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Mittwoch, 23. September 2015

Nun war es tatsächlich so weit gekommen. Elisa hatte sich für eine Auszeit entschieden. Sie war einfach davongelaufen, hatte alles stehen und liegen lassen. Sie hatte beschlossen, dass sich in ihrem Leben etwas ändern musste. Ob eine Flucht die Lösung ihrer Probleme war, war allerdings fraglich.

Sie stand auf dem Deck der Fähre und schaute in die Dunkelheit der Nacht, während sie ihren Tag noch einmal Revue passieren ließ. Im Hintergrund waren nur das Rauschen des Meeres und die Geräusche der Schiffsmotoren zu hören. Am Morgen hatte der Tag normal begonnen. Wie immer eigentlich. Halb sieben hatte ihr Wecker geklingelt. Das war schon immer eine ihrer großen Schwächen gewesen: Sie war kein Frühaufsteher und konnte grundsätzlich nicht nach dem ersten Klingeln aufstehen, sondern musste ihren Wecker mindestens noch ein- oder zweimal weiterstellen, um noch für einige Minuten länger ihren Kopf zwischen die Kissen zu stecken, bevor ihr der Alltag aufwartete. Als sie es Punkt sieben Uhr endlich geschafft hatte, aus dem Bett zu kommen, hatte sie wie jeden Morgen die Kaffeemaschine angestellt und war unter die Dusche gesprungen. Sie hatte anschließend mit einem Handtuch umwickelt vor ihrem Kleiderschrank und gleichzeitig ihrem zweiten morgendlichen Problem gestanden: der Auswahl ihres Outfits. Sie hatte Unmengen an Klamotten und es fiel ihr grundsätzlich schwer, sich für etwas zu entscheiden. Ihr Kleidungsstil war eher sportlich. Sie trug gerne bequeme Jeans und dazu einen schlichten Pulli, doch in ihrem Job war das nicht möglich. Sie beschränkte ihre Geschäftskleidung dennoch auf schlichte Blazer, einfarbige Blusen und dunkle Hosen. Letztendlich hatte sie sich an diesem Morgen für einen klassischen schwarzen Hosenanzug entschieden, kombiniert mit einer hellen Bluse und einer langen goldenen Kette. Ihre Haare hatte sie locker nach hinten gebunden. Halb acht hatte sie das Schlafzimmer endlich verlassen und sich ihre Tasse Kaffee geholt. Normalerweise trank sie zu dieser Jahreszeit ihren Kaffee morgens auf dem Balkon, doch an diesem Morgen hatte das Wetter nicht mitgespielt. Es war regnerisch und trüb gewesen, genau wie ihre Stimmung. Schließlich hatte sie ihre Wohnung verlassen und war mit dem Auto losgefahren. An diesem Morgen war es besonders stressig gewesen. Es hatte viel Verkehr und jede Menge rote Ampeln gegeben. Alles hatte zusammengepasst: ihre schlechte Stimmung, das trübe Wetter, der stressige Verkehr. Und plötzlich hatte es in ihrem Kopf ‚klick‘ gemacht. Es war wie bei einem Vulkan gewesen, der seit Jahren im Inneren brodelte, von außen aber keine Anzeichen gab, bald auszubrechen. Dieser Zeitpunkt war erreicht. Sie musste ausbrechen. Sie hatte ihren roten BMW bei der nächsten Gelegenheit angehalten, das Radio ausgestellt und überlegt, was sie tun sollte. Nach etwa zehn Minuten hatte sie den Motor schließlich wieder gestartet und war zurück nach Hause gefahren. Von dort aus hatte sie Anna angerufen.

„Guten Morgen, Anna! Hör zu, ich nehme mir eine Auszeit. Ich muss für ein paar Tage weg von hier. Du hattest Recht damit! Ich packe ein paar Sachen zusammen, komme dann aber nochmal kurz ins Büro.“

Sie wollte ihr Leben wieder in den Griff bekommen, es war nun Zeit dafür. Sie war viel zu oft vor etwas davongelaufen. Manchmal ließ sie sogar den Gedanken zu, dass ihre Entscheidung für Frankreich auch nur eine Flucht gewesen war. Nach dem kurzen Telefonat mit Anna hatte sie schließlich einen Koffer aus dem Schrank geholt und schnell ein paar Sachen eingepackt. Viel brauchte sie nicht. Sie hatte einen letzten prüfenden Blick in alle Räume geworfen und anschließend ihre Wohnung verlassen, um zum Verlag zu fahren. Dort hatte sie in ihrem Büro ebenfalls die wichtigsten Sachen zusammengepackt, die sie mitnehmen wollte. Auch in ihrem Büro hatte sie sich nochmal intensiv umgeschaut, als wäre sie zum letzten Mal dort gewesen. Anschließend war sie zu Anna an die Rezeption gegangen und hatte ihr von ihrem Vorhaben erzählt, an den Flughafen zu fahren und sich spontan für ein Reiseziel zu entscheiden.

„Sagst du bitte den anderen Bescheid?“, hatte Elisa sie gebeten. „Und bitte grüß Giorgio von mir, wenn du heute bei ihm essen gehst! Ich melde mich, sobald ich angekommen bin, wann und wo auch immer das sein wird. Wir telefonieren, okay? Etwas will ich aber unbedingt noch wissen: Wie war dein Date mit Marc gestern?“

Anna hatte gestrahlt. „Sehr schön!“

„Das freut mich! Du erzählst mir später die Details in aller Ausführlichkeit!“ Elisa hatte ihr zugezwinkert.

„Was ist mit Sébastien?“, hatte Anna wissen wollen.

„Ich melde mich von unterwegs bei ihm. Wir haben seit vorgestern nicht mehr miteinander gesprochen.“

Die beiden hatten sich noch einmal fest umarmt, bevor Elisa ihre Tasche genommen hatte und im Fahrstuhl verschwunden war. Sie war anschließend zur Bank und danach zum Flughafen gefahren. Im erstbesten Reisebüro hatte sie sich nach Last-Minute-Angeboten erkundigt. Der Süden würde ihr guttun, hatte sie gedacht. Dort würde es noch warm sein, den ganzen Tag die Sonne scheinen und vor allem wäre das Meer in ihrer Nähe. Ihre Wahl war schließlich tatsächlich auf Korsika gefallen, eine Insel, ein Stück Land inmitten eines weiten Meers, ein Ort der Ruhe, genau der richtige Platz für sie im Moment, um Abstand zu gewinnen und ihr Leben zu ordnen. Zumindest wollte sie das versuchen. Die Zeit bis zum Abflug hatte Elisa genutzt, um endlich Sébastien anzurufen, obwohl es ihr sehr schwergefallen war.

„Was soll das heißen, du bist am Flughafen?“, hatte Sébastien irritiert gefragt, als Elisa ihm von ihren Plänen erzählt hatte.

„Ich brauche eine Auszeit. Es tut mir leid! Das hat sich kurzfristig ergeben. Bitte versteh mich!“

„Elisa, wie soll ich dich verstehen? Deine Kurzschlusshandlung, heute spontan zu verreisen und dir eine Auszeit zu nehmen, spiegelt genau dein Verhalten wider, das im Grunde unsere ganze Beziehung kaputt gemacht hat. Du denkst nur an dich und teilst weder Gefühle noch Gedanken mit den Menschen, die dich lieben! Du lässt niemanden an dich heran! Alles ist so oberflächlich zwischen uns geworden und ich kratze bei dir nur noch an deiner äußeren Schale!“

Elisa hatte für einen längeren Moment geschwiegen. Diese Vorwürfe hatte sie noch nie von Sébastien in dieser Deutlichkeit gehört. Er hatte zwar einiges kritisiert, dabei oft aber nur ringsherum geredet.

„Sébastien, ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Ich weiß, dass ich viele Fehler gemacht habe, aber genauso hast du auch Fehler gemacht. Diese Vorwürfe höre ich heute zum ersten Mal von dir. Ich muss gestehen, dass mich das sehr verletzt!“

„Hör zu, Elisa, ich liebe dich und möchte dich nicht verletzen! Das weißt du. Aber du gibst mir zu wenig! Ich möchte mehr von dir! Aber ich möchte das nicht erzwingen. Wenn du nicht bereit dazu bist, macht das alles keinen Sinn!“

„Es tut mir so leid! Glaub mir das bitte! Es war nie meine Absicht, dir weh zu tun! Deshalb gib mir bitte die Zeit, um über alles nachzudenken! Ich habe sehr viel gearbeitet in der letzten Zeit und dich und unsere Beziehung vernachlässigt. Es ist einfach passiert und als ich es bemerkt habe, war es zu spät. Es stimmt, ich habe dich nicht mehr an mich herangelassen. Ich habe selbst nicht bemerkt, wie wenig Zeit ich mir gegeben habe, um mir über ein paar Dinge klar zu werden.“

„Elisa, es ist traurig, dass wir das am Telefon besprechen müssen. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass du nach unserem Streit einen Schritt auf mich zukommst! Ein einziges Mal! Aber stattdessen packst du deine Sachen und verschwindest.“

„Verzeih mir! Ich kann nicht anders!“

„Du musst deinen Weg gehen! Wenn dieser nicht mehr mit mir in dieselbe Richtung verläuft, muss ich das akzeptieren. Elisa, ich werde nicht länger versuchen, dich bei mir zu halten. Du bist frei und ich lasse dich gehen!“

„Sébastien…“

„Nein, sag bitte nichts! Es ist vorbei! Es ist aus mit uns! So schwer es mir fällt, aber das ist der einzig richtige Weg. Solltest du tatsächlich eines Tages zurück zu mir finden, bin ich gerne bereit, einen Neuanfang mit dir zu wagen. Aber nur, wenn du endlich im Reinen mit dir bist. Ich wünsche dir alles Gute, Elisa! Pass auf dich auf!“

Noch ehe Elisa darauf hatte antworten können, hatte Sébastien bereits aufgelegt. Alles, was er gesagt hatte, stimmte. Sie hatte ihn trotz seiner Bemühungen emotional nicht mehr an sich herangelassen. Das war ihr in diesem Moment klarer geworden als je zuvor. All die Streitereien zwischen ihnen waren nur ein Kampf seinerseits um ihre Liebe und Zuneigung gewesen. Sie hatte nicht den Mut und die Kraft aufgebracht, mit ihm Schluss zu machen und hätte es noch ewig so weiterlaufen lassen. Sie wusste, dass die Zeit, die sie sich von ihm erbeten hatte, um sich über alles klar zu werden, nur eine Ausrede gewesen war. Tief im Inneren war ihr schon lange klar gewesen, dass die Beziehung längst vorbei war. Sie liebte ihn nicht mehr und wahrscheinlich hatte sie ihn nie richtig geliebt. Die Trennung tat ihr dennoch unheimlich weh. Sie hatte einen lieben Menschen sehr verletzt und fühlte sich verdammt schlecht, dass sie ihm diese schwere Aufgabe überlassen hatte, weil sie selbst zu feige dazu gewesen war. Er hatte Recht, dass es der einzige und vor allem richtige Weg war, sich aus dieser unglücklichen Beziehung zu lösen. Es funktionierte nicht. Leider war es nicht das erste Mal, dass sie das traurig am Ende einer gescheiterten Beziehung feststellen musste. Wie jedes Mal konnte sie sich nicht erklären, wie es so weit gekommen war und warum sie nicht rechtzeitig vorher eingegriffen hatte. Warum war das immer so bei ihr? Die Gedanken, die nach dem Telefonat in ihr aufgekommen waren, hatten sie mit tiefer Traurigkeit erfüllt. Sie hatte wieder eine längere Zeit ihres Lebens nur vermeintlich glücklich verbracht und dies mit Entsetzen erst festgestellt, als es längst zu spät gewesen war. Unwiderrufliche Lebenszeit, die sie besser hätte nutzen können.

Nach dem Telefonat war alles mechanisch abgelaufen. Sie war durch einige Geschäfte geschlendert, ohne sich jedoch etwas anzuschauen, und war anschließend zur Sicherheitskontrolle gegangen. An Gate sechsundzwanzig hatte sie sich auf eine Bank gesetzt und gewartet, bis ihr Flug aufgerufen wurde. Beim Einchecken hatte sie sich für einen Fensterplatz entschieden. Elisa hatte bereits auf ihrem Platz gesessen, aus dem Fenster geschaut und gerade beobachtet, wie die Koffer verladen wurden, als ein junger Mann neben ihr Platz genommen hatte. Er war groß gewesen, hatte dunkelblonde Haare, blaue Augen und einen durchdringenden Blick gehabt, erinnerte sie sich. Nachdem er es sich bequem gemacht hatte, war kurze Zeit später eine kleine, dicke Frau aufgetaucht und hatte ihn angesprochen.

„Ich glaube, dass Sie auf meinem Platz sitzen!“

„Pardon, Madame, was sagen Sie?“

„Ich habe Platz 8C. Das ist dieser Platz hier.“

„Oh, Verzeihung! Einen Moment bitte!“ Elisa hatte beobachtet, wie er seine Bordkarte aus seiner Hosentasche gekramt und überprüft hatte. „Es tut mir leid, Madame! Sie haben Recht! Ich habe Platz 18C. Ich muss wohl die 1 übersehen haben.“

Er war aufgestanden, hatte seine Sachen zusammengepackt und noch einmal zu Elisa geschaut, die das Gespräch mitverfolgt hatte, bevor er seinen Platz im hinteren Teil des Flugzeuges angesteuert hatte.

Der Flug war schnell vergangen. Elisa hatte versucht, das Chaos in ihrem Kopf zu sortieren, war damit aber erfolglos geblieben. In Nizza hatte sie einen Zwischenstopp gehabt. Sie hatte sich an einen wunderschönen Sommer zurückerinnert, den sie als Studentin dort verbracht hatte. Von dort aus sollte die Fähre um halb elf Uhr abends ablegen und am nächsten Morgen gegen sieben Uhr in Bastia, dem nordöstlichen Hafen Korsikas, ankommen. Sie hatte die verbleibende Zeit in Vieux Nice, der Altstadt, verbracht und anschließend am Hafen zu Abend gegessen.

Gegen zehn Uhr stand sie nun auf dem Deck der Fähre und schaute in die Nacht hinaus. Sie zitterte, denn es war sehr kühl geworden und sie hatte sich keine Jacke übergezogen. Sie lehnte sich gegen die Reling und beugte ihren Kopf nach vorne, um die Wellen zu beobachten, die gegen das Schiff schlugen. Sie liebte das Meer, dessen Unbeständig- und Mächtigkeit. Sie schmunzelte, denn trotz allem freute sie sich auf die kommenden Tage. Sie würde sich endlich erholen und in aller Ruhe über ihr Leben nachdenken können.

Sie machte sich auf den Weg zu ihrer Kabine, die sie für die Nacht reserviert hatte. Als sie durch die Halle lief, sah sie den jungen Mann aus dem Flugzeug.

„Guten Abend, Monsieur! So schnell sieht man sich wieder. Sie wollen also auch nach Korsika?“

„Bonsoir, Mademoiselle! Ja, ich fahre zu einem Freund. Es ist lange her, dass ich das letzte Mal dort war.“

„Wie ich sehe, haben Sie sich für die Nacht nur einen Liegestuhl reserviert?“

„Ja, das ist völlig ausreichend für eine Nacht!“

„Ich hoffe, es ist diesmal der richtige Sitzplatz“, sagte Elisa mit einem Lächeln, bevor sie weiterging.

Er lächelte zurück „Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht und schöne Träume! Ich hoffe, wir sehen uns wieder!“

Elisa antwortete nicht darauf. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Wie konnte sie mit diesem fremden Mann flirten, nachdem sie gerade frisch getrennt war? Das bestätigte ihr auf unschöne Weise erneut, dass sie Sébastien nicht richtig geliebt haben konnte. Traurig legte sie sich in ihrer Kabine schlafen.

Haus der Vergangenheit

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