Читать книгу Haus der Vergangenheit - Jacky Herrmann - Страница 10
ОглавлениеFreitag, 25. September 2015
Die Sonne blitzte durch die Vorhänge auf ihr Gesicht. Elisa öffnete die Augenlider nur zur Hälfte, denn es war viel zu hell. Sie hörte die Vögel, die draußen zwitscherten. Wie spät mochte es sein? Sie hatte keine Lust nachzuschauen. Sie hatte frei und sich nichts Festes für den Tag vorgenommen, also konnte sie faulenzen. An manchen Sonntagen lag sie den ganzen Tag im Bett und holte sich zwischendurch nur etwas zu essen oder einen Kaffee, um sich anschließend entweder wieder in ihr Lieblingsbuch zu vertiefen oder einen Film zu schauen. Allerdings machte sie solche Betttage, wie sie sie nannte, nur bei schlechtem Wetter, wenn es trüb war, regnete oder stürmte. Dann machte es umso mehr Spaß, im kuscheligen Bett zu liegen, während es draußen grau und kalt war. In manchen Dingen war sie doch eine Romantikerin.
Sie beschloss, sich das Frühstück aufs Zimmer zu bestellen. Sie hatte Lust auf einen großen Milchkaffee und ein Croissant mit Kirschkonfitüre. Sie griff nach dem Telefonhörer neben ihrem Bett und stellte mit Entsetzen fest, dass es bereits dreizehn Uhr war, sofern das Telefondisplay stimmte. Kurzerhand legte sie den Hörer wieder auf, rekelte sich noch einmal, bevor sie anschließend energiegeladen aus dem Bett sprang und die Vorhänge und das Fenster aufriss. Sie blieb eine Weile am offenen Fenster stehen, genoss die Aussicht und sog die warme Luft ein.
Was für ein wunderschöner Tag! Dann werde ich eben draußen auf der Terrasse essen, entschied sie.
Sie schnappte sich ein Handtuch und verschwand im Badezimmer. Als sie unter der Dusche stand, hörte sie plötzlich ihr Handy klingeln. Ausgerechnet jetzt! Sie sprang aus der Dusche, wickelte sich schnell das Handtuch um die Hüften und lief zu ihrem Telefon.
„Elisa Arendt, hallo!“
„Hallo, Elisa! Hier ist Léo. Wie geht es Ihnen?“
„Hallo, Léo!“ Elisa schien überrascht zu sein. „Mir geht es gut. Danke der Nachfrage! Und Ihnen?“
„Mir auch. An so einem wunderschönen Tag kann es einem nur gut gehen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht? Sie klingen, als wären Sie zum Telefon gehetzt.“
Elisa fühlte sich ertappt. „Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich gerade erst aufgestanden bin“, antwortete sie mit leiser Stimme.
„Sie waren bestimmt müde und erschöpft von der Reise. Und wie ich Sie verstanden habe, machen Sie hier Urlaub. Was spricht also dagegen, lange zu schlafen?“
„Sie haben Recht! Es tat richtig gut und ich fühle mich fit wie lange nicht mehr.“
„Haben Sie schon Pläne für heute Nachmittag?“
„Da ich schon den halben Tag verschlafen habe, würde ich gerne noch etwas unternehmen. Ich muss aber erstmal herausfinden, was es hier überhaupt alles gibt.“
„Ich muss zugeben, dass ich mir fest vorgenommen hatte, Sie nicht gleich heute anzurufen, sondern erst in ein paar Tagen, aber ich habe es nicht ausgehalten!“
Elisa war über seine Ehrlichkeit überrascht. Sie schwieg, denn sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
„Und ich möchte Sie wiedersehen!“, fuhr er fort. „Was halten Sie von einer Bootstour mit mir?“
Sie zögerte. Ihr gingen innerhalb weniger Sekunden tausend Gedanken durch den Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass er sie vielleicht auf eine andere Art kennenlernen wollte, als sie es beabsichtigte. Sie war nicht daran interessiert, sich in ein neues Abenteuer zu stürzen und suchte, wenn überhaupt, nur eine Reisebekanntschaft, mit der sie gemeinsam die Insel erkunden konnte und etwas Unterhaltung hatte. Auf der anderen Seite war sein Angebot sehr verlockend. Er war schon öfter hier gewesen und kannte sich gut aus. Vermutlich konnte er ihr die eine oder andere verborgene Sehenswürdigkeit außerhalb des Standard-Touri-Programms zeigen.
„Ich merke, Sie zögern?“, hakte Léonard nach.
„Sie haben mich durchschaut“, gab sie zu.
„Keine Angst! Wir machen nur eine harmlose Bootstour“, fügte er hinzu, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte.
„Okay, Sie haben mich überzeugt! Das klingt wunderbar! Ich wäre in dreißig Minuten startklar.“
Als Elisa wie verabredet in der Hotelhalle erschien, saß Léonard bereits auf einem der Sessel und trank einen Kaffee. Sie begrüßten sich mit zwei Küsschen auf die Wange.
„Warten Sie schon lange?“
„Nein, ich bin soeben erst gekommen. Wollen Sie auch noch einen Kaffee trinken, bevor wir losmachen?“
„Das ist eine gute Idee!“ Sie gab bei der Kellnerin, die gerade an einem Tisch nebenan die Tassen abräumte, ihre Bestellung auf. Anschließend setzte sie sich auf einen Sessel neben Léonard. „Wollen wir das mit dem Sie nicht lassen?“, schlug Elisa vor.
„Das wollte ich Ihnen, ich meine dir, auch schon vorschlagen.“
„So, Léo, dann verrat mir doch mal, was du mit mir vorhast! Wohin fahren wir?“
„Das wird eine Überraschung! Wie ich schon gesagt habe, werden wir eine Bootstour machen.“
Elisa hielt die Augen geschlossen und ließ sich den lauen Wind um die Nase wehen. Wie schön das Leben sein konnte, ging es ihr durch den Kopf. Sie brausten in Léonards Cabrio auf der N 193 in Richtung Süden. Es war traumhaft.
Nach einer entspannten Weile der Stille tippte Léonard sie von der Seite an. „Alles klar bei dir, Elisa? Es sieht so aus, als würde es dir gut gehen. An was denkst du gerade?“
Sie öffnete ihre Augen und schaute zu ihm rüber. „Es sieht nicht nur so aus, mir geht es tatsächlich gut! Es war die beste Entscheidung, die ich seit langem getroffen habe! Ich meine die Entscheidung, hierher zu kommen.“
„Schade! Ich dachte, du meinst die Entscheidung, mit mir den Ausflug zu unternehmen.“ Er lächelte sie an. „Darf ich fragen, was dich dazu bewogen hat, allein hierherzukommen?“
Elisa atmete tief ein. „Das ist nicht in drei Sätzen zu erklären. Um es kurz auf den Punkt zu bringen: Ich möchte über ein paar Dinge in meinem Leben nachdenken und mich etwas aus meinem Alltag zurückziehen. Das war eine sehr spontane Entscheidung, die ich vorgestern Morgen auf dem Weg ins Büro getroffen habe. Danach ging alles ganz schnell. Ich bin zurück nach Hause gefahren, habe meinen Koffer gepackt und bin ins Reisebüro am Flughafen gefahren. Da ich schon immer mal hierher wollte, war die Entscheidung schnell gefallen.“
„Wow! Manchmal sind die Entscheidungen, die spontan aus dem Bauch herauskommen, auch die besten. Bist du immer so entscheidungsfreudig?“
Elisa schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Im Gegenteil: Es stehen ein paar Entscheidungen in meinem Leben an, die endlich getroffen werden müssen. Und deshalb bin ich jetzt hier.“
Léonard war sensibel genug, um zu verstehen, dass er an dieser Stelle nicht weiter nachhaken sollte. Die beiden kannten sich nur kurz und es war nicht angebracht, bereits tiefer in das Privatleben des anderen vorzudringen. „Die Landschaft ist atemberaubend, nicht wahr?“, wechselte er deshalb das Thema.
„Absolut fantastisch! Du warst also schon öfter hier?“, wollte Elisa wissen.
„Ja, richtig. Ich besuche immer einen Freund hier. Die Insel überrascht und fasziniert mich jedes Mal aufs Neue. Ich hatte hier nur schöne Erlebnisse, aber diesmal wurde das sogar noch getoppt.“
Elisa schaute ihn fragend an. „Wie meinst du das?“
„Na ja, weil wir uns begegnet sind.“ Wieder blickte er kurz zu ihr rüber und lächelte sie an.
Er hatte in der Tat ein sehr schönes Lächeln, stellte Elisa fest. Doch sie wollte nicht weiter auf seine Bemerkung eingehen und fragte stattdessen: „Wie lange wirst du hierbleiben?“
„Das weiß ich noch nicht, höchstens aber zwei Wochen, denke ich. Ich habe schließlich auch noch einen Job, den ich nicht so lange vernachlässigen kann.“
„Was machst du denn beruflich?“
„Ich bin als Berater in der Investmentbranche tätig.“
„Und was macht man da genau?“
„Ich berate Investoren vor und während ihrer Investitionen. Dazu muss ich zunächst eine Strategie entwickeln, Liquiditäts- und Finanzierungspläne erstellen und eben auch die Risiken einschätzen. Gelegentlich muss ich zwischen zwei Parteien oder Interessengruppen vermitteln und auch Verhandlungen mit Anwälten, Steuerberatern und Banken führen, bis es zum Abschluss kommt.“
„Das hört sich nach sehr viel Verantwortung an.“
„In der Tat! Man muss viel beachten. Aber ich mache das schon ein paar Jahre und mit der Zeit wächst man da rein.“ Wieder schaute Léonard zu Elisa. Dieses Mal wurde der Wagen währenddessen kurzzeitig langsamer, da er zunehmend seinen Fuß vom Gaspedal abließ. Er versuchte, ihr in die Augen zu schauen, doch sie ging nicht auf seine Blicke ein und wich dieser Situation erneut aus, indem ihr Blick in Richtung der Rebberge schweifte, die kilometerlang die Landschaft prägten. Die Stille, die kurz entstand, war dennoch nicht unangenehm. Elisa fühlte sich wohl in Léonards Nähe.
„Und du lebst und arbeitest in Paris?“, fragte sie ihn wenig später weiter aus. Sie beobachtete ihn beim Fahren, wie er das Auto steuerte und das Lenkrad dabei mit beiden Händen festhielt. Seine Haut war gebräunt und seine dunkelblonden Haare hatten an einigen Stellen hellere Nuancen, die durch die Sonne entstanden waren. Er trug einen Dreitagebart. Elisa mochte seinen sportlicheleganten Kleidungsstil: die kurze, dunkelblaue Bermuda, die er mit einem hellen Poloshirt kombiniert hatte.
„Ja, genau. Aber ursprünglich komme ich aus Lyon.“
Elisas Augen begannen zu leuchten. „Lyon ist großartig! Die Stadt kenne ich sehr gut von meiner Studienzeit. Hast du dort auch studiert?“
„Ja, an der Université Lyon III Jean Moulin. BWL mit Schwerpunkt Kapitalmarkt.“
„Und wie kam es, dass du nach Paris gegangen bist?“
„Ich bin direkt nach meinem Studium aus Lyon weggezogen, allerdings nicht nach Paris, sondern in die Schweiz und danach habe ich einige Zeit im französischsprachigen Kanada gelebt.“
„Wow! Wo genau warst du in Kanada?“
„Montreal. So ‚wow‘ war es aber nicht. Es hat mich nach ein paar Jahren wieder zurück nach Europa gezogen. Und schließlich habe ich dort alles hinter mir gelassen und bin vor zwei Jahren nach Paris gegangen.“
„Hört sich ganz danach an, dass du schon viel herumgekommen bist. Das gefällt mir!“
„Wieso?“
„Ich finde das aufregend. Es ist nur schade, dass die Welt so groß und das Leben viel zu kurz ist, um alles zu entdecken.“
Léonard nickte zustimmend. „Da hast du Recht! Und du hast in Lyon studiert?“
„Nur ein Jahr im Rahmen eines Austauschprogramms. Vielleicht hast du schon mal etwas vom Erasmus-Programm gehört? Das ist ein Stipendium. Vor vielen Jahren gab es dazu sogar einen Kinofilm.“
„Worüber?“, hakte Léonard nach.
„Über dieses Erlebnis, für eine begrenzte Zeit an einem fremden Ort auf die unterschiedlichsten Menschen aus den verschiedensten Ländern und Kulturen zu treffen und mit ihnen eine unvergessliche Zeit zu haben.“ Die Melancholie in Elisas Worten war nicht zu überhören.
„Und die hattest du, nehme ich an?“
„Oh ja! Ich konnte nicht genug davon kriegen und war deshalb während meines gesamten Studiums sehr oft im Ausland unterwegs.“ Elisa wollte auf keinen Fall in Erinnerungen an ihre Vergangenheit verfallen. Sie erinnerte sich zwar immer gerne an ihre Studentenzeit zurück, doch die Gedanken daran hinterließen jedes Mal auch ein Gefühl von Wehmut bei ihr. Es fiel ihr schwer zu akzeptieren, dass das Leben auch bedeutete, dass die einzelnen Stationen, die man durchlief, irgendwann einmal endeten. Es fiel ihr grundsätzlich schwer zu akzeptieren, dass etwas für immer vorbei sein konnte und niemals zurückkehren würde. Und auch, dass Menschen, die gegangen waren, nicht wiederkommen würden. Genau wie ihr Vater. Mit der Vergänglichkeit und Endlichkeit des Lebens konnte sie nicht umgehen. Sie wollte in diesem Moment nicht weiter darüber nachdenken.
Léonard verließ die N 193 und bog auf die Route Royale ab. Es sollte scheinbar nicht weiter an der Ostküste entlang in den Süden gehen, sondern landeinwärts. Aber hatte er nicht von einer Bootstour gesprochen, fragte sich Elisa insgeheim.
„Obwohl das sicher eine Frage der roten Liste ist, stelle ich sie dir trotzdem: Wie alt bist du?“, riss Léonard sie aus ihren Gedanken.
„Welche rote Liste?“
„Na ja, die Dinge eben, die man bei einem ersten Date besser nicht fragt, wenn man nicht möchte, dass es in die Hose geht“, antwortete er mit einem Grinsen im Gesicht.
„Ich habe kein Problem damit, dir mein Alter zu verraten. Aber ich wusste nicht, dass das ein Date ist“, sagte sie schmunzelnd und schaute fragend zu ihm rüber.
Léonard zuckte mit den Schultern. „Es liegt wohl im Auge des Betrachters. Für mich ist es das. Außerdem ist das Wort ‚Date‘ mittlerweile nur der moderne Begriff für ein normales Treffen, oder?“
„Ich bin dreiunddreißig. Und du?“, beantwortete sie ihm seine ursprüngliche Frage.
„Sechsunddreißig. Und, was treibst du so den lieben langen Tag?“
„Was ich so treibe?“ Elisa lachte. „Ich lese hauptsächlich.“
Léonard schaute sie verwundert an. „Ich meinte beruflich.“
„Genau das ist mein Job und meine Leidenschaft! Ich bin Lektorin bei Éditions Dupeyron.“
„Éditions Dupeyron? Das ist ein renommierter Verlag. Ich habe ein paar Bücher davon zuhause.“
„Was liest du denn so?“
„Ich bin begeisterter Krimileser. Allerdings gefallen mir die modernen Versionen weniger. Das ist mir zu viel Gemetzel und zu viel Blut. Ich stehe eher auf die alten Klassiker. Ein gut geplanter Mord wird durch den Spürsinn eines Detektivs aufgeklärt. Und der Leser wird natürlich immer wieder auf falsche Fährten gelockt, dass bis zum Ende absolut rätselhaft bleibt, wer der Täter ist.“
„Ja, diese Art von Krimis mag ich auch sehr gerne“, antwortete Elisa darauf.
„Es ist mir fast peinlich, die Frage zu stellen, aber ich habe noch nie eine Lektorin kennengelernt. Liest man tatsächlich den ganzen Tag nur Manuskripte?“
„Es nimmt zumindest einen großen Teil davon ein, aber ich bin auch viel unterwegs, auf Messen oder anderen Veranstaltungen. Und ich betreue ein Buch vom Manuskript bis zur Veröffentlichung. Da gibt es jede Menge zu tun. Es ist sehr abwechslungsreich.“
„Und welches Genre betreust du?“
„Ich habe mich auf Psychothriller spezialisiert. Ab und zu kommt aber auch mal eine Liebesgeschichte dazwischen.“
„Genau wie im wahren Leben“, scherzte er. „Manchmal kommt unverhofft eine Liebesgeschichte dazwischen. Es ist auf jeden Fall genial, wenn man seine Leidenschaft zum Beruf macht. War das schon immer dein Traum gewesen?“
Elisa überlegte einen längeren Moment. „Ich habe zumindest schon immer gerne gelesen. Von klein auf. Bücher haben eine sehr anziehende Wirkung auf mich. Aber ich hatte mir eigentlich nie konkrete Gedanken dazu gemacht. Es hat sich eher in diese Richtung entwickelt.“
„Und wie lange lebst du schon in Paris?“
„Seit fünf Jahren.“
„Du hast einen wirklich charmanten Akzent, obwohl dein Französisch absolut perfekt ist.“
Elisa schaute ihn von der Seite an. „Danke! Ich hoffe, dass ich diesen Akzent eines Tages loswerde. Hört man denn, woher ich komme?“
„Über deine Aussprache nicht. Aber dein Name lässt es vermuten. Deutschland, richtig?“
Elisa nickte. „Richtig.“
„Was hat dich nach Frankreich verschlagen?“
„Der Job. Das Fernweh. Das Abenteuer.“ Elisa ließ sich die Bedeutung der Begriffe noch einmal auf der Zunge zergehen, bevor sie sich wieder Léonard zuwandte.
„Das sind in der Tat gute Gründe. Es scheint, dass wir beide einiges gemeinsam haben.“
„Die Reise- und Abenteuerlust auf jeden Fall. Lebt deine Familie noch in Lyon?“
„Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben. Geschwister habe ich leider nicht und zu meinem Vater habe ich seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr. Ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt.“
„Es tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich sein und in deiner Vergangenheit herumbohren“, entschuldigte sich Elisa.
„Das ist kein Problem für mich! Es gibt Dinge, die man nicht ändern kann.“
„Das stimmt! Und es gibt Dinge, die einen verändern.“ Elisa blickte ins Weite und dachte über das nach, was sie soeben gesagt hatte. Ihr war es unangenehm, dass sie wegen ihrer neugierigen Art direkt in ein Fettnäpfchen getreten war. Sie selbst mochte es nicht, wenn ihr jemand Fragen über ihre Vergangenheit stellte.
„Wie weit ist es noch?“, wechselte sie kurzerhand das Thema.
„Bist du ungeduldig? Wir werden gleich da sein.“
Den Rest der Fahrt schwiegen sie und ließen die Natur um sich herum auf sich wirken. Léonard beobachtete Elisa zwischendurch, wenn sie es nicht mitbekam, weil sie sich die Landschaft anschaute oder Fotos mit ihrem Handy schoss.
Nach einer Weile erreichten sie schließlich das in einer weiten Bucht gelegene Saint Florent. Die Stadt lag an der Westküste und gehörte wie Bastia zum Korsischen Kap. Es war auch bekannt als Saint Tropez von Korsika. Mittlerweile war es schon drei Uhr. Erst als sie das Auto parkten, merkten sie, wie warm es war. Für einen Tag im Spätsommer war es noch einmal richtig heiß geworden. Durch den kühlenden Fahrtwind hatten sie davon nichts mitbekommen. Sie schnappten sich ihre Sachen und liefen gemeinsam hinunter zum Hafen.
Der Fischerei- und Segelhafen bot ihnen einen wunderschönen Blick auf die malerische Küstenstadt. Elisa bewunderte die vielen alten Boote. Diese konnten mit Sicherheit alle eine eigene Geschichte über die Fischer und deren Fahrten aufs offene Meer erzählen, die Elisa gerne gehört hätte. Sie schlenderten in aller Ruhe dort entlang und gelangten schließlich zu einem Teil des Hafens, in dem viele moderne Segelboote und Yachten standen. Elisa hatte mit einer stinknormalen Bootstour gerechnet und war sehr erstaunt darüber, als Léonard Anmarsch auf eine kleine Yacht nahm. Sie fragte sich, ob er sie extra für ihren heutigen Ausflug angemietet hatte oder ob sie ihm am Ende gar gehörte. Sie wollte ihn nicht danach fragen, denn ihr waren solche Dinge nicht wichtig. Sie beurteilte Menschen nicht nach ihren Besitztümern und definierte sich selbst ebenso wenig darüber. Sie konnte sich mit ihren finanziellen Mitteln ein gutes, teilweise auch luxuriöses Leben leisten, dazu gehörten für sie aber weder Yachten noch teure Autos. Obwohl es ihr schwerfiel, sich das einzugestehen, war sie beeindruckt von der Yacht und auch von Léonard und seiner eleganten Art.
Léonard riss sie aus ihren Gedanken. „Und, was sagst du? Gefällt sie dir nicht oder warum bist du so still?“
„Keine Sorge, mir geht es super! Ich genieße das alles nur.“
Sie zogen sich, wie man es üblicherweise tat, die Schuhe aus und betraten die Yacht.
***
Sébastien schloss die Tür auf und schaltete das Licht an. Obwohl es noch nicht spät war, war es draußen schon fast dunkel. Die Kartons, die er mitgebracht hatte, stellte er auf dem Boden ab. Er schaute sich kurz im Eingangsbereich um, bevor er weiter ins Wohnzimmer ging. Dort ließ er sich auf den Sessel nieder, auf dem er immer gerne gesessen und seine Zeitung gelesen hatte. Nun war es tatsächlich so weit gekommen. Er hatte sich immer vor diesem Moment gefürchtet, doch er konnte nichts mehr daran ändern. Es war zu spät. Er lehnte seinen Kopf zurück und schloss die Augen. Auf diesem Sessel hatten sie sogar einmal Sex gehabt, erinnerte er sich zurück. Leidenschaftlichen Sex. Sex voller Liebe. Zumindest von seiner Seite aus. Und nun sollte es einfach vorbei sein. Er fragte sich, wie es ohne sie sein würde. Doch er wollte nicht in Selbstmitleid verfallen, nicht jetzt in ihrer Wohnung. Er stand deshalb auf und schaltete nun auch im Wohnzimmer das Licht an, denn mittlerweile war es draußen stockfinster geworden. Man merkte, dass der Herbst vor der Tür stand und es abends bereits früher dunkel wurde.
Er ging zurück in den Flur und holte zwei Kartons, die er aufklappte und gemäß Anleitung zusammenfaltete. Dann fing er vorne im Wohnzimmer an und schaute in jedem Regal und jedem Schrank, was ihm gehörte, und legte es in einen der Kartons. Er arbeitete sich zügig durch das gesamte Wohnzimmer. Als er neben dem Fernseher das gemeinsame Bild von sich und Elisa sah, hielt er inne und wurde plötzlich wieder von einer tiefen Traurigkeit ergriffen. Das Bild war vor etwa zwei Jahren in ihrem ersten gemeinsamen Urlaub in den französischen Pyrenäen entstanden. Sie hatten sich damals ein Ferienhaus in Loudenvielle, im Tal von Louron, gemietet. Er erinnerte sich noch genau an diesen Urlaub. Er war sehr harmonisch verlaufen. Das Haus hatte direkt am Ufer eines Sees gelegen. Allein die Landschaft hatte pure Romantik ausgestrahlt, die sich wie von selbst auf die beiden übertragen hatte. Er nahm das Bild in die Hand und strich mit seinen Fingern darüber. Anschließend packte er es in den Karton. Obwohl sie das Foto damals nach dem Urlaub ausgedruckt und anschließend aufgestellt hatte, würde es ihr bei Weitem nicht so viel bedeuten wie ihm. Es würde ihr mit Sicherheit nicht einmal auffallen, dass es fehlte, rechtfertigte er sich in Gedanken. Im Wohnzimmer war er fertig. Im Bad und in der Küche gab es nichts von ihm. Es blieb also nur noch das Schlafzimmer übrig. Er sträubte sich innerlich, dort hineinzugehen, denn er wollte nicht noch einmal das Bett sehen, in dem sie in den letzten Jahren oft miteinander geschlafen hatten und in dem er abends neben ihr ein- und morgens aufgewacht war. Doch was sollte er tun? Er hatte dort einige Klamotten in ihrem Schrank deponiert, die er gerne mitnehmen wollte. Er öffnete die Tür und trat ins Zimmer. Das Licht schaltete er nicht an, in der Hoffnung, dass es ihm dadurch leichter fallen würde. Das Flurlicht strahlte hell genug, um den Weg zum Schrank, der in einer dunklen Ecke stand, zu finden. Nachdem er diesen geöffnet hatte, tastete er zunächst orientierungslos in den verschiedenen Wäschebergen herum und schob Elisas Sachen beiseite. Er konnte sich nicht zurückhalten und griff nach einem ihrer Shirts, roch daran und ließ den Duft auf sich wirken. Sie verwendete seit Jahren das gleiche Waschmittel, dass er diesen Geruch mittlerweile direkt mit ihr in Verbindung brachte. Sie hatte sowieso immer sehr gut gerochen, erinnerte er sich. Er hatte nie genug von ihrem Duft bekommen. Er überlegte kurz, ob er auch hier etwas als Erinnerung an sie mitnehmen sollte. Sie hatte unzählige Klamotten, dass es ihr niemals auffallen würde. Doch was würde es ihm bringen? Er legte das Shirt zurück, stapelte seine Sachen auf seinem Arm, schloss den Schrank und verließ das Schlafzimmer. Es wurde Zeit, ihre Wohnung zu verlassen. Das Kapitel war zu Ende. Er musste versuchen, das endlich zu akzeptieren. Er nahm die beiden mittlerweile gut gefüllten Kartons und trug sie hinunter auf den Hof, wo er unerlaubt geparkt hatte.
Gerade als er auf dem Weg zurück zur Wohnung war, um einen letzten Rundgang zu machen und sie dann abzuschließen, kam Sophie von draußen zur Tür herein. In der Hand hielt sie mehrere Tüten. Er hatte sich auf der Treppe umgedreht, als er die Eingangstür gehört hatte.
„Sophie! Zu dir wollte ich auch gleich!“, rief er ihr zu. „Warte, ich helfe dir!“
„Hallo, Sébastien! Was machst du hier?“ Sie reichte ihm die Tüten.
„Ich habe meine Sachen aus Elisas Wohnung geholt und wollte dir den Schlüssel bringen.“
Sophie schaute ihn verwundert an. Sie wusste, dass Sébastien sehr an Elisa hing, dass er sie tief und innig liebte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so schnell die Flinte ins Korn werfen würde. Doch am Ende war es sicher das Beste für beide, dachte sie. Sie liefen schweigend die Treppe hinauf.
Nachdem sie im zweiten Obergeschoss angekommen waren, stellte Sébastien die Tüten im Flur ab. „Warte kurz, Sophie! Ich will nur noch schnell das Licht ausschalten und abschließen.“
Sophie kramte in der Zwischenzeit die Schlüssel ihrer eigenen Wohnung aus der Handtasche und schloss die Tür auf. Sébastien kehrte kurz darauf zurück, schnappte sich erneut die Tüten und trug sie anschließend in Sophies Wohnung. „Wo kann ich sie abstellen?“
„Am besten in der Küche.“
Er folgte ihr dorthin und stellte alles auf der Theke ab.
„Vielen Dank für deine Hilfe, Sébastien!“
„Gerne! Hier die Schlüssel von Elisas Wohnung! Gibst du sie ihr bitte in meinem Namen?“
„Ja, mache ich!“ Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. „Bist du auch sicher, dass du das richtige gemacht hast? Ich meine, es wundert mich, dass du so schnell aufgibst.“
„Sophie, wir beide wissen, dass es das Richtige ist! Elisa liebt mich nicht so, wie ich sie liebe. Das führt zu nichts!“
Sophie senkte ihren Blick. Sie wusste es selbst zu gut, doch es tat ihr weh, Sébastien so leiden zu sehen. Sie mochte ihn schließlich sehr. Vielleicht auch ein bisschen zu sehr. Sie schämte sich dafür. Vor allem seit sie wusste, dass die Beziehung der beiden nun endgültig zerbrochen war. „Willst du noch auf ein Glas Wein bleiben? Ich habe mir gerade eine sehr gute Flasche Château Haut-Brion geleistet, die ich mit dir teilen würde“, bot sie ihm an.
Sébastien zögerte. „Das ist lieb von dir, Sophie, aber ich denke, es wäre besser, wenn ich jetzt gehe.“
„Was hast du noch vor heute?“
„Ich weiß es noch nicht. Wahrscheinlich fahre ich nur zu mir nach Hause.“
„Bleib doch zum Essen und auf ein Glas Wein! Ich weiß, dass man sich in solchen Situationen gern zurückziehen und trauern möchte, aber heute Abend tust du mir den Gefallen und leistest mir Gesellschaft“, forderte sie ihn auf. Sébastien antwortete nicht. „Meine Verabredung für heute Abend fällt ins Wasser und ich würde mich freuen, den Abend nicht allein verbringen zu müssen!“
„Sophie, das ist wirklich lieb von dir, aber du musst dich nicht um mich kümmern! Ich komme schon klar.“
„Ganz ehrlich, es geht mir nicht um dich! Es ist Freitagabend und ich habe ein paar Köstlichkeiten im Kühlschrank stehen, die ich ungern allein essen möchte.“
Sébastien überlegte einen weiteren Moment. „Gut, überredet! Dann bleibe ich zum Essen!“
Sophie beobachtete ihn dabei, wie er seine Jacke auszog. Er war groß und durchtrainiert. Seine dunklen Haare waren zerzaust, unter seinen Augen waren dunkle Schatten zu erkennen. Ihm ging es nicht gut, stellte Sophie fest.
Er brachte seine Jacke in den Flur und hängte sie an die Garderobe. Als er zurück in die Küche kam, war Sophie gerade dabei, die Tüten ihres Einkaufs auszupacken.
„Lass mich das machen! Ich räume die Tüten aus und du räumst die Sachen dorthin, wo sie hingehören“, schlug er ihr vor.
Die beiden kannten sich nun seit mehr als zwei Jahren, hatten sich aber bisher immer nur in Elisas Anwesenheit gesehen. Sie hatten schon viele gemeinsame Abende zu dritt verbracht. Es war für beide ungewohnt, jetzt allein miteinander zu sein.
„Was macht eigentlich dein Liebesleben, Sophie? Wenn ich das überhaupt fragen darf.“
„Tja, derzeit habe ich leider keins!“
„Und woran liegt das? Du bist doch eine attraktive Frau!“
Sophie wurde verlegen. Sie wusste, dass sie nicht schlecht aussah, aber leider ein paar Kilos zu viel auf den Hüften hatte, was zeitweise an ihrem Selbstbewusstsein nagte. „Ich treffe immer auf die falschen Typen. Meine ursprüngliche Verabredung für heute Abend war auch wieder ein Reinfall!“
„Wieso?“, wollte er wissen.
„Wir haben uns in einer Bar kennengelernt. Er hat mich auf einen Drink eingeladen und wir haben uns nett unterhalten. Ich hatte ein gutes Gefühl dabei, aber heute kam der Knaller.“
„Was ist passiert?“, fragte Sébastien.
„Er ist verheiratet! Da er mich scheinbar aber sympathisch fand, hatte er das plötzliche Bedürfnis, mir diese kleine unwichtige Information doch noch mitzuteilen“, sagte Sophie ironisch. „Ich glaube, er hatte die Hoffnung, dass ich mich trotzdem mit ihm treffe, aber da hat er sich gewaltig verrechnet!“
„Da hast du nochmal Glück gehabt! Stell dir vor, er hätte es dir nicht erzählt! Das hätte übel enden können.“
„Ja, das stimmt, aber ich fand es trotzdem schade. Er hat mir gefallen und wir waren auf derselben Wellenlänge.“ Sophie zuckte mit den Schultern. „Entweder sind sie vergeben oder schwul.“
Sébastien musste lachen. „Da haben sich die zwei Richtigen gefunden! Du bist frustriert und ich habe Liebeskummer – die ideale Kombination!“
Auch Sophie musste nun lachen.
„Wie sieht es mit dem Château Haut-Brion aus, den du mir versprochen hattest?“
„Einen Moment, bitte! Wird gleich serviert!“ Sophie holte zwei Gläser aus dem Schrank, öffnete die Flasche und schenkte den Wein ein. Anschließend reichte sie Sébastien ein Glas. „Auf uns zwei Deprimierte! Es kann nur besser werden!“ Sie hob lächelnd ihr Glas und wartete, bis Sébastien mit ihr anstieß.
„Zum Wohl! Sei nicht so pessimistisch, Sophie! Du bist eine tolle Frau und dich verdient auch nur ein toller Mann! Von daher kannst du froh sein, dass das mit diesem verheirateten Typen nicht geklappt hat. Er hätte dich nur unglücklich gemacht.“
„Jetzt tröstest du mich, obwohl du eigentlich derjenige bist, der aufbauende Worte von mir bräuchte.“
„Das ist schon in Ordnung! Der Wein ist übrigens verdammt gut! Er muss dich ein Vermögen gekostet haben! Was ist das für ein Jahrgang?“, lenkte Sébastien ab.
„Ein 2002er. Mein Weinhändler hat mir ein sehr gutes Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte. Außerdem wollte ich mich damit über das entgangene Date hinwegtrösten.“
„Musst du nun aber nicht! Jetzt hast du ein Date mit mir!“
Sophie wunderte sich über seine ungewohnt lockere Art. Sie kannte Sébastien als sehr zurückhaltenden Menschen, der immer freundlich und zuvorkommend war, aber nur selten einen frechen Spruch von sich gab. Vielleicht wollte er damit nur seinen Schmerz überspielen.
„Willst du noch einen Schluck?“
„Gerne!“ Sébastien hielt ihr sein Glas hin, das er bereits nach kurzer Zeit geleert hatte.
„Wenn du willst, sprechen wir darüber“, schlug Sophie ihm vor.
„Was meinst du? Worüber?“, fragte er ahnungslos.
„Über dich und Elisa. Du kannst mir nichts vormachen, Sébastien! Ich kenne dich schon eine Weile und du musst nicht so tun, als ob dich das alles nicht mitnehmen würde.“
Sébastien stellte sein Glas ab und ging auf Sophie zu, die gegen die Küchentheke lehnte. Er blieb nur wenige Zentimeter von ihr entfernt stehen, nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es hinter sie.
„Sophie, das ist eigentlich überhaupt nicht meine Art. Ich glaube, das weißt du auch. Aber heute ist alles anders. Mit mir und Elisa ist es aus und mir geht es tatsächlich nicht gut damit. Ich hatte nur vor, meine Sachen aus ihrer Wohnung zu holen und zu verschwinden. Und plötzlich bin ich hier bei dir gelandet. Wir sind beide frustriert und trinken einen verdammt guten Wein. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber…“
Sophie legte ihren Finger auf seinen Mund, damit er nicht weitersprach. Er musste sich nicht erklären. Sie wusste bereits, was er wollte. Und sie wollte es genauso.
Die beiden schauten sich tief in die Augen. Sophie bewegte sich langsam nach vorne, bis sie ganz nah an seinem Gesicht war. Er fasste mit seinen Händen um ihre Taille, zog sie zu sich heran und küsste sie.
***
Anna wälzte sich im Bett hin und her. Ihr gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Sie war nervlich sehr aufgebracht, denn sie hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Immer wieder kamen dunkle Gedanken und Bilder in ihr hoch. Gedanken und Bilder, die sie seit langem verdrängt hatte, von denen sie geglaubt hatte, sie überwunden zu haben. Sie fürchtete sich im Dunkeln und ließ deshalb seit jeher immer ein kleines Licht brennen, doch auch das beruhigte sie jetzt nicht. Sie schloss erneut die Augen und sah wieder dasselbe Bild, das sie jahrelang verfolgt hatte. Sie sah, wie er auf sie zukam und sie an den Haaren zog, bis sie schrie. Wie er sie gegen die Wand knallte und mit seinen Fäusten auf sie einschlug, bis sie wie ein Häufchen Elend in sich zusammenfiel und vor Schmerzen kaum noch Luft bekam. Solange bis seine Lust, ihr wehzutun, nachließ und er von ihr abließ. Bis zu seinem nächsten Ausbruch. Sie wollte endgültig ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Sie hatte ein neues Leben angefangen. Ein Leben ohne Gewalt. Ohne Schmerzen. Ohne die ständige Angst, den nächsten Tag nicht zu erleben. Ohne IHN. In der letzten Zeit hatte sie immer seltener an ihn gedacht. Sie hatte tatsächlich angefangen, ihr Leben zu genießen und Spaß zu haben. Sie war nach langer Zeit zum ersten Mal wieder einem Mann nähergekommen und hatte schöne Stunden mit ihm verlebt. Sollte sich das tatsächlich wieder ändern, weil plötzlich erneut die Erinnerung in ihr hochkam? Das durfte sie nicht zulassen.
Sie stand auf und trank einen Schluck Wasser. Danach griff sie in die Schublade neben ihrem Bett und kramte eine Schachtel hervor. Sie starrte lange auf die Verpackung, bevor sie eine Tablette herausnahm und runterschluckte.
Ich bin in Sicherheit! Mir kann nichts passieren! Er wird mir nie wieder weh tun! Alles ist gut! Ich habe jetzt mein eigenes Leben und das wird er mir nicht kaputt machen! Er wird mich hier niemals finden, versuchte sie, sich zu beruhigen.
***
Zurück in ihrem Hotelzimmer ließ Elisa ihre Tasche zu Boden fallen, streifte sich das Jäckchen ab, das sie auf der Rückfahrt übergezogen hatte, und ließ sich aufs Bett sinken. Es war bereits sehr spät, die genaue Uhrzeit kannte sie nicht. Sie war ins Zimmer getreten, ohne das Licht anzuschalten. Sie genoss die Dunkelheit und gab sich ihren Gedanken an den zurückliegenden Tag hin. Léonard hatte an alles gedacht, er hatte sogar ein kleines Picknick auf der Yacht vorbereitet, mit Wein, Käse, Baguette und Früchten. Am frühen Abend hatte er die Yacht noch einmal auf dem offenen Meer angehalten und Elisa aufs oberste Deck geführt, wo sie es sich auf einer Decke bequem gemacht hatten, um sich den Sonnenuntergang anzuschauen. Es war Elisa nicht entgangen, dass Léonard sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Da sie sich in seiner Gegenwart wohlgefühlt hatte, war es ihr aber nicht unangenehm gewesen. Als er ihr zum Abschied vorm Hotel ins Ohr geflüstert hatte, dass er sich bei ihr für den traumhaften Tag bedankte, war ihr ein wohliger Schauer über den Rücken gelaufen.
Plötzlich durchfuhr sie ein seltsames Gefühl, das sie aus ihren Gedanken riss. Sie stand auf, schaltete das Licht an, nahm ihr Handy und wählte eine Nummer.
„Hallo, Elisa! Ist etwas passiert oder warum rufst du so spät noch an?“
„Guten Abend, Anna! Es tut mir leid! Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt? Hast du schon geschlafen?“
„Nein.“
„Es ist nichts passiert, aber ich hatte das dringende Bedürfnis, deine Stimme zu hören und zu wissen, wie es dir geht. Das war seltsam. Davon abgesehen wollte ich mich sowieso bei dir melden.“ Anna sagte nichts. „Dir geht es doch gut, oder?“
„Ja“, log Anna.
„Dann bin ich beruhigt!“
„Ist bei dir auch alles in Ordnung, Elisa?“
„Ja! Ich habe heute einen Ausflug gemacht und hatte einen schönen Tag. Wie läuft es mit dir und Marc? Erzähl endlich mal, wie euer Date war! Natürlich nur, wenn du noch Lust hast, mit mir zu quatschen?“
„Ja, klar, ich kann sowieso nicht schlafen. Das Date lief sehr gut. Er hat mich pünktlich abgeholt und wir sind zusammen ins Restaurant gefahren. Er ist sehr charmant. Wir waren lange dort und haben uns viel unterhalten. Wir haben viele Gemeinsamkeiten. Und ich habe erst kürzlich wieder gelesen, dass es eher darauf ankäme.“
„Ja, das stimmt! Gegensätze ziehen sich zwar erstmal an, aber langfristig ist das anstrengend. Und habt ihr euch seitdem nochmal gesehen?“
„Gestern wieder. Du, ich muss dir was sagen: Wir sind jetzt fest zusammen“, sagte Anna fast verlegen.
„Im Ernst? Da bin ich gerade mal ein paar Tage weg und dann passiert so etwas! Das freut mich riesig für dich! Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet und mir davon erzählt? Eine kurze Nachricht hätte auch genügt“, sagte Elisa mit trauriger Stimme.
„Du willst dir eine Auszeit nehmen. Das heißt für mich, dass ich dich auch etwas in Ruhe lasse!“
„Ich möchte keine Auszeit von dir! Ich freue mich immer, von dir zu hören. Das weißt du doch, oder?“
„Ja, du hast Recht!“, sagte Anna leise.
„Du bist verliebt, meine Liebe!“, stellte Elisa fest.
Anna schwieg einen Moment, bevor sie darauf antwortete: „Meinst du wirklich?“
„Wenn du ehrlich zu dir bist, weißt du das selbst am besten, oder?“
„Ja, ich denke schon“, gab sie schließlich zu.
„Und wer hat ausgesprochen, dass ihr offiziell zusammen seid?“
„Er hat mich heute Morgen angerufen und mir gesagt, dass ich ihm nicht mehr aus dem Kopf gehe und er sich wünscht, fest mit mir zusammen zu sein.“
„Wow!“, hörte Anna Elisa am anderen Ende der Leitung rufen.
„Ich war zuerst unsicher, aber dann habe ich mich tatsächlich getraut, ihm zu sagen, dass ich mir das auch wünsche. Und nun sind wir zusammen.“
„Ach, meine Süße, ich freue mich sehr für dich! Ich möchte ihn unbedingt kennenlernen!“
„Weißt du denn schon, wann du zurückkommst?“
„Nein, das kann ich noch nicht sagen. Ich hoffe, es gibt keine Schwierigkeiten im Büro?“
„Keine Sorge! Es läuft alles gut so weit. Du, ich bin gerade sehr müde geworden. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich schlafen gehe? Es war auf jeden Fall schön, deine Stimme zu hören!“
„Ja, fand ich auch! Gute Nacht, Anna!“
„Gute Nacht und bis bald!“
Anna drückte auf den roten Hörer, um die Verbindung zu beenden. Sie hatte ihrer Freundin nicht die ganze Wahrheit gesagt. Sie starrte noch eine Weile auf das Display ihres Smartphones, bis es automatisch ausging, und fiel kurz danach weinend mit ihrem Kopf ins Kissen. In dieser Nacht würde sie wieder keinen Schlaf finden.