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Bei meinen Altersgenossen war ich schon von der Schule her sehr gut angeschrieben, besaß aber auch sonst so viel geselliges Talent, daß meine Gegenwart oder Abwesenheit bei Spielen keineswegs unbeachtet blieb. Eigentliche tägliche Kameradschaft hatte ich bis in mein zehntes Jahr nur mit einem Mädchen, Susanna, aus der nächsten Nachbarschaft, das acht Tage älter war als ich. Was habʼ ich nicht Susannas wegen gelitten! Das Mädchen war ein sehr hübsches Püppchen, alert im Umgange und eine Erzschmeichlerin, wenn sie es darauf absah, daß man ihr eine Gefälligkeit erweisen sollte. Hundert und hundert Male drückte sie meine Wangen mit ihren schmalen Händchen und sagte in einem Tone, dem ein Herz von Nagelfluh nicht hätte widerstehen können: «Du bist doch ein guter Hansli, lug, grad verschlucken möchtʼ ich Dich! Du Lieber! Nun, gelt, Du tust mir den Gefallen?» Die Dienste, welche sie von mir verlangte, bestanden mehrenteils darin, daß ich ihr die Schulaufgaben lösen sollte, welche samt und sonders sie gräßlich anwiderten. Ich hatte nie was dagegen, wenn sie bei mir blieb, bis die Sache getan war; wenn sie aber ihre Erholung unterdessen anders­wo suchen zu dürfen glaubte und ich sie etwa in ihrem kurzen Röck­lein mit dem zierlichen Windhaspel am besonnten Wiesenrand hinunterfliegen sah, während ich hinter den halbblinden, runden, in Blei gefaßten Scheiben für sie schwitzen sollte, dann geriet ich leicht so in Ungeduld, daß ich mich der Aufgabe eiligst entledigte, um auch meinen Windhaspel in Bewegung zu setzen. Wenn sie dann mit der Lösung in die Schule kam, die Fehler der Eile zu Tage traten und des Schulmeisters Rüge etwa gar in körperliche Züchtigung umschlug, womit gegen Fehlende nicht sparsam verfahren wurde, dann hätte ich Blut weinen mögen, mußtʼ ich mich selbst ja als den Schuldigen anklagen. Doch gehörten Bestrafungen durch meine Schuld zu den seltenen, häufiger wurde Susanna wegen ihrer in der Schule selbst bewiesenen Flüchtigkeit bestraft, und ich darf sagen, daß ich jede Strafe peinlich mitempfand und jedesmal klagte, sie nicht statt der Strafbaren allein erleiden zu können. In der Schule saß sie mir ihrer schlechten Note wegen zu fern, als daß ich ihr durch Ohrenbläserei hätte Beistand leisten können, nur beim Rechnen gelang es mir oft, durch eine einfache Fingersprache zu dienen. Da ich wohl wußte, daß es ihr an Naturgaben nicht fehlte, um das zu ermöglichen, was in unserer Schule durch unsern Felix gefordert wurde, so ermahnte ich sie oft zu größerem Fleiße. Dafür schalt sie mich einen «Langweiligen», und das ihr zu sein, war mir so schrecklich, daß mir darob viele der besten Ermahnungen im Schlunde stecken blieben. Ja, eines Tages erzählte sie mir als eine von der Großmutter gehörte Neuigkeit, daß durch Adams und Evas Sündenfall alles Böse in die Welt gekommen sei; sie ereiferte sich dann nachträglich nicht wenig über das «Lumpenpack», dem man es natürlich auch zu verdanken habe, daß eine Schule existiere!

In den Spielen mit andern Kindern hielten wir unverbrüchlich zusammen. Einmal geriet ich mit einigen arroganten Neulingen in Streit und schwur dann, vorläufig durchaus nicht weiter mitzuspielen. Susanna trat mir bei und wir kamen überein, in die Heidelbeeren zu gehen. Kaum aber hatten wir zu Hause unsere Körbchen geholt und waren einige Klafter weit weg, als der ganze Kreis sich löste und in Auflösung begriffen uns nachzog, selbst die Störenfriede nicht ausgenommen, nur mit dem Unterschiede, daß diese scheu und demütig auf bedeutende Distanz zuhinterst blieben. Der Weg an den Bestimmungsort war ziemlich lang und führte an schroffen Abgründen vorbei durch einen dunkeln Wald. Und schon auf halbem Wege sahen wir, wie grauschwarzes Gewölk sich in immer dichtern Massen bedrohlich zusammenballte, und hörten, wie schon vereinzelte schwere Tropfen fielen. Ein Gefühl des Er­bangens beschlich mich, wie ich es vordem noch nie gekannt hatte, und Susanna schmiegte sich in gleicher Ängstlichkeit an mich. Lautlos bewegte sich die ganze Schar vorwärts, der Wind aber toste heftig durch das Geklüfte, und einzelne Waldpartien erhielten jene weißliche Färbung, wie sie die Kehrseite der Blätter zeigt. Indessen des Windes Tosen stärker, das Geräusch der fallenden Tropfen hörbarer wurde, sagte Susanna mit plötzlichem Einfall: «Hör, Hansli, die Mutter hat schon gesagt, das Zanken sei Sündʼ und er­zürne Gott; denk nun, ob er nicht über uns böse sei, daß solches Wetter kommt?» Die Sache erschien mir wahrscheinlich genug. «Wir wollen beten», sagte ich. – «Meinst, das helfe?» erwiderte Susanna, schon halb mißstimmt, weil es sie an die Schule ge­mahn­te. «Allweg hilft das!» entgegnete ich, «wir wollen nur sofort anfangen, es müssen aber alle mitbeten. Hört!» rief ich, indem ich mich umwendete und ein wenig auf die Seite trat, «faltet die Hände, wir müssen beten oder das Wetter bringt uns um». Alle gehorchten aufs Wort. Ich trat wieder an die Spitze und betete ein langes Lied aus dem Gesangbuch laut vor. Wir waren in feierlichster Stimmung, ja selbst die Stimmen der übrigens recht harthölzernen Störefriede hoben sich gar vernehmlich heraus, und welchem ein tüchtiger kühler Tropfen auf dem Kopfe zerplatzte, dessen Stimme wurde einen Augenblick lauter, flehentlicher. Aber alle trugen sich mit der gewissen Zuversicht, daß es helfen werde. Wir waren jetzt mitten in den Wald und mit dem Liede zu Ende gekommen und hatten eine Strecke weit weder Wolken noch Himmel gesehen, nur des Sturmes Wehen hatte fort und fort um unsere Ohren gebraust. Wie freudiggroß war drum unsere Überraschung, als mit einemmale der tiefblaue Himmel durch die Bäume schimmerte und bald die mit Farrenkraut und Heidelbeerstauden bewachsenen Abhänge im vollsten Sonnenglanze vor uns lagen. Ja, da nahm Susanna meine Backen auch wieder zwischen die schmalen Hände und sagte so schmeichelnd, so schmeichelnd, wie nur sie es konnte: «Du bist doch ein guter Hansli!» Und da sie wußte, daß ich nicht der flin­kes­te Pflücker war, so half sie mir und warf je ihr drittes Händ­chen voll in mein Körbchen und doch war das ihrige noch vor dem meinigen gefüllt.

Um mein achtes Jahr erschien das erste von den Büchlein Zellbergers, welches in der Mundart geschriebene Szenen aus dem Volksleben enthielt. Man riß sich um den Kalender, der einige Proben daraus mitteilte, und wer es verstand, diese in dramatischer Form gehaltenen Schilderungen des unmittelbarsten, wirklichsten Lebens verständlich vorzutragen, der hatte an fröhlichen Zuhörern keinen Mangel. In Grünau wurden sie besonders gut aufgenommen, weil, wie man wähnte, in einem der Stücke eine Grünausche Persönlichkeit mitspielte, mithin auch der Dialekt rein der Grünausche war. Peters Jakob brachte die erste Nachricht von ­dieser Novität zu uns und schalt den Verfasser scherzweise einen «Leckers­bub», der die Leute «mordsdings» auszuschänzeln wisse. Meines Vaters Neugierde hielt sich jedoch soweit in gemessenen Grenzen, daß er, zufällig bereits im Besitze eines neuen Kalenders, sich nicht so hoch verstieg, der lustigen Stücklein wegen noch für einen zweiten Kalender einen Batzen auszuwerfen, geschweige denn, das ganze Büchlein zu kaufen. Ich hielt daher bei Peters Jakob an, daß er es über sich nehmen wolle, mir das außerordentliche Vergnügen zu verschaffen, und er brachte mir wirklich das Büch­lein irgend woher geliehen. Freudig, bevor ich zu lesen anfing, setzte ich Susanna davon in Kenntnis, und da ich ihr weis machen konnte, daß diese Leserei mit der obligatorischen in der Schule nicht die geringste Ähnlichkeit habe, so verstand sie sich dazu, meiner Vorlesung beizuwohnen. Wie sehr aber täuschte ich mich über den Erfolg! Ich hatte das Idiom noch nie geschrieben gesehen und verstand durchaus nicht, es zu lesen. Die Stube war von Leuten ganz gefüllt, welche alle auf das Wunder mehr oder weniger gespannt waren, und ich schämte mich auf den Grund der Seele, auch nicht eine einzige Zeile fertig lesen zu können. Was da gerutscht, gegähnt, geräuspert wurde, ist nicht auszusprechen, und endlich sagte der Vater, um die armen Seelen aus ihrer Pein zu erlösen: «Hansli, steck auf, selb ist jetzt das langweiligste Zeug, das ich schon gehört habe.» Jedermann stimmte bei, Susanna aber, die an meiner grünen Seite saß, war bei ihrem guten Gewissen sanft und selig eingeschlafen. Ich hatte sie noch nie schlafend gesehen, und sie erschien mir jetzt so fremdschön, daß ich über dem Genuß ihres Anblicks der erlittenen Beschämung völlig vergaß und es nicht im Geringsten übel nahm, als ein blasser Webergeselle mir das Büchlein aus den Händen nahm. Doch nun, was geschah? Während ich mich unverwandt an Susannas großen geschlossenen Wimpern und dem leicht geöffneten Rosenmunde weidete, begann der Webergeselle zu lesen und das hieß wohl mit neuen Zungen geredet, denn nun klang alles so real und natürlich, so fein der Wirklichkeit abgelauscht und dabei so komisch und spaßhaft, daß die ganze Gesellschaft zu «pfuttern» und zu lachen begann. Ich traute meinen Ohren nicht, der blasse Webergeselle erschien mir wie ein Geisterbeschwörer. Selbst Susanna erwachte und lachte mit. Nachher machte ich wiederholte Versuche, es dem Webergesellen gleichzutun, erreichte aber immer sehr unbefriedigende Resultate und verlor mittlerweile allen Ge­schmack an Zellberger.

Unendlich erhabener erschienen mir die Christoph Schmidschen Geschichten von Rittern, Räubern, biderben Förstern und ehrlichen Untertanen, aus denen auch Susanna sich willig erzählen ließ. Doch, da sie einmal zugegen gewesen, als unsere Väter die Wahrheit der Geschichte des «Heinrich von Eichenfels» in Frage stellten und im allgemeinen meinten, derartige Geschichten seien nur von Studenten ersonnen, die noch nichts besseres zu leisten im Stande wären, so ward mir Susanna mit ihren Zweifeln in der Folge sehr lästig und ich schluckte ihrem Gesichtchen zu lieb manchen bitteren Ärger still hinunter. Als sie jedoch dieselben Zweifel gegen meine liebste Geschichte, gegen «die Beatushöhle», aufwarf, da geriet ich so in Eifer, daß ich ihr mit strengem Wort es freistellte, entweder ihre Äußerung zurückzunehmen oder unsere Stube zu verlassen. Sie zog letzteres vor, wußte aber ihrem Lärv­chen einen Ausdruck zu verleihen, der mir das Behagen an meiner Superiorität meisterlich versalzte.

Es dürfte nun bald scheinen, als hättʼ es mir an literarischen Ergötzungen ganz und gar nicht gefehlt und wäre mir allezeit ein Bibliotheklein auserlesener Sachen zur Verfügung gestanden. Dem war aber leider nicht so; ich besaß nur zwei kleine Büchlein eigen, alles übrige mußte ich geliehen zu bekommen suchen und was ich dabei für Not hatte, das weiß nur ich und der liebe Gott. Die Leute waren sehr ungefällig gegen den kleinen Knirps und es kostete manchmal Tränen, bis man mir den Reutlinger Artikel für ein paar Tage überließ. Dasselbe war z. B. der Fall, als ich die Spur zur «Beatushöhle», welche ein Schneiderjunge besaß, gefunden hatte. Es war an einem Wintersonntagnachmittag, als ich den glück­lichen Besitzer aufsuchte, der, als ich kam, eben selber in dem teuern Büchlein las. Ich brachte mein Anliegen vor, allein der flegeljährige Junge sah mich spöttisch an und meinte, was ich denn nur davon verstehen könnte, der ich noch nicht größer sei als ein Elggermannli (ein unter diesem Namen bekanntes Backwerk in menschlicher Gestalt)! Ich bat, es auf die Probe ankommen zu lassen, worauf der Junge einging; nachdem ich aber meine Sache befriedigend abgemacht, bemerkte er, er selbst sei noch nicht ganz mit dem Lesen zu Ende, falls ich indessen darauf warten möge, so habe er nichts dagegen, doch dürfe ich nicht in der Stube verweilen, weil er es liebe, beim Lesen allein zu sein.

Ich war völlig zufrieden, es nur so weit gebracht zu haben, und verließ die Stube, um in einem angebauten Holzschuppen zu warten, bis der Schneiderjunge durch verabredetes Klopfen mir das Zeichen zum Wiedereintritt gebe. Es war sehr kalt und ich trug ein sehr dünnes Gewändlein. O was fror michʼs zwei Stunden lang und das Klopfen wollte noch immer nicht erfolgen! Der Schuppen lag gegen eine steile Hügelseite, dem Sonnenlicht kaum im höchsten Sommer zugänglich; jetzt schimmerte der bläuliche, staubig gefrorene Schnee durch die weitoffenen Bretterfugen der Wand und auch auf den Querbalken derselben lag bei jeder Fuge ein Häufchen hereingewehten Schnees, und im Schuppen stand eine Anzahl Holzblöcke, an welchen der Schnee seit dem Transport noch klebte. Ich bekam den sogenannten Kuhlnagel an Fingern und Zehen dermaßen, daß ich vor Schmerz die Zähne aufeinanderbiß und eine grausame Kälte durch meinen Körper rieselte. Aber ich hielt aus, es hätte mich gewiß eher mein Leben gekostet, als daß ich auf die verheißene «Beatushöhle» verzichtet hätte. Es war Nacht und immer kälter geworden, als das Klopfen endlich erfolgte und ich steif wie ein gefrorenes Hemd zur Türe hereinstakelte. Da wollte der Junge erst noch Umstände machen und es bedenklich finden, mir das köstliche Büchlein anzuvertrauen, von dem vielleicht in der ganzen Schweiz kein zweites Exemplar zu finden wäre. Doch überwog schließlich sein Menschlichkeitsgefühl und ich erhielt das Büchlein. Selig wackelte ich nach Hause in die warme Stube und bat die Mutter, ein Licht an­zuzünden und den Tisch herunterzulassen, der mit Zapfen in ­Leisten an die Wand befestigt war und nach dem Essen allemal aufwärts an die Wand gelegt und mittelst eines Riegels festgemacht wurde. Die Mutter, selbst begierig, das berühmte Büchlein zu sehen, entsprach meinem Verlangen sogleich, ich aber fühlte erst jetzt in der Wärme die volle Stärke des Kuhlnagels und las der Mutter heulend die erste Seite vor.

Es wolle indessen auch niemand wähnen, ich hätte meine freie Zeit, das heißt, die Stunden außer der Schule, lediglich auf Spiele und Liebhabereien irgendwelcher Art verwenden gedurft; diese glückliche Zeit war für mich vorbei, bevor sie eigentlich dagewesen war. Mit dem siebenten Jahre kam ich in die Schule; daß ich aber mit dem achten schon für die Weberei der Mutter Garn spulen mußte, ist mir in frischester Erinnerung geblieben, dieweil mir die Spulerei entsetzlich zuwider war. Der eigentümliche säuerliche Geruch des nassen Einschlages wie des trockenen gesteiften Zettels fährt mir bei jedem Gedanken daran in die Nase. Für jeden Tag war mir eine bestimmte Partie des Garnes zugeteilt, welche unbedingt gespult werden mußte; diese Partie nannte man «Rast», ein Wort, das mir so oft den Atem stocken machte. Alles Widerstreben half nichts, man nahm mir meine Büchlein weg und sparte im äußersten Fall auch körperliche Züchtigung nicht. Meine Mutter war eine seelengute Frau und der Vater besaß auch eine ziemlich weitgehende passive Güte, was beide von roher Behandlung ihrer Kinder zurückhielt; allein hinsichtlich der den letztern zugedachten Arbeitspflicht konnten sie sehr hart sein, da ihnen eben die zu körperlicher und geistiger Entwicklung so nötige Freiheit ein Ding war, von dem sie in ihrer eigenen Jugendzeit nichts erfahren hatten. Wenn es denn doch unter hundert Malen einmal vorkam, daß mir der Rast ganz oder teilweise geschenkt wurde, so machte der Fall Epoche in meinem kleinen Leben, wie der Meilenstein in öden Weiten, der zugleich als Ruhebank hergerichtet ist.

Eines solchen Falles erinnere ich mich von dem Tage einer außerordentlichen Landesgemeinde, welcher auch mein Vater beiwohnte, doch keineswegs von politischen Motiven, sondern lediglich von Neugierde getrieben. Er las keine Zeitung und bekümmer­te sich um die Welthändel rein nichts. Es hatte sich aber das Ge­rücht verbreitet, man werde die in der Nähe des Landsgemeindeplatzes befindliche mechanische Webefabrik, welche den Erwerb der Hand­werker zu Grunde zu richten drohe, in Brand stecken, und dieses große Feuerlein nun wollte mein Vater auch gerne sehen. Da dieser Tag halb als allgemeiner Festtag galt, so ward mir ein sehr mäßiger Rast aufgegeben, mit dem ich leicht schon vormittags hätte fertig werden mögen, wäre nicht mein Fleiß durch festliche Einflüsse beeinträchtigt worden; nun aber verblieb der größere Teil noch für den Nachmittag. Plötzlich, als mir schon bange zu werden anfing, ich dürfte den Rast gar nicht fertig bringen, kam die Nachricht von dem wirklich stattgehabten Brande und von der zahlreichen Gefangennahme verdächtiger Individuen. Diese Nach­richt wurde durch direkt von der Landsgemeinde Zurückkehrende ge­bracht, und diese sagten zugleich, daß sie nicht wenig Bekannte unter den Verhafteten auf Wagen gebunden gesehen, und unter diesen Bekannten befand sich namentlich auch Susannas Vater. Nun entstand großes Wehklagen unter den Weibern und Kindern und die Mutter sagte, ich dürfte jetzt zu spulen aufhören und mit ihr auf den Grat gehen, von wo man fernhin auf die Straße hinaus­sah, zu sehen, ob die Mannen endlich kommen und ob der Vater auch dabei sei. Wie sehr versüßte mit der geschenkte Rast die bittere Nachricht! Meine Tränen flossen fast nur anstandshalber und waren ziemlich reine Freudentränen. Da ich des Vaters passive Art kannte, so hatte ich eine gewisse Ahnung, er habe sich an dem Verbrechen in keiner Weise beteiligt, und es könne ihm also nichts Böses geschehen. Und meine Ahnung betrog mich nicht, denn ums Zunachten kam der Vater mit drei andern Nachbarn über den Steg, wir kannten ihn von weitem an seinen Kniehosen, welche in der Nachbarschaft nur noch er, Peters Jakob und Susannas Vater trugen. Wir Kinder eilten den Willkommenen entgegen, ich freudig, Susanna aber in Tränen zerfließend. Denn da ihr Vater nicht mit dem meinigen zurückkam, wie er mit fortgegangen, so mußte das Gerücht Grund haben. Und ja, mein Vater selber hatte ihn nebst einigen andern auf einen Wagen rückwärts an die Leiter gebunden gesehen. Das wollte mir um Susannas willen das Herz zerreißen, ihre kleine zartgebaute Mutter fiel in Ohnmacht. Der Vater er­zählte nun, daß mehrere Wagen voll Verdächtiger nach der Stadt geführt worden seien, von welchen die größere Zahl bloß wegen zu lauten Freudenbezeugungen über die angenehme Wärme, welche der Brand an dem kalten Novembermorgen verbreitete, abgefaßt worden seien. Dabei habe man es hauptsächlich auf die Kniehosen abgesehen, weil der großmaulige, auf der Tat ertappte Hauptstifter solche Hosen getragen. Deshalb habe auch ihn, den guten, ganz gewiß unschuldigen Vater, mehr als ein Polizeispion mit lüsternem Blick gemessen und von mehr als einer Seite habe er die Diener und Speichellecker der Gerechtigkeit sich zurufen gehört: «Auf die Kniehosen, da trifft man die Rechten!» Mein Vater betrachtete es als einen Beweis der göttlichen Vorsehung, daß er ungeachtet dieses verpönten Kleidungsstückes frei zurückkehren gekonnt, ließ dann jedoch, um Gott seine Vorsehung etwas zu erleichtern, sofort lange gewöhnliche Hosen anmessen. Von der Landsgemeinde, der er wunderswegen doch auch ein Weilchen beigewohnt, wußte er nichts zu berichten, und wenn später des vielgenannten Tages ge­dacht wurde, so meinte er: «Ja, ja, das ist halt eine Weltsbrunst gewe­sen!» Susannas Vater kam am dritten Tage wieder heim, und auch er, der sich verschwor, nur seiner malefizischen Kniehosen wegen attrappiert worden zu sein, legte dieselben für immer ab.

Wo ich mich immer wohlbefand, das war in der Schule, und ich war auch so glücklich, nie durch Verwendung für ökonomische oder andere Zwecke am Schulbesuch verhindert worden zu sein, wie solches in andern Haushaltungen oft der Fall war. Der Vater war als ein rechtschaffener, gesetzmäßiger Mann bekannt und er wollte nicht derjenige sein, der den alten Namen der Familie Grünauer irgendwodurch in Mißkredit brächte. Hatte er kein Streben nach Auszeichnung, so hatte er doch eine gewisse Furcht vor einer solchen und es war sein bewußtes Bemühen, stets zur Sahne und nicht zur Hefe der Bevölkerung Frühblumens zu gehören. Daß mein älterer Bruder die schönste Handschrift führte, daß ich unter Lob und Preis von zweiundvierzig Hoffnungsvollen zu oberst saß und daß mein jüngerer Bruder auch allbereits seine Mücken tanzen ließ, das alles konnte dem Vater recht wohl behagen, und er pflegte etwa, den Ursprung so beträchtlicher Grütze andeutend, schmunzelnd zu sagen: «Der Ungeschickteste in meinen Schuljahren hat auch nicht Heinrich Grünauer geheißen.» Diese Eitelkeit trug also wesent­lich dazu bei, daß der Vater sich unserer Schwachheit erbarmte und auf den Bettel verzichtete, den er allenfalls mitunter durch anderweitige Verwendung unserer Kräftlein hätte profitieren können. Daß er sich aber hätte beifallen lassen, ein mehreres zu tun, könntʼ ich nicht sagen. Als sich z. B. der Schulmeister erbot, Privatstunden zu geben, in welchen vornehmlich Rechnen und schriftliche Arbeiten einläßlicher gelehrt würden, und, falls sich nur ein halb Dutzend dabei beteiligen würde, das Honorar für den jedesmaligen Unterricht von zwei bis drei Stunden auf nur einen Schilling oder sechs Centimes per Kopf festsetzen wollte, so war mein Vater keineswegs resolviert, diesen Schilling auszuwerfen, sondern wir mußten, wenn wir an diesem Unterrichte teilnehmen wollten, suchen, besagten Schilling extra selber zu verdienen, was mir etwa durch forciertes Spulen, Kräuter- und Schneckensammeln und dergleichen möglich wurde. So wohnte ich diesem Unterrichte, den mein guter Felix an den Sonntagabenden erteilte, regelmässig bei, verdankte jedoch demselben blutwenig, lernte nicht nur nichts neues, sondern auch nichts eigentlich gründlicher. In den schriftlichen Übungen tat ich es dem Schulmeister zuvor und im Rechnen war er so unsicher, daß er manch gegebenes Beispiel wieder zurücknehmen mußte, weil er die Lösung so wenig finden konnte, als seine Schüler.

So kam die Zeit nur zu bald, daß ich meiner Schule entwachsen war. Ich hatte in vier Jahren zwei Klassen überholt und brachte die zweite Hälfte des fünften Schuljahres ziemlich nutzlos hin; der Schulmeister wußte mich nicht mehr angemessen zu beschäftigen und meine Gegenwart begann ihm lästig zu werden. Er verwendete mich meist für Gehilfendienste und ließ mir daneben freie Wahl unter den Selbstbeschäftigungen. Solcherweise versteckte er seine wissenschaftliche Blöße hinter seine mir von jeher bewiesene Ge­wo­genheit.

Mit Beendigung des fünften Schuljahres war ich elf Jahre alt geworden und hätte laut Gesetz die Primarschule noch ein Jahr besuchen sollen. Allein die Prüfung bewies, was der Schulmeister dem Herrn Pfarrer bereits vorhergesagt hatte, daß für mich bei dem allgemeinen Unterricht nichts mehr zu holen sei, und ich wurde entlassen. Dieses Scheiden tat mir weh, ich sah mich nicht in Freiheit gesetzt, sondern ausgestoßen; wie beneidete ich Susanna, die sicher war, noch ein ganzes Jahr sitzen zu können; ihr gegenüber kam ich mir vor, wie einer, der seinen Leckerbissen zu rasch verschlungen, während der andere ihn weislich abgeteilt, um sich länger daran gütlich tun zu können. Aber auch aus einem andern Grunde, und aus diesem ganz besonders, tat es mir weh, die Schule mit dem Rücken ansehen zu müssen. Ich fühlte nämlich, wie elend und nichtig meine Kenntnisse waren; wimmelte es doch von Frage­zeichen in meinem Kopfe, auf welche ich ums Leben gern die Antworten vernommen hätte, und wer sollte sie mir geben, wenn der Schulmeister nicht der Mann war dazu? So sehr die Erfahrung mich vom Gegenteil hätte überzeugen sollen, so trug ich doch zum Schulmeister die Zuversicht in mir, daß er, falls der Unterricht es nur mit sich brächte, auf alle, alle Fragen richtigen Bescheid zu geben wüßte. Und wie lieb war mir der redliche Felix als Mensch! Das Herz jauchzte mir, wenn ich nur einen Zipfel sah von seiner Plattmütze mit dem tief ins Gesicht fallenden Schirm, wenn ich ihn an seinem stelzigen Gang von weitem erkannte oder seine gemütlich heisere Stimme hörte, besonders sein Lachen, das nicht im mindes­ten geziert war und leicht hervorgelockt wurde. Gemütlicheres konnte es ja gewiss nicht geben, als wenn der Schulmeis­ter mit seinen Schülern bei dem Lesen der Episode aus Pestalozzis Lienhard und Gertrud, wo Maurers Heireli am Hag sitzt und sein Brot zwischen der Ziege und dem armen Betheli teilt, dann plötzlich mit dem Rufe aufspringt: «Da ist nicht gut Wetter!» weil er sich unachtsamerweise in die Ameisen gesetzt hatte – wenn, sage ich, der Schulmeister mit seinen Schülern aus vollem Halse lachte, wie solches unter Felix auch nach wiederholtem Lesen besagter Episode der Fall war.

Nun es war nicht zu ändern, ich mußte der Schule Lebewohl sagen. Wohl weiß ich noch, mit welcher Betrübnis ich meine Tafel und übrigen Habseligkeiten zum letztenmal vom Gestell unter der Schulbank hervorzog und wie wehmütig ich von den grauen Wänden Abschied nahm, die mich künftighin nur noch als Repetierschüler wöchentlich einen Tag lang umfangen sollten. Selbst meinen Eltern war mit meiner Entlassung kein großer Dienst geleistet, weil ich für Arbeiten von einigem Krafterfordernis noch zu schwach war. Deshalb schickte man mich, als der neue Schulkurs begann, nochmals in die Schule, mit der Anweisung, der Schulmeister möge mit mir anfangen, was ihm gut scheine. Aber derselbe nahm mich kalt auf, er wußte in der Tat nicht, was er mit mir anfangen sollte, und ich selber kam mir dann auch so überzählig vor, daß ich gar nicht erschrak, als der Schulmeister nach ein paar Tagen sagte: «Hans sagʼ Deinem Vater, es tue mir leid, Dich nicht länger kommen lassen zu dürfen, es störe meinen andern Unterricht und er solle nur zufrieden sein mit dem, was Du in der Schule erlernt hast; es bringt unter hundert Schülern kein zweiter so viel mit sich heraus. Und lug, Hans, Du hast ein Köpflein, das kenne ich. Aber habe nur Geduld: unsere Gemeinde bekommt vielleicht schon nächstes Jahr eine Sekundarschule, in dieselbe muß Dich dann Dein Vater schi­cken, das will ich schon richten.»

Mit diesem Berichte kam ich nach Hause; der Vater lächelte gleich­gültig dazu und sagte kein Wort.

Hans Grünauer

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