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KAPITEL 7

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Als ich am nächsten Morgen aufs Revier kam, roch es im Büro der Detectives schwer nach Schweiß und Adrenalin. Beamte liefen hektisch hin und her, Unterlagen wurden gesichtet, Telefone läuteten. Cluff telefonierte und ließ sein Faxgerät nicht aus den Augen. Ein schwergewichtiger Detective lief mit einer Tasse Kaffee durch den Raum, setzte sich ein paar Meter weiter drüben an seinen Schreibtisch und fing an, sich mit einem Kollegen zu unterhalten.

»Jenseits von Gut und Böse«, meinte der Schwergewichtige und lachte.

»Was?«

»Len und ich waren gerade in einem Apartment in Tribeca. Schicke Wohnung, gehört einem Ehepaar. Der Mann leitet eine Investmentfirma. Nette Menschen. Sie haben ein Gästezimmer, wo Gerald, der Bruder der Frau, lebt. Gerald ist zweiundvierzig und nicht ganz richtig im Kopf. Leidet unter Paranoia und Schizophrenie, kommt aber ganz gut zurecht, solange er seine Medikamente nimmt. Tut er das nicht, flippt er aus und macht so irre Sachen, wie sich vor dem FBI zu verstecken. Ein paarmal im Jahr wird er von der Polizei aufgegriffen und nach Hause verfrachtet.«

»Anhänger von Verschwörungstheorien?«

»Und wie! Offenbar ist Gerald gestern Abend nach Hause gekommen, hat den Safe im Arbeitszimmer des Ehemanns geknackt und sich Krügerrands im Wert von siebenundvierzigtausend Dollar unter den Nagel gerissen, die der Investmenttyp dort gebunkert hatte.«

»Nicht schlecht.«

»Ja. Und als der Investmentheini heute Morgen merkt, dass die Münzen fehlen, hat Gerald sie schon weitergeleitet, zusammen mit sechsundzwanzigtausend Mäusen in bar. Mit der Begründung, er hätte sich bei der CIA freigekauft.«

Gelächter. »Wem hat Gerald die Münzen und den Zaster gegeben? Hat er das verraten?«

»Nee, er sagt nur, dass er endlich frei ist und sie alle in Sicherheit sind. Der Bursche ist überglücklich. Hat uns sogar ein Stück Karton gezeigt, auf dem etwas geschrieben steht, und behauptet, das wäre die Quittung von der CIA …«

Ich schüttelte den Kopf und ging weiter. Waltz war gerade eingetroffen, öffnete seine Bürotür und warf seinen Hut auf die Schreibtischecke. Mit freundlicher und argloser Miene durchquerte ich den Raum. Da ich die Täuschung der Wahrheit vorgezogen hatte, gab es kein Zurück mehr für mich.

Und es war auch nicht gerade so, dass meine Angst, entlarvt zu werden, mich in die Knie zwang. Immerhin hatte ich einiges auf mich genommen, damit mich niemand mit meiner Vergangenheit in Verbindung bringen konnte. Einmal abgesehen davon, dass ich einen Freund mit Computererfahrung dafür bezahlt hatte, dass er bestimmte Informationen in einer College-Datenbank löschte, hatte ich mich größtenteils ans Gesetz gehalten, meinen Namen geändert und behutsam ausgewählte Gerüchte in Umlauf gebracht. Wenn diejenigen, die von meiner Verbindung zu Jeremy Ridgecliff wussten, nicht mit dem Finger auf mich zeigten, würde jeder, der den vermissten Sohn dieser schrecklichen Familie suchte, denken, der Typ hätte einen Dampfer bestiegen, wäre mitten auf dem Meer über Bord gegangen und spurlos verschwunden.

»Was steht an, Shelly?«, fragte ich und steckte den Kopf durch seine Tür.

»Cluff hat die Steuererklärungen von Ms Dora Anderson aufgetrieben. Sie hat nicht von Anfang an als Maklerin gearbeitet, sondern diesen Beruf erst später ergriffen.«

»Und was hat sie vorher gemacht?«

»Sie war Sozialarbeiterin in Newark. Ist schon eine Weile her, aber …«

Eine halbe Stunde später befanden wir uns im Büro des Newarker Sozialamtes, das viel Ähnlichkeit mit dem Büro auf dem Revier hatte. Der Raum war vollgestopft mit Trennwänden, Aktenschränken und Schreibtischen. Eine Seite war abgeteilt und in mehrere kleine Büros und Besprechungsräume umgewandelt worden. Im Gegensatz zum Polizeirevier bestand die Belegschaft hier jedoch überwiegend aus Frauen, und es roch nach Parfüm, Handcreme und anderen weiblichen Düften. Auf den Schreibtischen standen mehr Familienfotos und deutlich weniger Aufnahmen von breit grinsenden Typen, die einen Fisch hochhielten.

Man hatte uns an Jonnie Peal verwiesen, eine Frau zwischen vierzig und fünfzig, die beim Sprechen den Kopf neigte und alle paar Sekunden wegsah, als würde ihr jemand in regelmäßigen Abständen ein paar Worte ins Ohr flüstern.

»Dora hat nur im Innendienst gearbeitet. Als Sachbearbeiterin erstellte sie hauptsächlich die Arbeitspläne und koordinierte für unsere Ansprechpartner die Termine. Soweit ich mich entsinne, hatte sie damals schon ihre Maklerlizenz und übte diesen Beruf an den Wochenenden aus. Irgendwann hat sie beschlossen, das Vollzeit zu tun. Wahrscheinlich hatte sie es satt, Arbeits- und Terminpläne zu erstellen. Und da sie als Maklerin auch mehr verdiente, war das nicht die schlechteste Entscheidung.

»Sie hatte also keinen Kontakt zu dem von Ihnen betreuten Personenkreis?«

Ms Peal deutete mit dem Kinn auf mehrere geräumige Arbeitsnischen aus hohen grauen Trennwänden. »Tag für Tag saß sie am Arbeitsplatz vierzehn und versah dort ihren Dienst.«

Ich blickte zu Waltz hinüber. Es kam nur äußerst selten vor, dass an den Schreibtisch gekettete Mitarbeiter sich Feinde machten, die sie später umbrachten und verstümmelten. Die Einzelfallbetreuer, die Leute auf der Straße, wurden gemieden, verspottet, verflucht, angespuckt und bekamen gelegentlich auch etwas ab, wenn sie zwischen die Fronten gerieten. Meistens sahen die Betroffenen überhaupt nicht ein, warum die Betreuer dort waren, und wollten auch keine Einmischung. Beziehungsstreits waren schlimm, und wenn es Kinder gab, wurde alles nur noch komplizierter. Obwohl die Eltern das Kleinkind manchmal tagelang im Dreck liegen ließen, brauchte ein Sozialarbeiter nur anzudeuten, dass sie es an der nötigen Fürsorge fehlen ließen, und schon eskalierte die Situation und es kam zu Gewaltanwendungen. Derlei Katastrophen waren Ms Anderson glücklicherweise erspart geblieben.

»Das stimmt nicht«, meldete sich eine Stimme. »Dora hat nicht immer nur am Schreibtisch gesessen.«

Wir drehten die Köpfe. Die Stimme gehörte einer zierlichen, aufgedonnerten Latina, die ein paar Meter weiter drüben an einem Schreibtisch saß und bis eben telefoniert hatte. Sie erhob sich. Ihr Telefon klingelte erneut. Wahrscheinlich läutete es in einem fort.

»Wie bitte?«, fragte ich.

Sie drückte auf eine Taste auf ihrem Telefon und kam herüber. »Ich bin Celia Ramirez und arbeite seit zwanzig Jahren hier. Dora hat gleich nach dem College beim Sozialamt als Einzelfallbetreuerin angefangen. Was, wie ich vermute, nicht so richtig funktioniert hat. Später hat sie im Archiv ausgeholfen und sich hochgearbeitet.«

»Hat sie damals dieser Abteilung angehört? In diesem Amt gearbeitet?«

Ms Ramirez deutete auf einen Anbau. »Nein, im Jugendamt. Haben Sie eine Ahnung, was man dort alles erlebt?«

»Ja«, antwortete ich. »Ich kenne mich da leider aus.«

Nachdem Ms Ramirez uns eine Wegbeschreibung gegeben hatte, gingen wir hinüber ins Jugendamt. Die Büroräume waren ganz typisch für eine Behörde: verglaste Kuben, Stühle, Schreibtische mit überquellenden Postkörben, Aktenschränke. Das Grauen, das in den Aktenschränken und Mappen landete, war mir bekannt. Bei manchen Kindern ging die Saat auf und sie wurden zu Serienmördern. Psychopathische Mörder werden nicht als solche geboren, sondern in der Kindheit dazu gemacht. Sie kommen aus Familien, wo physische und psychische Misshandlungen zum Alltag gehören, und zwar in einem Ausmaß, das dem Durchschnittsamerikaner unvorstellbar erscheint.

Sexueller Missbrauch, Gewalt, Perversion oder eine unerbittliche Kombination aus allen drei Schreckensszenarien berauben sie ihrer Kindheit. Einige Kinder halten durch, überstehen dieses unerträgliche Leid und führen dann das, was wir ein »normales Leben« nennen. Aber Durchhalten ist eine Fähigkeit und kein Fundament. Viele sind dermaßen traumatisiert, dass sie niemals in der Lage sind, eine normale Beziehung zu führen oder inneren Frieden zu finden. Bei anderen wird die Psyche so stark deformiert, als hätte ein loderndes Feuer ihre Seele ausgelöscht, bis da nichts mehr ist, das dem Bösen Einhalt gebieten kann. Und dann ist alles möglich.

»Alles okay, Detective Ryder?«, fragte Waltz, als er mitbekam, wie schweigsam ich war.

»Ich kenne all das viel besser, als mir lieb ist, Shelly.«

»Ja, so geht es mir auch. Hören Sie, wenn wir uns hier zu zweit umhören, wirkt das vielleicht ein bisschen übertrieben. Ich halte es für besser, wenn nur einer von uns Fragen stellt. Würden Sie das übernehmen?«

Ich nickte. »Klingt vernünftig.«

Er gab mir einen Klaps auf die Schulter, stellte sich auf Zehenspitzen und schaute sich um. »Ich muss unbedingt auf die Toilette. Habe mir heute Morgen zwei Dosen von diesem Schokodiätdrink gegönnt.«

Ich schlenderte so lange herum, bis ich die Leiterin des Jugendamtes gefunden hatte. Eugenie Brickie war eine schlanke, gutaussehende Schwarze Mitte fünfzig mit forschendem Blick, die mich von Kopf bis Fuß musterte, ehe sie entschied, dass ich auf der richtigen Seite stand.

»Wie lange hat sie als Einzelfallbetreuerin gearbeitet?«, fragte ich. Wir gingen vor dem Gebäude auf und ab, damit Ms Brickie eine Zigarette rauchen konnte, doch von Rauchen konnte eigentlich keine Rede sein, denn sie steckte die Zigarette nur ganz kurz in den Mund und inhalierte erst, wenn sie den Glimmstängel wieder herauszog. Wahrscheinlich hatte sie jahrelang geraucht und paffte jetzt nur noch gelegentlich.

»Nachdem Dora zwei Jahre bei uns gearbeitet hatte, wurde sie vor die Wahl gestellt, in den Innendienst zu wechseln oder gekündigt zu werden.«

Ich wartete, bis ein Bus vorbeigefahren war, ehe ich die nächste Frage stellte. »War Dora nicht gut in ihrem Job?«

»Vielleicht zu gut. Zu sensibel. Sie war nicht in der Lage, auf Distanz zu gehen. Jedes Kind war Doras Kind, und sie ging immer davon aus, dass ein Happy End möglich war. Und wenn es schiefging, gab sie sich die Schuld. Die Arbeit machte sie fertig. Und es setzte ihren Kollegen mächtig zu, wenn sie sich dreimal pro Woche auf der Toilette ausheulte.«

»Dass sie sich da völlig rausgezogen hat, finde ich nicht nachvollziehbar.«

Am Ende des Straßenblocks machten wir kehrt. Ms Brickie hatte ihre Zigarette fast aufgepafft.

»Dora wohnte mit ihrer Mutter zusammen, die seit mehreren Jahren krank war. Das war auch der Grund, wieso sie am Wochenende noch als Maklerin arbeitete. Mit dem zusätzlichen Einkommen konnte sie die Rechnungen bezahlen. Irgendwann verschlechterte sich der Zustand ihrer Mutter, die Rechnungen häuften sich …«

»Und Dora entschied sich für den besserbezahlten Job.«

»Ich kann mir vorstellen, dass sie eine prima Maklerin war. Bestimmt setzte sie alles daran, dass jeder ihrer Kunden sein Traumhaus fand und glücklich war. Vielleicht hat sie sich deshalb so ins Zeug gelegt, aber sie hat sich nicht ganz von der Sozialarbeit verabschiedet.«

»Was meinen Sie damit?«

Wir blieben vor dem Eingang stehen. Ms Brickle steckte ihre Zigarette in einen rechteckigen, mit Sand gefüllten Aschenbecher und drückte den Stummel so tief hinein, dass nur ein braunes Loch von der Größe einer Kugel Kaliber .32 übrig blieb.

»Vor etwa einem Monat bin ich ihr drüben in New York zufällig über den Weg gelaufen. Sie trippelte auf hohen Pumps und in einem bunten Kleid die Straße hinunter und wirkte so gut gelaunt und glücklich, als wollte sie vor Freude Bäume ausreißen. Als ich sie im Scherz fragte, ob sie Donald Trump gerade ein Gebäude verkauft hätte, lachte sie und sagte, sie hätte jemanden getroffen, den sie früher mal als Kind betreut hatte, und er hätte es wirklich geschafft. Ihrer Einschätzung nach hatte er nicht nur überlebt, sondern führte jetzt auch ein ganz normales, gutes Leben.«

»Hat sie erwähnt, um wen es sich dabei handelte?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Wir kümmern uns um so viele Kinder, dass mir der Name wahrscheinlich gar nichts gesagt hätte. Jedenfalls war sie diesem Mann nur begegnet, weil er ein neues Domizil suchte.«

»Also eine Erfolgsgeschichte.«

»Nicht mal Dora hatte geglaubt, dass er es schafft, weil er zu fertig war. Wider Erwarten war er zu einem verantwortungsbewussten Mann herangewachsen, der einen passablen Job hatte und mit gutem Beispiel vorangehen wollte. An diesem Tag strahlte sie nicht, weil sie eine erfolgreiche Maklerin war, Detective. Nein, sie freute sich, weil ein hoffnungsloser Fall sich anders als erwartet entwickelt und sie ihr Happy End bekommen hatte.«

Bestialisch

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