Читать книгу Haus der Vergangenheit - Jacky Herrmann - Страница 9
ОглавлениеDonnerstag, 20. November 1980
Draußen regnete es in Strömen. Aus dem Kinderzimmer hörte Dolores das zarte Jammern ihres Sohnes. Er war schon den ganzen Tag knatschig gewesen und sie hatte ihn nicht beruhigen können. Sie hatte ihn früh zu Bett gebracht, in der Hoffnung, dass er bald einschlief. Nun stand sie in der Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Sie wusste, wie wichtig ihrem Mann das war und durfte sich keinen Fehler erlauben, wenn sie den Abend halbwegs unbeschadet überstehen wollte. Sie schälte Kartoffeln, putzte Gemüse und schnitt es in kleine Stücke. Leise tönte Musik aus dem alten Radio. Das Wasser, das sie vor einiger Zeit auf dem Herd angesetzt hatte, kochte längst über und ließ die Gasflamme immer wieder aufflackern. Heißes Öl spritzte aus einer Pfanne, die ebenfalls auf einer der Flammen stand und zwischenzeitlich sehr heiß geworden war. Sie wusch die Kartoffeln und legte sie schließlich in das kochende Wasser.
Seit vier Jahren lebte sie in dieser Gegend, hatte aber keinen Anschluss gefunden. Es war ein kleiner Ort, in den sie nach der Hochzeit wegen ihres Mannes gezogen war, der seit seiner Kindheit hier lebte. Sie wohnten in dem Haus seiner Eltern, die vor drei Jahren gestorben waren. Das Haus lag sehr weit außerhalb des Ortes und sie hatten keine direkten Nachbarn. Weit und breit war kein anderes Haus zu sehen. Obwohl genügend Land vorhanden war, wollte scheinbar niemand in diese Gegend ziehen. Alles, was es hier gab, war der dunkle Wald, der sich hinter ihrem Haus befand.
Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie zusammenschrak, als sie plötzlich die Tür hörte. War ihr Mann schon zurück? Er musste mindestens eine Stunde früher als gewöhnlich dran sein.
„Oh, konntest du heute früher Feierabend machen?“, fragte sie ihn, als er die Küche betrat.
„Ist das Essen fertig?“, wollte er wissen und blickte zum Herd. „Ich habe Hunger und will jetzt essen!“
Dolores suchte nach Worten und stammelte herum. „Ich hatte nicht so früh mit dir gerechnet. Ich habe vorhin erst noch die Wäsche gemacht, aber das Essen wird gleich fertig sein. Ich beeile…“
Noch ehe sie den Satz zu Ende sprechen konnte, schrie er sie schon an. „Ich habe dir schon tausendmal erklärt, dass ich essen will, wenn ich abends nach Hause komme! Ich hatte einen harten Tag und alles, was ich von meiner Ehefrau verlange, ist ein gekochtes Essen! Was ist daran so schwer?“
Mit jedem Satz schien er wütender zu werden. Instinktiv wich Dolores zurück, denn sie hatte Angst vor ihm. Dennoch setzte sie ein weiteres Mal zaghaft an: „Es tut mir leid! Ich beeile mich. Du musst nicht mehr lange warten! Setz dich schon ins Wohnzimmer! Das wird nicht wieder vorkommen! Das verspreche ich dir!“
Er zog seine schmutzigen Stiefel aus und warf sie in eine Ecke. Auch seinen Mantel ließ er einfach fallen. Seine Haare und sein Gesicht waren nass vom Regen. Tropfen liefen ihm von den Schläfen über die Wangen zum Hals hinunter. Von der Kälte draußen hatte er rote Flecken an seinen Händen. Dolores hob schnell den Mantel auf, um ihn zur Garderobe in den Flur zu bringen. In dem Moment griff er nach ihrer Hand und fuhr sie erneut an. „Verdammt nochmal, du sollst zusehen, dass mein Essen auf den Tisch kommt! Lass den dämlichen Mantel liegen und kümmere dich später darum!“
Sie zögerte keine Sekunde mehr und ging schnell zum Herd zurück, während er die Küche verließ. Sie stieß ein leises Seufzen hervor. Mittlerweile war das Öl in der Pfanne verschmort und es roch angebrannt. Auch die Kartoffeln waren längst übergekocht.
Ihr Mann, der sich ins Wohnzimmer begeben hatte, schrie plötzlich laut: „Halt deine Schnauze!“
Dolores schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass er ihren Sohn gemeint hatte, der mittlerweile in seinem Kinderzimmer laut weinte. Sie konnte ihn jetzt nicht trösten, sonst würde ihr Mann ausrasten und vermutlich etwas Schlimmes mit den beiden anstellen. Das durfte sie auf keinen Fall riskieren. Sie musste zusehen, das Chaos in der Küche zu beseitigen und schnell das Essen zu servieren. Sie hatte Angst, dass es ihm zu lange dauerte, er daraufhin erneut in die Küche kam und es eskalierte. Sie hatte furchtbare Angst. Aber genau diese Angst half ihr jetzt auch, alles blitzschnell aufzuräumen, das Fleisch in einer sauberen Pfanne anzubraten, die Kartoffeln, die nun längst gar waren, abzugießen und das Gemüse zu kochen.
Sie atmete tief durch, als sie das Essen schließlich ins Wohnzimmer trug. Ihr Mann hatte sich bereits an den Tisch gesetzt. Er las in einer Zeitung und stach nun nebenbei mit seiner Gabel im Essen herum. Dolores hatte ihm gegenüber am Tisch Platz genommen, bekam jedoch keinen Bissen hinunter. Sie befürchtete, dass ihm das Essen nicht schmeckte und er gleich wieder tobte. Und plötzlich schrie Felix wieder lauter im Kinderzimmer. Dolores zuckte zusammen. Sie zögerte, fragte dann aber mit leiser Stimme: „Darf ich bitte kurz zu ihm gehen, um ihn zu beruhigen? Wenn du das nicht möchtest, bleibe ich natürlich hier und leiste dir beim Essen Gesellschaft, so wie du es gerne magst.“
Er hob seinen Kopf und schaute ihr eindringlich in die Augen. Es vergingen einige Momente, bis er endlich etwas sagte. „Dein Essen schmeckt zum Kotzen! Nichts kannst du! Ich hätte eine wie dich nie heiraten und mir auf ewig ans Bein binden sollen. Sieh zu, dass er seine Schnauze hält! Ich möchte meine Zeitung lesen. Und bring mir gefälligst den Nachtisch und ein Bier!“
Dolores stand auf, lief in die Küche und holte ihm ein Stück von dem Kuchen, den sie am Vormittag gebacken hatte. Es war sein Lieblingskuchen und sie war sicher, dass er ihm schmecken und ihn beruhigen würde. Als sie den Teller auf den Tisch stellte, packte er sie am Handgelenk.
„Hör mir gut zu! Ich sage es dir ein letztes Mal. Wenn sich hier nicht bald etwas ändert, werde ich dich fertigmachen! Wenn ich nach Hause komme, will ich meine Ruhe haben! Der Bengel hat hier nichts zu melden! Sieh zu, dass er mich künftig nicht mehr belästigt! Außerdem will ich mein Essen pünktlich und ich will keinen Fraß wie heute! Das Fleisch schmeckt angebrannt. Die Kartoffeln sind matschig. Ich sage es dir zum letzten Mal! Enttäusch mich nicht mehr! Du bist den ganzen Tag zuhause. Das bisschen Haushalt ist für andere Frauen auch kein Problem. Warum habe ich so eine dumme Alte, die das nicht hinkriegt? Und schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede! Ich halte mich heute noch einmal zurück, aber glaub mir, das werde ich mir nicht länger von dir bieten lassen! Ich mache dich fertig! Und jetzt verschwinde aus meinen Augen!“
Dolores lief ins Kinderzimmer. Sie zitterte, verschloss die Tür hinter sich, setzte sich aufs Bett und zog ihren kleinen Jungen zu sich heran. Seine Augen waren vom Weinen gerötet. Sie drückte ihn fest an sich und flüsterte ihm ins Ohr: „Ganz ruhig, mein Schatz! Ich bin bei dir und beschütze dich! Ich habe dich unendlich lieb!“
Felix schaute mit seinen großen Kulleraugen zu ihr hinauf und murmelte nur ‚Mama, Mama‘.