Читать книгу Haus der Vergangenheit - Jacky Herrmann - Страница 4

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Sonntag, 17. Februar 1980

Der Winter war besonders eisig in diesem Jahr und würde sich noch lange in den Frühling hineinziehen. Die Fenster waren stark beschlagen, dass sie nicht hinausblicken konnte. Das Haus war insgesamt in einem sehr schlechten Zustand. Er hatte lange Zeit nichts daran gemacht.

Dolores Winter kniete nieder, um Holz in dem kleinen Ofen nachzulegen. Auf einer Wolldecke saß Felix und spielte fröhlich mit seinem Teddy. Sie war glücklich, wenn er es war und liebte Momente wie diesen. Das Glück mit ihrem Sohn war das Einzige, das ihr in diesem armseligen Leben geblieben war.

Sie zündete eine Flamme auf dem Gasherd an und setzte einen Topf mit Milch darauf an. Es war kurz nach sechszehn Uhr. Ihr Mann war in die Dorfkneipe gegangen, um mit seinen Kumpanen Karten zu spielen. Vermutlich ließ er sich wie gewöhnlich volllaufen. Vielleicht kam er später wieder mit einem blauen Auge zurück, weil sie sich betrunken beim Spielen stritten und anschließend gegenseitig die Köpfe einschlugen. Sie fürchtete immer diesen Moment, wenn er nach Hause kam. Jeden einzelnen Tag, denn es ging selten gut für sie aus. Doch sie wollte sich nicht den Nachmittag mit der Angst vor der bevorstehenden Rückkehr ihres betrunkenen Mannes verderben. Meist kam er sonntags nicht vor einundzwanzig Uhr zurück. Die Zeit bis dahin wollte sie genießen.

Sie goss die warme Milch in eine Tasse, rührte Kakaopulver hinein und setzte sich zu Felix. Er krabbelte auf ihren Schoß und trank mit ihrer Hilfe in kleinen Schlucken aus der großen Tasse.

Dolores vergaß völlig die Zeit. Sie spielten mit dem Teddy und hörten Musik aus dem kleinen, alten Radio. Gerade als sie Felix vorm Schlafengehen noch etwas zu essen zubereiten wollte, knallte es laut an die Haustür. Es war fast achtzehn Uhr. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen. Sie sträubte sich, zur Tür zu gehen, nahm Felix auf den Arm und setzte sich auf die Küchenbank.

„Du brauchst keine Angst zu haben! Ich beschütze dich!“, flüsterte sie ihm zu und streichelte dabei zärtlich über seinen Kopf. Sie wartete. Es blieb still. Nur das Knistern des Feuers im Ofen war zu hören. Sie atmete auf. Es musste der Wind gewesen sein. Sie stand auf, setzte den Jungen auf die Bank und ging zum Ofen, um Holz nachzulegen. In dem Moment hörte sie einen weiteren Schlag, der sie erneut zusammenzucken ließ. Sofort nahm sie Felix wieder hoch und hielt inne. Es knallte nochmal, wurde immer heftiger und hörte sich nun eindeutig danach an, dass jemand vehement gegen die Tür schlug. Angst kroch in ihr hoch. Warum war er schon zurück? Warum schloss er nicht selbst die Tür auf? Sie war wie gelähmt und wusste nicht, was sie tun sollte.

Ein Schlag ans Küchenfenster ließ sie kurz darauf zusammenfahren.

„Mach endlich die Tür auf, du Miststück!“, brüllte eine Männerstimme.

Er war es tatsächlich. Dolores zitterte. Sie wollte ihn nicht hineinlassen, da sie wusste, was geschehen würde. Aber sie hatte keine Wahl. Rasch brachte sie Felix ins Kinderzimmer, legte ihn ins Bett, schaltete das Licht aus, verschloss die Tür und nahm den Schlüssel an sich, um ihn vor seinem Vater zu schützen. Sie atmete noch einmal tief durch, ging anschließend zur Haustür und öffnete diese zaghaft. Ein eiskalter Wind wehte ihr ins Gesicht. Ein angstvolles Schaudern ergriff sie. Doch er war nicht da. Er war nirgendwo zu sehen. Stand er immer noch am Küchenfenster? Sollte sie hinausgehen und ihn holen? Egal, was sie tat, es war das Falsche, wusste sie. Sie zog ihren Mantel über und lehnte die Tür an. Mit kleinen Schritten suchte sie sich ihren Weg zur Rückseite des Hauses. Als sie um die Ecke bog, sah sie eine dunkle Gestalt in der Ferne.

„Hier draußen ist es kalt“, rief sie. „Komm ins Haus“, bat sie ihn. Ihre Stimme zitterte.

Doch er reagierte nicht, blieb regungslos stehen. Es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. In den letzten Nächten war Vollmond gewesen, der nun wieder deutlich abgenommen hatte. Durch den Nebel, der sich wie ein Schleier über den Abend gelegt hatte, war der Mond kaum noch sichtbar. Sie bereute, nach draußen gegangen zu sein und trat den Rückweg an. Gerade als sie an der Tür ankam, überraschte sie eine kalte Hand von hinten und griff sie fest am Nacken.

„Wohin willst du?“, fragte er sie.

„Ich dachte, wir gehen zusammen ins Haus“, antwortete Dolores zaghaft.

Er zog sie mit festem Griff zurück, drehte sie zu sich um und drückte ihr Gesicht mit seinen Händen zusammen, die stark nach Zigaretten rochen. Er kam ihr immer näher und schaute sie eindringlich an. „Ihr Frauen seid widerlich! Erst macht ihr uns schöne Augen und dann verarscht ihr uns nur“, beschimpfte er sie.

Sie wusste nicht, wovon er sprach. Wahrscheinlich hatte er wieder die Bedienung in der Kneipe angemacht, die ihn abblitzen lassen hatte.

„Und von allen Frauen, die es auf dieser verdammten Welt gibt, habe ich die Allerhässlichste abbekommen! Schau dich im Spiegel an! Wie siehst du nur aus?“, warf er ihr vor.

So schmerzhaft die Wahrheit war, er hatte Recht damit. Als er Dolores vor sechs Jahren kennengelernt hatte, war sie eine bildschöne Frau gewesen, die immer darauf bedacht gewesen war, sich zurechtzumachen. Sie hatte ihre langen, blonden Locken immer offen getragen, was ihrem Gesicht sehr geschmeichelt hatte. Dolores hatte damals mit einer Freundin einen Ausflug nach Kiel gemacht, nachdem sie kurz zuvor ihre Schule erfolgreich abgeschlossen hatte und endlich etwas von der Welt sehen wollte. Sie hatte aus dem Dorf weggewollt, in dem sie behütet aufgewachsen war. Ihre Eltern hatten ihr zum Schulabschluss etwas Geld geschenkt, das sie sich lange abgespart hatten. Einen Teil davon hatte sie genommen, um diese kleine Reise mit ihrer Freundin zu unternehmen. Sie hatten diese neue Freiheit genossen, tagsüber die Stadt und Umgebung erkundet und sich abends schick gemacht, um auszugehen. Eines Abends hatten sie an der Bar einer schäbigen Hafenkneipe gesessen und der Barmann hatte ihnen zwei Drinks vor die Nase gestellt.

„Ihr seid eingeladen“, hatte er gesagt.

„Auf Kosten des Hauses?“

Der Mann hatte gelacht. „Nein! Der Herr dort drüben am Tisch neben der Tür hat die Getränke bezahlt.“

Sie hatten sich zu dem Unbekannten umgedreht und er hatte ihnen zugelächelt. Das war der Moment gewesen, der alles in Dolores‘ Leben verändert hatte. Es war der Anfang vom Ende gewesen, wie sie heute wusste. Jetzt waren ihre Haare glanzlos und stumpf. Sie band sie jeden Morgen streng zu einem Zopf zurück. Auch in ihrem Gesicht hatte die Angst der letzten Jahre ihre Spuren hinterlassen. Ihre Mundwinkel hingen nach unten, ihre Augen waren leer und glanzlos, ihre Haut fad und blass. Sie wusste selbst, dass sie schrecklich aussah, doch es war ihr über die Jahre gleichgültig geworden. Sie ging selten aus dem Haus und traf nie andere Menschen. Und für ihren Mann wollte sie nicht attraktiv sein. Im Gegenteil: Je hässlicher er sie fand, umso weniger fasste er sie an. Nur manchmal kam es vor, dass er mitten in der Nacht, wenn er besoffen neben sie ins Bett kroch, über sie herfiel und sie zum Sex zwang. Doch die Jahre und der Alkohol hatten auch an ihm gezehrt und ihn ruhiger gemacht. Während er noch vor ein paar Jahren fast täglich Lust auf sie gehabt hatte, kam es jetzt nur noch selten vor. Sie war inzwischen so abgestumpft, dass sie es über sich ergehen ließ, wenn er sie vergewaltigte. Sie wehrte sich nicht, machte mechanisch die Beine auseinander und ließ ihn in sich eindringen. Es dauerte nur wenige Minuten. Sekunden später schlief er ein und schnarchte laut. Sie lag meistens die restliche Nacht wie gelähmt neben ihm und kam nicht zur Ruhe. Sie schlief generell nur wenig und erreichte selten den Tiefschlaf. Sie musste schließlich jederzeit bereit sein, Felix zu beschützen. Ihr Ein und Alles. Der einzige Grund, für den sie weiterleben wollte.

Er kam nun noch näher auf sie zu. Sie spürte seinen Körper und roch seinen fauligen Atem. Ihr wurde übel, ihr Magen zog sich zusammen. Er beugte sich zu ihrem Hals hinunter und leckte mit seiner Zunge darüber.

„Ich finde dich sehr unattraktiv, aber ich bin traurig und will, dass du mich heute Nacht tröstest!“

Erneut lief ihr ein unangenehmer Schauder über den Rücken. Sie empfand Ekel und wusste genau, was gleich passierte.

„Komm jetzt! Ich will, dass wir hoch ins Schlafzimmer gehen!“ Er zog sie am Arm und torkelte zur Tür. Ohne Mantel oder Stiefel abzulegen, schleifte er sie die Treppe hinauf zum Schlafzimmer.

„Öffne meine Hose und befriedige mich mit dem Mund!“, befahl er ihr. „Dann muss ich deine hässliche Fresse wenigstens nicht sehen!“

Sie tat, wie er ihr befohlen hatte und kniete sich nieder.

Haus der Vergangenheit

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