Читать книгу Haus der Vergangenheit - Jacky Herrmann - Страница 11
ОглавлениеSamstag, 26. September 2015
Sie griff nach dem Wollknäuel, der auf dem Stuhl neben ihr lag. Er musste sich festgehangen haben, denn er drehte sich nicht weiter und gab keine Wolle mehr ab. Sie war gerade dabei gewesen, die letzte Reihe zu stricken, bevor sie eine Pause machen und eine Tasse Tee trinken wollte. Sie zerrte an dem Knäuel, doch es tat sich nichts, die Wolle war an einer Stelle verfilzt. Sie hatte keine Lust, sich weiter damit auseinanderzusetzen. Sie legte ihre Stricksachen auf den Tisch und fuhr mit ihrem Rollstuhl zum Fenster. Es war später Nachmittag. Die Sonne stand bereits sehr tief am Himmel und würde in der nächsten Stunde untergehen. Es war ein guter Zeitpunkt, mit dem Stricken aufgehört zu haben, dachte sie. Zu dieser Zeit schaute sie besonders gerne aus dem Fenster und beobachtete die Vögel, die sich auf den Bäumen vor ihrem Fenster versammelten. Sie meinte, immer dieselben Vögel erkennen zu können. Es musste eine Familie sein, die immer wieder an diesen Ort zurückkehrte und sich nicht aus den Augen verlor. So wie es einst in ihrem Leben der Fall gewesen war. Sie dachte an ihre Familie, die sie über alles liebte, und griff nach einem Buch, das unter der Fensterbank auf einem Schränkchen lag. Sie schlug es auf. Mit ihren Fingern strich sie zärtlich über die Bilder und las die Texte, die jemand liebevoll daruntergeschrieben hatte. Es half ihr, die Erinnerungen lebendig zu halten und Erlebnisse, die sie längst vergessen hatte, wieder in ihr Gedächtnis zu rufen. Doch es funktionierte nicht immer. Manchmal gab es auch schlechte Tage, an denen sie überhaupt nicht mehr wusste, wo oder wer sie war. Heute war ein guter Tag. Sie blätterte weiter in ihrem Buch. Sie war so vertieft, dass sie kurz aufschrak, als sich plötzlich die Zimmertür öffnete. Olivia Neumann stand mit einem Tablett in der Tür.
„Hallo, Frau Arendt! Wie ich sehe, haben Sie für heute Schluss gemacht mit dem Stricken?“ Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab und räumte die Stricksachen zusammen.
„Lassen Sie das ruhig liegen! Ich räume das später auf.“
„Kein Problem! Ich mache das schnell, damit ich Ihnen Ihr Abendessen servieren kann. Ich hoffe, Sie haben Hunger?“
„Es geht so.“ Sie schaute wieder aus dem Fenster. „Sehen Sie“, sie hob ihren Arm und deutete auf die Vögel, die auf dem Baum saßen. „Sie sind alle wiedergekommen!“
Olivia, die gerade das Besteck neben den Teller gelegt hatte, ging zu ihr und schaute ebenfalls aus dem Fenster. „Und das sind immer dieselben Vögel, meinen Sie?“
„Ja, es sind immer dieselben! Da bin ich mir sicher!“ Olivia lächelte ihr zu und trat danach hinter sie, um sie in ihrem Rollstuhl zum Tisch zu schieben. „Warten Sie! Ich möchte mir das noch etwas anschauen, bevor ich esse.“ Sie blickte mit bittendem Blick zu ihrer Pflegerin hoch.
„Aber dann wird Ihr Essen kalt!“
„Das stört mich nicht! Das wissen Sie doch!“
Olivia zögerte, ließ dann aber die Griffe des Rollstuhls los und ging zurück zur Tür. „In Ordnung, dann lasse ich Sie jetzt wieder allein. Aber ich komme in einer halben Stunde wieder und bringe Ihnen Ihre Medikamente. Bis dahin müssen Sie gegessen haben!“
„Danke!“ Sie wandte sich von Olivia ab und schaute wieder nach draußen, während Olivia das Zimmer verließ. Mit einem Lächeln im Gesicht beobachtete sie weiter die Vögel, wie sie von Ast zu Ast flogen, bis sie ihren Platz gefunden hatten, auf dem sie länger verweilen wollten.
Völlig unerwartet läutete wenig später das Telefon, das neben ihrem Bett stand. Sie fuhr mit ihrem Rollstuhl rüber und hob den Hörer ab.
„Christiane Arendt hier, hallo! Wer ist da?“
Es gab nicht viele Personen, die sie anriefen. Es konnte eigentlich nur ihr Sohn Richard sein.
Am anderen Ende der Leitung antwortete niemand. „Hallo, wer ist da?“
Es blieb weiter still. Doch jemand war in der Leitung, war sie sicher. Sie meinte, ein Atmen zu vernehmen.
„Bist du es, Richard? So sag doch bitte etwas! Hallo!“
Weiterhin keine Reaktion. Sie hoffte noch immer, dass es Richard war. Oder aber Elisa. Darüber würde sie sich noch mehr freuen. Es war schon lange her, dass sie angerufen hatte. Richard erzählte ihr zwar immer, was sie machte und wie es ihr ging, aber sie würde gerne wieder einmal selbst Elisas Stimme hören. Sie wagte einen weiteren Versuch.
„Hallo? Hallo?“
Niemand meldete sich. Plötzlich hatte sie einen schlimmen Verdacht. Angst kroch in ihr hoch und sie legte schnell auf. Sie fuhr mit ihrem Rollstuhl nach hinten, als ob in der Nähe des Telefons plötzlich eine Gefahr lauerte. Ihr Herz raste. Sie starrte mit großem Abstand weiter auf das Telefon und wartete. Sie hatte Angst, dass es gleich wieder klingeln würde. Was sollte sie dann tun? Sie blickte kurz zum Esstisch. Der Appetit war ihr vergangen, doch Olivia würde böse mit ihr sein. Sie hatte ihr schließlich noch eine halbe Stunde zusätzlich eingeräumt, obwohl sie sich an die Regeln halten und die Patienten nach einem festen Zeitplan versorgen musste. Sie wollte ihr keine Schwierigkeiten machen, denn sie war immer so nett zu ihr. Sie wartete noch einen Moment. Das Telefon blieb still. Sie atmete auf. Dann fuhr sie in ihrem Rollstuhl zum Esstisch und nahm die Abdeckung vom Teller. Es gab Kartoffelsuppe mit Würstchen. Das Essen schien noch warm zu sein, es dampfte noch. Sie griff nach dem Löffel und probierte vorsichtig die Suppe. Sie schmeckte, aber sie hatte keinen Appetit mehr. Der seltsame Anruf war ihr auf den Magen geschlagen. Vermutlich hatte sich jemand verwählt. Oder Richard hatte in einem Funkloch gesteckt und der Empfang war weggewesen. Heutzutage war das alles anders mit diesen Mobiltelefonen. Zu ihrer Zeit gab es sowas nicht. Sie nahm noch zwei Löffel von der Suppe, bevor sie den Löffel beiseitelegte und die Abdeckung zurück auf den Teller setzte.
Im selben Moment öffnete sich die Tür und Olivia trat ein. „Ich komme wohl genau richtig, Frau Arendt! Ich hoffe, Sie haben aufgegessen?“
Christiane Arendt blickte sie an, als ob sie ein Gespenst sehen würde. Olivia bemerkte das sofort.
„Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“
Sie stieß sich mit ihren Armen vom Tisch weg, dass ihr Rollstuhl nach hinten fuhr. „Lassen Sie mich in Ruhe! Wer sind Sie? Was wollen Sie…“, begann sie völlig aufgebracht und wedelte immerzu mit ihren Armen. „Ich habe Ihnen nichts getan! Ich will nur in Frieden leben! Bitte! Bitte!“
„Es war nicht gut, Sie aus Ihrem gewohnten Rhythmus zu bringen! Das ist meine Schuld! Bitte beruhigen Sie sich, Frau Arendt! Sie kennen mich doch und ich will Ihnen nichts Böses“, erklärte Olivia ihr mit ruhiger Stimme, während sie sich ihr langsam näherte.
Doch Christiane Arendt beruhigte sich nicht. Im Gegenteil, sie wurde zunehmend aufgebrachter. Sie fuhr mit ihrem Rollstuhl weiter zurück und begann nun, mit ihren Beinen zu zappeln. Olivia griff in ihre Tasche, in der sich ihr Pieper befand, und drückte den Alarmknopf. Kurz darauf erschien ein Arzt im Zimmer. Hinter seinem Rücken hielt er eine Beruhigungsspritze. Olivia stand etwa einen Meter von Christiane Arendt entfernt, die sie mit Angst in den Augen anschaute und weiter flehte, dass man sie in Ruhe lassen solle. Der Arzt und Olivia gaben sich ein Zeichen. Während Olivia sie an den Armen festhielt, setzte der Arzt ihr die Spritze. Es dauerte nur wenige Sekunden. Christiane Arendt beruhigte sich, das Zappeln ihrer Beine ließ nach. Sie sank in ihrem Stuhl zusammen und schlief kurze Zeit später ein.
***
Denis Kowalski saß an der Hotelbar. Vor ihm stand ein großes Glas Bier. Auf seinem Smartphone blätterte er nochmals alle Bilder durch und klickte anschließend die Fotos an, die er an seine E-Mail anhängen wollte. Er fand, dass er den Auftrag bisher gut erfüllt hatte. Das war schnell und gut verdientes Geld gewesen, denn wirklich viel Aufwand oder Schwierigkeiten hatte es bislang nicht gegeben, abgesehen davon, dass er in diesem Land sein musste, das er nicht besonders mochte. Er fragte sich schon die ganze Zeit, was das Ganze eigentlich bringen sollte und worauf sein Auftraggeber aus war. Über das Internet war er damals mit ihm in Kontakt getreten. Das war nichts Ungewöhnliches, schließlich hatte er die Homepage extra dafür einrichten lassen. Heutzutage passierte sowieso alles über das Internet, eine Zeitungsannonce las kaum noch jemand. Er hatte nicht lange überlegt und den Auftrag sofort angenommen. Er fand den Typen zwar seltsam und auch die Geschichte, die er ihm aufgetischt hatte, aber er stellte keine großen Fragen. Solange er das Geld pünktlich und in voller Höher bekam, war ihm gleichgültig, was andere Menschen taten oder welche Absichten sie hatten. Er war kein Gutmensch und interessierte sich wenig für das Leben anderer. Und er hatte schon die abstrusesten Fälle gehabt. Einmal hatte er einen sehr jungen, gutaussehenden Mandanten gehabt, erinnerte er sich zurück, der von seiner knapp dreißig Jahre älteren Freundin betrogen wurde. Er konnte es damals nicht fassen, dass dieser junge Kerl so sehr auf diese alte Schachtel gestanden hatte und förmlich zusammengebrochen war, nachdem er ihm die Fotos gezeigt hatte, die er von ihr und ihrem Liebhaber gemacht hatte. Im Vergleich dazu war dieser Fall harmlos, fast schon langweilig. Seinen Auftraggeber, der angeblich Peter hieß, hatte er bisher nur ein einziges Mal persönlich getroffen, jeglicher weiterer Kontakt lief seitdem nur über Telefon oder per E-Mail ab. Nun schickte er ihm die letzten Bilder, die er von Elisa Arendt gemacht hatte. Danach wollte er sein Bier austrinken und sich anschließend in sein Hotelzimmer begeben. Vielleicht würde er sich noch ein bisschen durchs Fernsehen zappen. Er ging davon aus, dass sein Aufenthalt in Frankreich bald beendet war und er endlich zurück nach Deutschland fahren konnte. Bliebe abzuwarten, ob sich Peter morgen meldete und ihm neue Anweisungen gab.
***
Die Zeit hatte auch an ihm nicht haltgemacht. Der exzessive Alkoholkonsum der letzten Jahrzehnte hatte deutliche Spuren hinterlassen und seinen körperlichen Verfall stark beschleunigt. Bei jedem einzelnen Schritt hatte er Schmerzen in den Knien. Die Treppe war viel zu steil und das Geländer fehlte. Noch vor ein paar Jahren war es kein Problem für ihn gewesen, hier hinunter zu steigen. Jetzt sah das anders aus. Er stieg Stufe für Stufe hinab. Immer mit dem rechten Bein voran. Sobald er eine Stufe erreicht hatte, zog er das linke Bein nach, bevor er sich an die nächste Stufe wagte. Dabei stützte er sich an der Wand ab. Das Prozedere dauerte eine Zeit, aber das störte ihn nicht. Was sollte er sonst noch mit seiner Zeit anfangen? Sie würde sowieso bald abgelaufen sein.
Als er nach großen Anstrengungen schließlich die letzte Stufe erreicht hatte, tastete er mit der Hand an der Wand entlang, um nach dem Lichtschalter zu suchen. Er hoffte, dass die Glühbirne nach so langer Zeit noch funktionierte. Wenn nicht, hätte er den Weg umsonst gemacht. Es war bereits sehr spät und er würde es heute nicht mehr schaffen, wieder nach oben zu steigen, die Taschenlampe zu holen und nochmals die ganzen Stufen hinunterzugehen. Warum hatte er nicht vorher daran gedacht? Das Alter brachte nicht nur die Gebrechlichkeit des Körpers, sondern auch die des Verstandes, dachte er. Er hatte Glück, das Licht funktionierte noch. Es leuchtete zwar nicht mehr sehr hell, da die Glühbirne stark mit Spinnweben benetzt war, aber es reichte, um sich orientieren zu können.
Warum war er hierhergekommen? Ganz sicher wusste er es nicht. Er hatte lange versucht, sie zu vergessen und die alten Erinnerungsstücke, die er noch von ihr hatte, bereits vor einigen Jahren hierhergebracht. Doch er hatte es nicht geschafft und wollte daher noch einmal die schönen Bilder von ihr ansehen, die er im hintersten Kellerabteil versteckt hielt. Aber es gab hier unten noch eine andere Geschichte aus seiner Vergangenheit. In den letzten Tagen hatten ihn immer wieder Gedanken daran geplagt. Vielleicht war das der wahre Grund, warum er hierherkommen musste. Es würde jedoch nichts ändern. Es war für immer zu spät. Plötzlich Reue zu zeigen, brachte auch nichts mehr. Er hatte es die ganzen Jahre nicht getan.
Er schritt langsam den Gang entlang und stützte sich dabei weiter mit der Hand an der Wand ab. Der Putz blätterte an manchen Stellen ab und fiel zu Boden. Als er am vorderen Kellerabteil ankam, blieb er stehen und hielt inne. Sollte er dort hineingehen? Es vergingen einige Momente. Einerseits wollte er nachsehen, andererseits sträubte er sich dagegen. Er zögerte noch einen Moment, bevor er schließlich weiter geradeaus auf das hintere Kellerabteil zulief. Es brachte nichts, beschloss er. Was er getan hatte, war nicht rückgängig zu machen. Es hatte ihn die ganzen Jahre kalt gelassen. Warum sollte er sich kurz vor seinem Tod mit einem schlechten Gewissen belasten? Er war ein furchtbarer Mensch, das wusste er. Es hatte in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Menschen gegeben, der ihm jemals etwas bedeutet hatte und den er nie vergessen würde. Alles andere war ihm immer egal gewesen. Das sollte besser so bleiben.
Er schloss das Vorhängeschloss mit dem Schlüssel auf, den er mitgebracht hatte. Zum Glück hatte er wenigstens daran gedacht. Doch er öffnete die Tür noch nicht. Er wartete weitere Minuten, lehnte seinen Kopf gegen die Tür und blickte zu Boden. Ein Gefühl, das er nicht kannte, erfasste ihn plötzlich. Er fühlte sich schlecht. Er wollte es nicht zulassen. Er durfte sich davon nicht beherrschen lassen, denn er war der Starke und alle anderen die Schwachen. Das war immer so gewesen. Sollte tatsächlich der Moment gekommen sein, an dem er sich seinen Taten stellen musste? Er hatte zwei Menschen auf seinem Gewissen. Es war passiert und er konnte es niemals wiedergutmachen. Der Alkohol allein war nicht schuld daran gewesen, das wusste er, aber dieser hatte aus ihm zumindest ein noch schlimmeres Monster gemacht, als er es sowieso schon gewesen war.
Seine Beine wurden schwächer. Er sank an der Wand entlang hinunter auf den Boden. Warum er noch so lange auf dieser Welt geblieben war, hatte er nie verstanden. Er hatte es im Grunde genommen nicht verdient und hätte schon viel früher sterben müssen. Vielleicht war das die Strafe, die sich Gott oder wer auch immer für ihn ausgedacht hatte. Sein Leben war nichts weiter als ein nicht endendes Elend und er legte keinen Wert darauf, es weiter fortzusetzen. Trotz allem, was passiert war und was er anderen Menschen Schreckliches angetan hatte, hoffte er, eines Tages dennoch seinen Frieden zu finden. Und wenn es nach ihm ginge, dann schon sehr bald.
Er streckte seine Beine aus und lehnte sich mit dem Rücken stärker an die Wand. Der Boden war kalt, doch er hatte keine Kraft, sich wieder nach oben zu ziehen. Er hatte sie so sehr geliebt und er liebte sie noch heute. Es verging kein Tag, an dem er nicht an sie dachte. Warum war es ihm nicht vergönnt gewesen, mit ihr glücklich zu werden? Diese Frage beschäftigte ihn seit jeher am meisten. Wer hatte sich dieses Schicksal für ihn ausgedacht? Würde er sie eines Tages wiedersehen? Vielleicht auf der anderen Seite, wenn es diese denn gab?