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KAPITEL 8

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»Könnten Sie bitte mal aufhören, ständig auf und ab zu laufen, Doc?«, fragte Harry Nautilus. »Sie machen mich noch ganz irre.«

Nautilus schnappte sich einen Stuhl und schob ihn so nah heran, dass er Dr. Alan Traynors Kniekehlen berührte. Da blieb dem Psychiater gar nichts anderes übrig, als sich zu setzen.

»Ich bemühe mich ja, Ruhe zu bewahren«, murmelte der stellvertretende Leiter des Alabama Institute of Aberrational Behavior und fuhr sich mit den rosa Fingern durch das schüttere weiße Haar. Er trug eine metallgefasste Gleitsichtbrille und zwinkerte unablässig. »Mir erscheint das alles äußerst rätselhaft. Warum sollte Dr. Prowse so etwas tun?«

Nautilus setzte sich auf den anderen Stuhl in dem mit Büchern vollgestopften Büro, das Dr. Evangeline Prowse gehört hatte. Damit der nervöse Seelenklempner nicht gleich wieder aufspringen konnte, rollte er so weit vor, dass sich seine und Traynors Knie fast berührten.

»Ich muss wissen, was Dr. Prowse in den letzten Wochen gemacht hat.«

Nautilus war gegen sechs Uhr früh in Mobile aufgebrochen, hatte während der Fahrt fast ununterbrochen mit der State Police telefoniert und dafür gesorgt, dass sie an einem Strang zogen und nicht in verschiedene Richtungen ermittelten. Fürs Erste wurde kein eindeutiges Statement zu Dr. Prowse’ Ableben herausgegeben. Und dass die Klinik einen Patienten vermisste, wurde ebenfalls nicht laut herausposaunt. Hätte sich Jeremy Ridgecliff jedoch in Alabama herumgetrieben, wären alle Behörden in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden. In dem Fall hätte man Straßensperren errichtet und mit Hubschraubern und Spürhunden nach ihm gesucht.

»Dr. Traynor?«, hakte Nautilus nach. »Ist Ihnen etwas Merkwürdiges aufgefallen?«

»Wie ich der State Police schon gesagt habe, war ich nicht da. Sie hat mich und drei ältere Mitarbeiter auf einen Kongress in Austin geschickt. Und zwar in allerletzter Minute. Das war schon merkwürdig.«

»Inwiefern?«

»Der Kongress hatte wenig mit dem zu tun, womit wir uns hier in der Klinik beschäftigen. Es ging um Dynamik in zwischenmenschlichen Beziehungen, Psychometrie, Persönlichkeitseinschätzung …« Traynor schlug plötzlich die Hand vor den Mund. »O nein. Glauben Sie, dass Dr. Prowse uns nach Austin geschickt hat, damit wir nicht mitbekommen … was hier gespielt wird?«

»Das kann ich Ihnen nicht beantworten. War sonst noch etwas ungewöhnlich?«

Beim Nachdenken runzelte Traynor die Stirn. »Während der letzten drei Wochen oder so wirkte sie nervös, obwohl nichts Besonderes vorgefallen ist. Eine Sache ist mir allerdings aufgefallen, aber das liegt schon länger zurück. Vor sechs Wochen hatte ich Nachtdienst. Als ich gegen Mitternacht meine Runde drehte, sah ich, dass Dr. Prowse noch in ihrem Büro war. Ich schaute kurz bei ihr rein und fragte, ob ich ihr irgendwie behilflich sein könnte, worauf sie antwortete, sie hätte es mit einem Fall zu tun, der ihr Rätsel aufgebe.«

»Na, ich würde mal vermuten, dass so etwas hier ganz normal ist.«

»Aber sie war nicht nur verwirrt, sondern wirkte bestürzt, was sie allerdings zu verbergen versuchte. Und als ich sie noch mal fragte, ob ich helfen könnte, meinte sie, dass sie aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht nicht darüber sprechen könne.«

»Die Fälle hier werden vertraulich behandelt?« Nautilus legte die Stirn in Falten und spähte in den langen weißen Flur. Ein Stück weiter unten war eine Stahltür zu erkennen, hinter der sich der Patiententrakt befand. Im Flur gab es alle fünfzehn Meter einen Alarmknopf, mit dem man nicht die Feuerwehr rief.

»In der Klinik nicht«, meinte Traynor. »Aber falls sie über einen Privatpatienten gesprochen hat, war sie an die ärztliche Schweigepflicht gebunden.«

Nautilus zog eine Augenbraue hoch. »Warum sollte eine renommierte Spezialistin wie Dr. Prowse Patienten annehmen, die ein gestörtes Verhältnis zu ihren Geschwistern haben oder unter Panikattacken leiden?«

»Sie sprechen von ganz normalen Störungen? Nein, mit derlei Fällen beschäftigte sie sich nicht. Falls Dr. Prowse jemanden als Privatpatienten angenommen hätte, dann nur einen Fall, der sie beruflich herausfordert.«

»Na, hier drinnen dürfte doch fast jeder Fall ›interessant‹ sein«, vermutete Nautilus. »Beispielsweise Jeremy Ridgecliff.«

Traynor nickte. »Ein Junge ermordet seinen Vater, nachdem dieser ihn jahrelang physisch und psychisch misshandelt hat. Ich würde es nicht als höchst ungewöhnlich bezeichnen, wenn so ein Junge irgendwann an seine Grenzen stößt und Rache nimmt. Ungewöhnlich war jedoch, dass sich der Zorn auf die sich abkapselnde Mutter verlagerte oder – besser gesagt – auf Substitute. Und selbstverständlich auch die überbordende physische Gewalt, die seinen Opfern zugefügt wurde. Unglücklicherweise …« Traynor zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf.

»Sprechen Sie doch weiter, Doktor.«

»Dr. Prowse ist es nicht gelungen, Ridgecliff zu bewegen, sich wirklich zu öffnen. Sie fand Mittel und Wege, dass er ruhiger wurde und mehr in der Wirklichkeit lebte, was schon ein Riesenerfolg ist, aber was der Auslöser war, hat sie nie erfahren.«

»Auslöser?«

»Entschuldigen Sie … unter Auslöser verstehen Dr. Prowse und ich das wahre Motiv, das ihn zum Töten veranlasst hat. Einer von unseren Kollegen spricht auch gern von dem ›Funken, der das Feuer entfacht‹.«

»Ich dachte immer, die Misshandlungen wären die Ursache.«

»In diesem Fall war das eine unumstößliche Tatsache. Unter Auslöser verstehen wir, wie der Patient dies in sein eigenes Wertesystem einbaut. Wie diese Realität wahrgenommen, gedeutet wird und – wie in Jeremy Ridgecliff s Fall – warum sich der Impuls, Frauen zu töten, herausbildet.« Traynor hob die Augenbraue und fuhr mit einem Anflug von Herablassung in der Stimme fort: »Für einen Laien mag dieses Konzept schwer verständlich sein. Ein gewalttätiger Säufer schlägt seine drei Söhne. Ein Sohn deutet die Züchtigung als Kontaktaufnahme, als deformiertes Zeichen seiner Liebe, und schafft es, die Liebe seines Vaters zu erwidern. Der zweite Sohn interpretiert die Prügel als Hass und reagiert dementsprechend. Der dritte Sohn …« Traynor brach ab, stützte das Kinn auf die Finger und versuchte, ein passendes Beispiel zu finden.

»Der dritte Sohn«, sagte Nautilus, »könnte die Sache vollkommen anders einschätzen und das Leid als Botschaft von Gott, Allah oder einer anderen höheren Macht ansehen, als Zeichen, dass er ein Auserwählter und das Leid ein notwendiges Übel ist.«

Traynor blickte zu Nautilus hinüber, als sähe er ihn zum ersten Mal.

»Ganz genau, Detective. Aber Dr. Prowse ist nie dahintergekommen, wie Jeremy Ridgecliffs Interpretation lautete. Wahrscheinlich war er sich darüber im Klaren, dass sie ihm genau dieses Geheimnis entlocken wollte. Manchmal haben die beiden das Thema beinah spielerisch umkreist.«

»Spielerisch?«

»Beide waren sich dessen bewusst, dass dies ein ernstes Thema war, doch Jeremy Ridgecliff spielte dieses Versteckspiel schon sein ganzes Leben lang und ließ sich nicht in die Karten schauen.«

»Dann haben die beiden also, ähm, miteinander Katz und Maus gespielt. Könnte man es so formulieren?«

»Ridgecliff konnte ziemlich bösartig sein und dann wieder überaus charmant, wenn ihm der Sinn danach stand. Beinahe liebenswert. Wenn man seine Geschichte nicht kannte.«

Liebenswert. Das Wort geisterte Nautilus im Kopf herum. Dr. Evangeline Prowse war mit seinem Partner befreundet. Und wenn man Carson etwas vorwerfen konnte, dann den Umstand, dass er denen, die ihm nahestanden, Fehler nachsah. Nautilus kniff die Augen etwas zusammen, musterte den nervösen Traynor und entschied, ihm etwas Feuer unter dem Allerwertesten zu machen.

»Erzählen Sie mir, was man unter Übertragung versteht, Doktor.«

Traynor runzelte die Stirn. »Dr. Prowse würde eine Übertragung niemals zulassen.«

»Die Übertragung romantischer Gefühle vom Patienten auf den Therapeuten … alle möglichen Patienten verlieben sich in ihre Therapeuten. Und manchmal passiert es auch umgekehrt, oder? Der Arzt verliebt sich in den Patienten.«

Die Stirn des Psychiaters färbte sich rot vor Wut. »Der Gedanke, dass Dr. Prowse mit einem Patienten eine Beziehung eingehen würde, ist vollkommen absurd.«

»Und wieso hat sie sich dann solche Mühe gegeben und Ridgecliff aus der Klinik geschleust?«

»Sie hat ihn nicht rausgeschleust. Er hat sie dazu überredet.«

»Dr. Prowse hat die Arbeitspläne der Wachen geändert, Überweisungsscheine gefälscht und während der letzten zwei Wochen wenigstens ein halbes Dutzend falscher Szenarien entwickelt. Sie selbst haben den Verdacht geäußert, sie hätte Sie auf einen Kongress geschickt, damit Sie ihre Pläne nicht vereiteln können. Vielleicht war das ja alles ihre Idee.«

»Ich habe Ihnen gerade eben gesagt, dass das vollkommen unmöglich ist!«

»Sie hat all das gemacht, als er noch weggesperrt war und ihr weder ein Messer an die Kehle halten noch mit einer Waffe auf sie zielen konnte. Ihr Tun erscheint irrational. Was auf Gefühle hindeutet. Starke Gefühle. Womit sollte Ridgecliff Dr. Prowse unter Druck setzen können, wenn nicht mit Gefühlen?«

Traynor sprang abrupt auf. Sein Stuhl kippte hintenüber. »Ich weiß es nicht, verdammt noch mal. ICH WEISS ES EINFACH NICHT!«

Nautilus betrachtete den umgekippten Stuhl und zog eine Augenbraue hoch. »Wenn so eine Übertragung vor den Augen aller anderen stattfindet, ruft das Überraschung und Zorn hervor. Und solch eine Reaktion ist ein Resultat von Verdrängung, richtig?«

Der Psychiater wandte den Blick ab.

»Ja«, gab er kleinlaut zu.

Bestialisch

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