigte Kind zu sehen, das seinen Vater nach einem Jahre währenden und unvorstellbaren Martyrium tötete …

Vor ein paar Tagen bin ich zehn geworden. Jeremy ist sechzehn. Eines schönen Tages – ich habe in einem der Forts gespielt, die mein Bruder und ich im Wald hinter unserem Haus gebaut haben – laufe ich aus dem Forst und sehe, dass die Polizei da ist. Auf der Kieszufahrt vor unserem Haus steht ein Beamter, sein Kollege sitzt im Streifenwagen hinter dem Steuer. Der Cop auf der Zufahrt fixiert meine Mutter, die oben auf der Veranda steht. Jeremy sitzt auf der Hollywoodschaukel, ebenfalls auf der Veranda. Sein nachdenklicher Blick wandert zwischen dem Polizisten in dem Streifenwagen und dessen Kollegen auf der Zufahrt hin und her.

Der Polizist hat die Mütze abgesetzt und hält sie auf Schritthöhe in Händen. Ich schätze ihn auf fünfzig. Er kommt mir unglaublich alt vor. Als er seine verspiegelte Sonnenbrille abnimmt, wirkt seine Miene sorgenvoll. Obwohl er mit gesenkter Stimme spricht, kann ich das eine oder andere verstehen.

»Tut mir leid, Ma’am …«

»Der Gerichtsmediziner ist jetzt da. Sie brauchen sich jetzt nicht solch einem …«

»Wir werden diesen Irren finden, Ma’am, diesen …«

Ich schaue zu dem Streifenwagen hinüber. Die Wagentür steht offen. Ich betrachte den zweiten Polizisten, der ein gutes Stück jünger ist. Er legt einen Film in eine von diesen Kameras, wo man zusehen kann, wie das Foto sich entwickelt. Er legt den Apparat weg und mustert mich. Seltsamerweise schäme ich mich und senke den Blick zu Boden. Als ich mich wieder getraue, den Blick zu heben, beäugt er Jeremy. Kurze Zeit später verabschieden die Polizisten sich und brausen in einer Staubwolke die Straße hinunter. Wie zur Salzsäule erstarrt steht meine Mutter im Hof. Und Jeremy schaukelt mit einem entrückten Lächeln vor und zurück.

Ich habe mit Jeremy nie über den Tag gesprochen, an dem unser Vater starb. Ich hatte den Mann gehasst. Jeden Morgen, wenn er zur Arbeit ging, schaute ich seinem davonfahrenden Pick-up hinterher und betete zu Gott, dass er starb. Dass eine Stützmauer einbrach und ihn unter sich begrub, dass er von einer Planierraupe überfahren wurde, von einer Brücke fiel. Dutzende von tröstlichen Szenarien malte ich mir aus.

Gott, bitte mach, dass heute eine Gasleitung explodiert und er ums Leben kommt …

Stattdessen explodierte irgendwann mein großer Bruder. Erst Jahre später, nachdem ich bereits zahllose dysfunktionale Täter verhört hatte, begriff ich, wie die Tat meines Bruder tatsächlich einzuschätzen war: Jeremys Raserei sollte mich vor dem immer unerträglicher werdenden Wahnsinn bewahren, der garantiert in ein viel schlimmeres Blutbad gemündet hätte, über das sich die Nachbarn später – man kennt das ja – betroffen geäußert hätten.

»Wir haben die Ridgecliff s ja nicht gut gekannt, aber sie wirkten anständig … Wir hatten nicht den Eindruck, dass Earl jemand war, der seiner Familie und sich so etwas antun würde … das ist wirklich eine grauenvolle Tragödie …«

Jeremy ahnte, worauf es am Ende hinauslaufen würde, und ergriff die einzige Maßnahme, die ihm sinnvoll erschien. Ich bin noch am Leben, weil er meinen Vater daran gehindert hat, mich zu töten.

Jeden Atemzug, den ich tue, habe ich Jeremy zu verdanken.

*

Ich breitete Jeremys Akten in chronologischer Reihenfolge aus und las zuerst den Bericht, der an dem Tag angefertigt wurde, als mein Vater starb. Einer der ersten Beamten am Tatort war County Police Officer Jim Day. Obwohl seine Vorgesetzten – Sergeant Willis Farnsworth, Lieutenant Merle Baines und Captain Hollis Reamy – auch vor Ort waren, hatte er den Bericht geschrieben. Vielleicht hatten Farnsworth, Baines und Reamy keine Lust gehabt, sich um den Papierkram zu kümmern. Dass höhergestellte Beamte derlei Tätigkeiten auf ihre Untergebenen abwälzen, ist nicht ungewöhnlich. Auf der anderen Seite hatte Day vielleicht ein Auge für die Details und verfügte über das entsprechende Vokabular.

Allem Anschein nach, schrieb Day, wurde der Dickdarm unten durchtrennt und wie ein Seil aus dem aufgeschnittenen Bauch des Opfers gezogen. Dieses mehrere Meter lange »Seil« lag auf dem Boden. Ein Stück weiter unten stand: Es sieht aus, als hätte der Täter eine Niere mit voller Wucht in einen Baum geschleudert, wo sie wie eine Wassermelone platzte. Am Boden neben dem Stamm haben wir Nierenpartikel gefunden.

Kurz vor der Schlussbetrachtung merkte Day an, der Tatort legt den Schluss nahe, dass der Täter seiner blinden Wut Ausdruck verliehen, eine Grenze überschritten, eine Entscheidung getroffen und entsprechend gehandelt hat.

Nach einer Stunde hatte ich Jim Days Beschreibungen und Einschätzungen durchgelesen und war schweißgebadet. Meine Hände zitterten. Die detaillierte Schilderung des Verbrechens machte mich fertig. Beim Lesen hatte mir die Bitte, Gnade walten zu lassen, in den Ohren geklungen, und der kupferartige Geruch des vergossenen Blutes war mir in die Nase gestiegen. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie mein Bruder meinen Vater mit dem Messer aufschlitzte – mit dem Messer, das ich normalerweise für die Mortadella benutzte.

Ich tupfte mir den Schweiß von der Stirn und schob den hohen Aktenstapel beiseite. In den anderen Mappen waren die Fälle der fünf weiblichen Mordopfer dokumentiert, die Jeremy auch auf dem Gewissen hatte. Damit würde ich mich später beschäftigen.

Oder morgen.

*

In der einsetzenden Abenddämmerung fuhr Jeremy Ridgecliff mit der U-Bahn nach Downtown. Er tat so, als würde er schlafen. In Wahrheit musterte er sein Gegenüber, einen teigigen kleinen Mann Anfang vierzig mit schütterem Haar. Er trug Khakis und eine Strickjacke aus grauer Wolle. Sein nervöser, unsteter Blick wanderte immer wieder zu der abgewetzten Aktentasche, die unter seinem Arm klemmte.

Da man mit Speck bekanntlich Mäuse fängt, hatte Jeremy den Nachmittag in der Bibliothek verbracht und sich in der Abteilung, wo die politischen Fachzeitschriften und archivierten Zeitungen auslagen, auf die Lauer gelegt.

Und wie erwartet hatte er einen Treffer gelandet.

Ihm war ein Mann aufgefallen, der an einem Arbeitsplatz saß, leise vor sich hin murmelte und sich Notizen machte. Eine Stunde später hatte der Bursche zaudernd die Bibliothek verlassen, die Aktentasche an die Brust gedrückt, war nervös die Straße hinuntergegangen und hatte immer wieder Blicke über die Schulter geworfen.

Jeremy, der die Witterung aufgenommen hatte, folgte ihm.

Der Mann blieb an einem Imbissstand stehen, klappte sein Sandwich auf, als wäre darin eine Sprengfalle versteckt, und inspizierte den Belag argwöhnisch. Nachdem er das Sandwich verschlungen hatte, stürmte er in die U-Bahn. Jeremy fischte seinen Metro-Pass heraus und folgte ihm nach unten.

Nächster Halt Chambers Street …

Der Zug wurde langsamer. Jeremy bemerkte, wie sein Gegenüber die Stange umklammerte. Der Mann wollte aussteigen, ohne dass das jemand mitbekam. Mit quietschenden Rädern kam der Zug zum Stehen. Die Türen glitten auf. Fahrgäste stiegen aus und ein. In der allerletzten Sekunde sprang der Mann auf und schlüpfte durch die sich schließenden Türen.

Jeremy war längst ausgestiegen und wartete in einer dunklen Ecke. Nachdem der Mann etwa zwölf Blocks Richtung Osten gegangen war, gelangten sie in ein teures Wohnviertel mit Hochhäusern.

Mit der Geschmeidigkeit einer Katze holte Jeremy auf und schlenderte neben dem Mann her.

»Geh weiter«, knurrte Jeremy. »Sonst stirbst du. Und ich will keinen Muckser von dir hören.«

Der Mann stöhnte auf. Jeremy dirigierte ihn auf eine asphaltierte Fläche vor einem verlassenen Hundelaufplatz. Eine schon seit langem nicht mehr gereinigte Straßenlaterne spendete gelbbraunes Licht. Jeremy bohrte dem Mann den Finger in den Rücken und scheuchte ihn zu einer Parkbank.

»Setz dich«, befahl er.

Der Mann tat, wie ihm geheißen, und hielt seine Aktentasche wie ein Schutzschild hoch. »I-ich habe K-Kopien. Falls mir irgendetwas z-zustößt, gehen Kopien an die New York Times, die W-Washington Post, die Chicago T-Tribune und die R-Rocky Mountain News.«

»Halt die Klappe, oder ich schneide dir die Kehle durch. Zeig mir, was du hast.«

Der Mann machte sich mit zitternden Fingern an den Schlössern zu schaffen und öffnete die Aktentasche, in der er Hunderte von zerfledderten Seiten aufbewahrte. Er zog ein seiner Meinung nach wichtiges Blatt mit Namen und Daten heraus, die mit bunten Pfeilen verbunden waren, und reichte es Jeremy.

»Sie können m-mir nichts tun. Ich habe vorgesorgt und K-Kopien gemacht.«

Jeremy trat unter die Straßenlampe, betrachtete die Pfeile und Linien, die Trilaterale Kommission, Ronald Reagan, Dynastie der Saud und G.W. Bush verbanden. Die Schweinebucht war aufgeführt und natürlich die Kennedys. Hinter jedem Namen standen ein halbes Dutzend Ausrufezeichen.

Jeremy gesellte sich wieder zu dem Mann und wedelte mit dem Blatt vor seiner Nase herum. »Seit wann weißt du das?«

»Seit z-zweiundzwanzig Jahren.«

Jeremys zornige Miene veränderte sich und wirkte auf einmal ganz entspannt. Er überraschte den Mann und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

»Grauenvoll, nicht wahr? Sie hatten in meinem Haus Lautsprecher installiert, aus denen nachts Geräusche drangen. Sie hatten sich als Techniker verkleidet und sich immer wieder an mich herangeschlichen. Und sie hatten Zeug in mein Essen getan, damit ich krank wurde.«

Der Mann machte große Augen. »Du bist … einer von uns?«

Jeremy schaute sich um und flüsterte: »Zehn Jahre sind sie hinter mir her gewesen, aber es ist mir gelungen, ihnen zu entwischen.«

»WIE DENN?«

Jeremy legte den Finger auf die Lippen und deutete auf einen herannahenden Jogger, einen Mann in weißem Trainingsanzug, der über Kopfhörer Musik hörte. Als er an ihnen vorbeilief, warf er ihnen einen gelangweilten Blick zu.

»Er hat uns gesehen«, keuchte der Mann. »Meinst du, er ist einer von ihnen?«

»Er war verkabelt«, sagte Jeremy. »Ist dir aufgefallen, dass eins der Kabel schwarz und das andere weiß war?«

Der Mann schlug die Hand vor den Mund. »Oje …«

Jeremy ging in die Hocke und schaute seinem Gegenüber in die Augen. »In Washington geht alles aus den Fugen. Vielleicht erklären sie sich ja bereit, dich zu vergessen. Ich habe jedenfalls dafür gesorgt, dass sie mich vergessen.«

»WIE DENN? Dafür würde ich alles tun!«

»Pst. Ich habe sie bestochen. Und von da an war ich frei.«

»Die NSA lässt sich bestechen? Und auch die CIA?«

»In Washington kann man mit Geld alles kaufen«, sagte Jeremy und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.

»Was wollen sie?«

»Was hast du anzubieten?«

Der Mann legte die Stirn in Falten, dachte nach und trommelte mit den Fingerspitzen auf den Aktenkoffer. »Papiergeld wird bald nichts mehr wert sein. Ich kann Goldmünzen besorgen, Krügerrands. Das meiste Gold ist radioaktiv bestrahlt, doch die Südafrikaner stellen die Krügerrands so her, dass sie immun gegen Bestrahlung sind. Viel kann ich allerdings nicht auftreiben – vielleicht siebzig- oder achtzigtausend Dollar.« Er schüttelte den Kopf. »Für die ist das nichts.«

»Bald wird es schon gar keine andere Währung mehr geben. Gib ihnen die Hälfte. So habe ich es gemacht.«

Der Blick des Mannes verdüsterte sich wieder. Er drückte den Aktenkoffer an die Brust. Seine Papiere fielen auf den Asphalt. »Du könntest einer von ihnen sein. Du bestiehlst mich und lässt mich trotzdem nicht in Ruhe.«

Jeremy tätschelte den Unterarm des Mannes und signalisierte ihm damit, dass sie Freunde waren. »Wenn ich hinter deinem Geld her wäre, würde ich dann nicht alles verlangen?«

Der Mann verdaute die Information und stieß erleichtert einen Seufzer aus. »Ich will ihnen nicht begegnen. Kannst du ihnen das Gold bringen?«

Jeremy richtete sich auf, steckte die Hände in die Taschen und schaute sich um.

»Ich muss morgen den Nachtflug nach Washington erwischen. Kannst du das Gold heute noch besorgen? Und vielleicht noch ein bisschen Bargeld als kleines Extra?«

Bestialisch

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