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KAPITEL 2

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»Wissen Sie, wovon sie redet, Detective?«, fragte die Alpha-Lady mit vor der Brust verschränkten Armen. »Mal abgesehen davon, dass Sie sich mit Irren richtig gut auskennen?«

»Nein.«

»Und Sie haben auch keine Ahnung, was sie meint, wenn sie sagt, dass sie gerade etwas macht, das nicht sinnvoll erscheint?«

»Ich habe keinen Schimmer, Lieutenant.«

»Ms Prowse sagt: ›Ich brauche einen seriösen …‹, bevor sie unterbrochen wird. Was könnte sie damit meinen?«

»Woher soll ich das wissen? Wo wurde die Aufnahme überhaupt gefunden?«

»Die Speicherkarte steckte in einem Umschlag, auf dem Im Notfall öffnen stand«, antwortete Waltz. »Unter den gegebenen Umständen hielten wir es für sinnvoll, ihrer Bitte zu entsprechen. Selbstverständlich habe ich den Mitarbeiter von der Spurensicherung sofort gebeten, das Video abzuspielen. Und dann …«

»Mussten wir stundenlang Däumchen drehen, anstatt zu ermitteln, und auf einen Außenseiter warten, der sich nun an unserem Tatort breitmacht«, beendete der Lieutenant den Satz und schüttelte den Kopf.

Leise seufzend drehte Waltz sich zu der Frau um. »Ich habe noch nie von einem Fall gehört, wo das Opfer dem Ermittlungsteam die Expertise eines anderen Detectives ans Herz legt. Von daher hielt ich es für besser, alles so zu lassen, wie es war, und den betreffenden Polizisten herzubitten, damit er den Tatort mal unter die Lupe nimmt. Die Jungs von der Gerichtsmedizin konnten ungestört arbeiten, und die Spurensicherung ging etwas langsamer vonstatten, wurde aber nicht gestoppt. Falls Sie ein Problem mit meiner Entscheidung haben, Lieutenant, schlage ich vor, dass Sie Ihr Missfallen an höherer Stelle zum Ausdruck bringen.«

Waltz fischte ein Handy aus der Tasche, wählte eine Nummer und hielt dem Lieutenant das Telefon vor die Nase. In dem Raum wurde es mucksmäuschenstill. Ich hörte, wie es mehrmals läutete und jemand abnahm.

»Hier ist das Büro des Polizeichefs …«

Dem Lieutenant wich alle Farbe aus dem Gesicht.

»Hallo? Ist da jemand?«

Sie riss Waltz das Handy aus der ausgestreckten Hand, klappte es zu und hielt es ihm hin. Sie kapitulierte und übertrug nun ihre Frustration von Waltz auf mich. Mit eisiger Stimme sagte sie: »Nach dem zu urteilen, was von ihrer Bekleidung übrig geblieben ist, trug sie Joggingklamotten. Wahrscheinlich ist sie gelaufen, auf der Straße aufgegriffen und hierhergebracht worden. Hat sie daheim auch gejoggt?«

»Das war ihre Passion. Trotz ihrer 63 Jahre hat sie noch an Marathons teilgenommen«, sagte ich. »Sie war ein Fitness-Junkie.«

»Ist sie manchmal spätabends gelaufen?«

»Sie rannte, wann immer es ihr die Zeit erlaubte oder wenn sie gestresst war. Hat sie irgendwelche Verletzungen, die darauf hindeuten, dass sie sich gewehrt hat?«

»Wie wäre es, wenn Sie Ihre Klappe halten und die Fragen dem Lieutenant überlassen?«, raunzte mich ein Detective an, ein Koloss von Mann mit Schultern und Hals wie ein griechisch-römischer Ringer. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig – ein paar Jahre älter als ich. Sein Gesicht war blass und von Aknenarben übersät. Die kleinen Augen wirkten wie winzige grüne Erbsen in einer Schale Haferbrei. Seine Haare waren weder blond noch braun, sondern irgendein Farbton dazwischen. Ich hatte gehört, wie ihn jemand Bullard genannt hatte.

»Auf ihren Unterarmen haben wir blaue Flecken gefunden. Allem Anschein nach hat sie sich gewehrt«, sagte Waltz. »Unter ihren Nägeln, die sie bedauerlicherweise kurz trug, haben wir nichts entdeckt. Sobald wir von hier verschwinden, wird das Team von der Spurensicherung den Boden absaugen. Vielleicht finden sie ja etwas, was uns weiterhilft.«

»Wieso hat das Opfer ausgerechnet Sie ins Spiel gebracht?«, meldete sich die Alpha-Lady wieder zu Wort. »Und weshalb hat sie Sie um Verzeihung gebeten?«

»Ich bin gerade eben erst hier eingetroffen. Woher, verflucht noch mal, soll ich das wissen?«

»He«, bellte Bullard. »Hüten Sie Ihre Zunge.« Er drückte den Rücken durch, um mir zu zeigen, dass er größer und breiter war als ich.

»Sachte, Bubba«, warnte die Alpha-Lady. »Ich brauche endlich einen Anhaltspunkt. Waltz hat mir von dem Irrenhaus erzählt, wo sie arbeitete, dieser Klinik. Könnte es sein, dass ein ehemaliger Patient einen Groll gegen sie hegt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Unmöglich.«

»Ist Wahrsagen auch eins Ihrer Talente?«

»Aus der Klinik kommt man nur raus, wenn man seinen letzten Atemzug getan hat. Dort geht es nicht um Wiedereingliederung, sondern um die Analyse der Insassen.«

Waltz nickte. »Er hat recht. Ich kenne die Einrichtung.«

»Haben Sie überprüft, wo Dr. Prowse seit ihrer Ankunft gewesen ist, Lieutenant?«, fragte ich. »Vielleicht wurde sie von dem Täter schon früher ins Visier genommen. Möglicherweise gleich auf dem Flughafen. Man könnte …«

Sie hob die Hand und schenkte mir ein nachsichtiges Lächeln, das gespielt war. »Ich will gern glauben, dass Sie sich daheim hervorragend machen, Detective, aber lassen Sie mich Ihnen eines versichern: Wir wissen, was wir tun. Schließlich machen wir das nicht zum ersten Mal.« Dann wandte sie sich mit ihrem falschen Lächeln an Waltz. »Gehen Sie mit ihm Mittag essen, Detective. Zeigen Sie ihm die Freiheitsstatue. Lassen Sie ihn ein paar Postkarten kaufen. Und dann ist es höchste Zeit, dass unser geschätzter Leiharbeiter wieder nach Mississippi zurückkehrt.«

Ehe ich etwas erwidern konnte, drehte sie mir den Rücken zu und stolzierte mit ihren Lakaien im Schlepptau davon. Und damit war der kleine Kompetenzstreit, von dem Waltz sich offenbar nicht beeindrucken ließ, beendet.

»Im Monolog des guten Lieutenants habe ich irgendwo das Wort Mittagessen aufgeschnappt«, meinte er. »Ein paar Blocks von hier gibt es ein ganz passables Restaurant. Sollen wir da mal vorbeischauen, Detective Ryder?«

*

Das Restaurant bestand eigentlich nur aus einer langen schmalen Theke und ein paar Tischen an einer Wand, die mit vergilbten Sardinienpostern zugekleistert war. Da ich keinen Hunger hatte, stocherte ich lustlos in meinem Salat herum. Waltz, der anscheinend ebenfalls unter Appetitlosigkeit litt, nahm einen kleinen Bissen von seinem Hühnchensandwich.

Auf Waltz’ Position in der Polizeihierarchie konnte ich mir keinen Reim machen. Er hatte den Dienstgrad eines Detectives, während Alice Folger, die Alpha-Lady, Lieutenant war. Waltz gegenüber gab sie sich recht barsch, obwohl sie augenscheinlich darauf achtete, ihn nicht zu sehr in die Enge zu treiben. Und ich hätte auch zu gern gewusst, wer Waltz die Befugnis gab, eine Ermittlung mehrere Stunden lang ruhen zu lassen, bis ich in New York gelandet war. Für so eine Aktion brauchte man außergewöhnliche Verbindungen.

Gerade als ich ihn das fragen wollte, schob Waltz sein kaum angerührtes Sandwich beiseite. »Lassen Sie uns mal annehmen, Dr. Prowse wähnte sich in Gefahr. Warum hat sie dann nicht beim NYPD um Schutz gebeten?« Er hielt inne. »Das legt den Schluss nahe, dass sie keine Angst hatte. Und dass sie mitten in der Nacht joggen gegangen ist, untermauert diese These.«

»Was ist mit der Videoaufzeichnung?«

»Wir wissen nicht, wann sie gemacht wurde. Oder aus welchem Grund. Haben Sie wirklich keine Ahnung, warum sie kurz vor ihrem Tod Ihren kompetenten Umgang mit Psychopathen erwähnt?«

Waltz’ Plauderton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich verhört wurde. Ich schaute schnell nach unten. Da wurde mir klar, dass so etwas immer verdächtig wirkt und einem als Unehrlichkeit ausgelegt werden kann. Also kratzte ich mich schnell am Knöchel und tat so, als wäre der Blick nach unten zielgerichtet gewesen.

»Ich tappe im Dunkeln. Genau wie Sie, Shelly.«

»Und Sie können sich nicht vorstellen, was ihr leidgetan hat? Oder was es mit diesem seriösen Etwas auf sich hat, das sie brauchte?«

Diesmal konnte ich ihm in die Augen schauen. »Auf all das kann ich mir keinen Reim machen.«

»Wie ist Ihr Werdegang, Detective Ryder … wenn ich das fragen darf?«

»Ich bin seit acht Jahren bei der Polizei, fünf davon bei der Mordkommission. Einen Monat lang habe ich an der FBI Behavioral Division studiert. Außerdem gehöre ich einer Sondereinheit an, die sich PSET nennt: Psycho- und Soziopathologisches Ermittlungsteam.«

»Klingt eindrucksvoll.«

»Ja, die Bezeichnung macht viel her, doch die Einheit, die von allen Piss-it genannt wird, besteht nur aus mir und meinem Partner Harry Nautilus. Wir werden schätzungsweise fünfmal pro Jahr gerufen. In den meisten Fällen handelt es sich um falschen Alarm, aber wenn wir die Ärmel hochkrempeln müssen, ist unsere Aufklärungsrate ganz ordentlich.«

»Wie hoch liegt sie?«

»Bei hundert Prozent. Trotzdem … wie meinte Ihr widerborstiger Lieutenant so treffend: Das hier ist New York. Sie müssen sich hier jeden Tag mit mehr Irren herumschlagen als die Polizei von Mobile in einem ganzen Jahr.«

Waltz schwenkte den Eistee in seinem Glas. »Dr. Prowse zufolge besitzen Sie eine ganz besondere Gabe, die sich bei Irren als Vorteil erweist. Sie nannte es eine gespenstische Gabe. Was hat es damit auf sich?«

Mit der Gabel spießte ich ein Blatt Römersalat auf. Da ich nicht lügen wollte, aber auch nicht mit der Wahrheit herausrücken konnte, bewegte ich mich auf dünnem Eis.

»Mein Hauptfach auf der Uni war Psychologie, Shelly. Ich habe mit weggesperrten Psycho- und Soziopathen Interviews geführt. Dr. Prowse war der Ansicht, ich hätte einen Draht zu ihnen und könnte sie dazu bewegen, aus der Deckung zu kommen. Das ist wahrscheinlich die Gabe, von der sie gesprochen hat.«

Ich spürte, dass Waltz sich fragte, ob ich ihm die ganze Geschichte erzählt hatte, doch er wechselte das Thema. »Da ich noch nicht gewillt bin, auf Ihre Hilfe zu verzichten, habe ich mich an die gewandt, die etwas zu sagen haben, und sie überredet, dass Sie uns noch ein paar Tage unterstützen dürfen. Man kann ja nie wissen.«

Dass Waltz, ohne zu zögern, seine direkte Vorgesetzte überging, wunderte mich. »Klingt ganz so, als hätten Sie sich nicht an Lieutenant Folger, sondern an eine höhere Stelle gewandt.«

»Stimmt. Ich möchte jedoch anmerken, dass das weder als Kritik an ihrer Person noch an ihrer Qualifikation gemeint ist. Meines Erachtens ist sie mit ein paar Aspekten ihres Lebens unzufrieden, was sie manchmal etwas reizbar macht. Auf der anderen Seite ist der Lieutenant mit einem extrem analytischen Verstand gesegnet. Und falls man den Prophezeiungen trauen darf, landet sie irgendwann noch ganz oben.«

»Für ihr Alter besitzt sie ziemlich viel Autorität.«

»Folger ist zweiunddreißig und nimmt auf der Karriereleiter immer drei Stufen auf einmal. Nach ihrem Abschluss in Strafjustiz – sie war Klassenbeste und hat die höchsten Auszeichnungen erhalten – fing sie in Brooklyn als Streifenpolizistin an. Da hat sie ihren Verstand genutzt, Verbrechensmuster analysiert und realistische Lösungen vorgeschlagen, was Aufmerksamkeit erregte. Eine Weile lang hat sie undercover ermittelt, verdeckte Ermittlungen geleitet, Drogendealer gegeneinander ausgespielt und eine Hehlerorganisation auffliegen lassen, die landesweit operierte …«

»Dann war sie also alles andere als eine gewöhnliche Streifenpolizistin.« Auf einmal sah ich gewisse Parallelen zwischen mir und Alice Folger. Mein Aufstieg begann, als ich – noch in Uniform – ein bedeutendes Verbrechen aufklärte.

Waltz nickte. »Es hatte fast den Anschein, als müsste sie allen beweisen, wie kompetent sie war. Ein paar einflussreiche Leute sind auf sie aufmerksam geworden und haben sie an die hohen Tiere in One Police Plaza, dem Polizeipräsidium, weiterempfohlen. Dort hörte man auf ihre Förderer, beschleunigte ihren Aufstieg und schickte sie probeweise zu uns. Wir sind ein großes Revier, und unsere Ermittlungsteams kümmern sich um alles, angefangen von geisteskranken Stadtstreichern bis hin zu mordlüsternen Börsenmaklern. Also genau der richtige Ort für einen Detective, der ein paar Asse mehr im Ärmel hat als andere.«

Vielleicht trifft das auch auf Sie zu, Shelly, dachte ich.

»Ich bin doch auch Polizist. Weshalb traut Folger mir also nichts zu?«

»Johnny Folger, Alice’ verstorbener Vater, war beim NYPD. Seine drei Brüder ebenfalls. Einer starb am 11. September. Eine Tante arbeitet in der Asservatenkammer. Und das ist nur diese eine Generation. Davor …«

Ich hob abwehrend die Hand. »Ich hab’s kapiert, Shelly. Die Polizeiarbeit liegt ihr im Blut.«

»Oder sie legt sich so sehr ins Zeug, damit sich diese Gene endlich ausbilden.«

»Wie bitte?«

Er winkte ab. »Nichts. Ich war immer der Meinung, dass Familie mehr mit Gewohnheiten und Tradition als mit Blutsverwandtschaft zu tun hat, aber das ist Ansichtssache. Lange Rede, kurzer Sinn … Folger ist eine Partisanin und hält Sie für … für … ähm …« Waltz suchte nach dem richtigen Wort.

»Ein Landei«, beendete ich den Satz für ihn. »Einen Hinterwäldler, der keine Ahnung hat und nur stört, während die Profis richtig anpacken.«

Waltz’ Seufzer verriet Zustimmung. Ich schob meinen halb aufgegessenen Salat neben sein Sandwich, beugte mich vor und verschränkte die Arme auf dem Tisch.

»Wie bin ich hier gelandet, Shelly? Sie wissen, worauf ich hinauswill. Warum kann ein Detective während einer laufenden Ermittlung auf die Pause-Taste drücken und das NYPD veranlassen, dass ich in Windeseile von Mobile nach New York geschafft werde?«

Waltz schien sich in seiner Haut unwohl zu fühlen. Er fuhr mit den Fingern über den Rand seines Glases. »Vor fünf Jahren ist die Tochter eines Stadtratsmitgliedes mit einem durchgeknallten Sektenanführer weggelaufen. Ich habe ihn in Alaska erwischt und die Kleine persönlich zurückgebracht. Ihre Deprogrammierung war erfolgreich, und niemand hat von diesem hässlichen Zwischenfall Wind bekommen.«

Ich schürzte die Lippen und atmete langsam aus. »Dann gibt Ihnen also ein dankbares Stadtratsmitglied Rückendeckung? Kein Wunder, dass Sie einfach so den Polizeichef anrufen können.«

Er zuckte mit den Achseln. »Der besagte Fall und ein paar andere Erfolge haben mir einen gewissen Ruf eingebracht. Ich befasse mich mit ähnlichen Fällen wie Ihr PSET und konnte Ergebnisse liefern. Von daher genieße ich Spielräume, die anderen nicht vergönnt sind, und kann etwas bewegen.«

Während ich über Shellys Einfluss nachdachte, fiel bei mir der Groschen. »Sind Sie einer der Förderer, die für Alice Folgers Aufstieg in die Oberliga verantwortlich waren?«

Er winkte ab, als wäre das überhaupt nichts Besonderes. »Ich habe ihr Talent erkannt und die entsprechenden Stellen darauf aufmerksam gemacht.«

Wenn mich nicht alles täuschte, hatte Shelly Folger auf die Probe gestellt, um zu sehen, ob sie es wirklich draufhatte oder nur eine Blenderin war. Nach der unterschwelligen Bewunderung zu urteilen, die in seiner Stimme mitschwang, hatte Folger seine Erwartungen erfüllt.

»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte ich.

»Ich habe für Sie ein Zimmer in einem Hotel um die Ecke reserviert. Checken Sie ein und besorgen Sie, was Sie brauchen. Wir erstatten Ihnen die Kosten. Wenn Sie möchten, können Sie aufs Revier kommen. Wenn nicht, schicke ich Ihnen die Berichte ins Hotel. Vielleicht können Sie ja doch einen Beitrag leisten.«

»Und das ist alles?«

»So wollte es die Lady, und so machen wir es.«

So wollte es die Lady, dachte ich. Er sprach nicht von »Opfer«, was ihn mir sympathisch machte.

*

Waltz’ Angebot, mich ins Hotel zu fahren, schlug ich aus. Ich wollte den Kopf frei bekommen und ging deshalb lieber zu Fuß. Mit hochgezogenen Schultern lief ich durch den Nebel. Mich beschäftigten die Ereignisse, die mich und Dr. Evangeline Prowse zusammengeführt hatten, und die Folgen, die auf immer und ewig in meiner Seele nachhallten. Ereignisse, von denen ich Sheldon Waltz nicht erzählt hatte, nicht erzählen konnte.

Im Alabama Institute of Aberrational Behavior waren durchschnittlich etwa fünfzig geisteskranke Mörder und Mörderinnen untergebracht. Unter Dr. Prowse’ Leitung – sie hatte sich zeit ihres Lebens mit der Psycho- und Soziopathologie beschäftigt – war die Klinik zu einer der fortschrittlichsten Einrichtungen im Lande geworden. Es hieß, dass niemand, der zum Thema abnormale Psychologie promovierte, mehr als fünf Seiten schreiben konnte, ohne Vangie zu zitieren.

In einem ihrer Fälle hatte ein sechzehnjähriger Junge seinen gewalttätigen Vater ermordet, ihm mit einem Messer den Bauch aufgeschlitzt und ihn bei lebendigem Leib seziert, wobei das Opfer langsam und qualvoll verendete. Aufgrund der Brutalität, die der Mörder an den Tag gelegt hatte, kam die örtliche Polizei gar nicht auf die Idee, den intelligenten und sanftmütig wirkenden Jungen zu verdächtigen, und verhörte ihn nur ganz kurz.

Mehrere Jahre später wurden fünf Frauen auf bestialische und makabere Weise ermordet. Die Taten besaßen große Symbolkraft. Nach dem Fund des dritten verstümmelten Opfers leitete das FBI die Unterlagen des Falles an Vangie weiter. Beim Studium der bizarren und rituell anmutenden Tatorte stieß sie auf Anzeichen, die auf eine gepeinigte Kinderseele hindeuteten. Schließlich konzentrierte sich die Polizei auf einen sechsundzwanzigjährigen Mann, dessen Vater viele Jahre zuvor in den Wäldern umgekommen war. Der Verdächtige legte ein Geständnis ab, wurde für unzurechnungsfähig erklärt und auf Antrag von Dr. Prowse ins Alabama Institute of Aberrational Behavior überstellt.

Zu der Zeit, als der Mörder überführt wurde, besuchte ich das College. Dass Dr. Prowse und ich uns kennenlernten, war diesem Fall zuzuschreiben, und im Lauf der Jahre freundeten wir uns an. Das Opfer war mein Vater gewesen und der Mörder mein Bruder Jeremy.

*

»Jeremy, komm sofort zurück, du kleiner Feigling … hör auf zu flennen … ich werde gleich dafür sorgen, dass du Grund zum Flennen hast…«

»Nicht, Daddy, bitte nicht. Daddy …«

Obwohl mein Vater, Earl Eugene Ridgecliff, ein angesehener Bauingenieur war, litt er unter krankhaftem Jähzorn. Als Kinder lebten mein Bruder und ich in der ständigen Furcht, dass alles – ein Wort, ein Blick, eine falsch verstandene Geste – einen Wutausbruch von unvorstellbarem Ausmaß auslöste. In der Regel bekam mein sechs Jahre älterer Bruder den Zorn meines Vaters zu spüren und steckte Prügel ein. Noch heute wache ich nachts manchmal schweißgebadet in meinem Bett auf, weil mich die gellenden Schreie meines Bruders im Schlaf verfolgen.

»Hilf mir, Mama, hilf mir, Mama … Daddy will mich umbringen …«

Für das, was mein Bruder unserem Vater angetan hat, habe ich nie das Wort Mord in den Mund genommen. »Versuchte Erlösung« schien mir die treffendere Bezeichnung. Hätte man Jeremy damals überführt und verurteilt, wäre er heute vielleicht frei. Bestimmt hätte die Jury eingesehen, dass jemand, der solche Qualen erdulden musste, am Ende gar nicht anders konnte, als seinen Peiniger zu töten.

Doch die jahrelangen Misshandlungen waren wie eine Saat, die in meinem sanftmütigen Bruder aufging und ihn um den Verstand brachten. Selbst während wir in den Eichen unsere Forts bauten und wie Schiffe auf hoher See weiße Laken hissten, während wir in den langsam dahinplätschernden Bächen des Südens Welse angelten oder im Sommer im hochstehenden Gras lagen und die Wolken betrachteten, keimte diese Saat und bildete Ranken, die sich um seine Seele wanden und sie erstickten.

Meine Mutter, eine schöne und emotional labile Frau, war zwanzig Jahre alt, als sie meinem Vater begegnete. Er war achtzehn Jahre älter als sie und kam wegen eines Bauvorhabens in die Kleinstadt, in der sie lebte. Zwei Monate später waren sie verheiratet, und meine Mutter träumte von einem Leben wie im Märchen. Stattdessen fand sie sich in einem höllischen Alltag wieder, der ihre Vorstellungskraft so sehr überstieg, dass ihr nur eine Zuflucht blieb: Sie verzog sich in ihr Zimmer und frönte ihrem einzigen Können, der Anfertigung von Hochzeitskleidern aus wogenden, weißen Satin- und Tüllstoffen.

Die mutierende Saat in meinem Bruder ließ ihn glauben, unsere Mutter hätte in jenen grauenvollen Nächten, in denen unser Vater Schläge austeilte, eingreifen können. In Wahrheit hätte sie eher einer Flut Einhalt geboten.

»Die Alabama State Police hat heute die Ergreifung eines Mannes bekanntgegeben, der der bizarren und brutalen Ermordung von mindestens fünf Frauen verdächtigt wird …«

Mein Bruder war so sehr von der Komplizenschaft meiner Mutter überzeugt, dass er ein paar Jahre nachdem er unseren Vater beseitigt hatte, anfing, unsere Mutter zu töten. Das ist metaphorisch gemeint: Hätte er tatsächlich sie umgebracht, wäre ich zu Pflegeeltern gekommen, was er niemals zugelassen hätte. So behalf er sich und ermordete andere Frauen, um sein unergründliches Verlangen zu stillen.

Da ich mich für die Taten meines Bruders schämte, änderte ich meinen Namen, verschleierte meine persönliche Geschichte und weigerte mich, ihn zu besuchen.

Es war Vangie, die mich mit Jeremys Hilfe fand und überredete, eine Beziehung zu meinem Bruder aufzubauen. Und später hatten Jeremy und ich gelegentlich zusammengearbeitet – falls man es so nennen kann –, und er hatte mir mit seinen einzigartigen Einsichten geholfen, die Verbrechen zu verstehen. Sein Gespür für Geisteskranke war so feinkalibriert, dass er einmal geprahlt hatte, er könnte durch eine x-beliebige Shopping-Mall spazieren und ein halbes Dutzend Menschen herausfiltern, die »entweder davon überzeugt waren, dass Marsianer ihre Gedanken lasen, oder so finstere Ansichten hegten, dass sich selbst Torquemada übergeben müsste«.

Mein Bruder war nicht nur geisteskrank, sondern auch ein Geigerzähler für den Wahnsinn anderer.

Bestialisch

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