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Mein blasses, sehr schmächtiges Aussehen, zu welchem ich nach und nach durch beständige Stubenhockerei und tödliche Langweile gelangte, vermochte endlich, den Vater um meinen Zustand besorgt zu machen. Er fragte mich ein paarmal beiläufig, woher es komme, daß ich so ein Buttermilchgesicht mache? Meine Antwort lautete unbestimmt, da ich von keinen örtlichen Leiden, mit Ausnahme nicht seltenen Kopfwehs, wohl aber von allgemeinem Un­wohl­sein sprechen konnte. Es war ihm nicht recht dabei, ob­gleich er vor mir keine Besorgnis blicken lassen wollte. Daher brachte er eines Tages etwas in einer kleinen Düte nach Hause; das sei gut gegen Würmer, deren ich ohne Zweifel eine schöne Portion im Leibe habe. Das interessierte mich wenig, denn Gesundheit war mir bei meiner großen Trübsal Nebensache. Aber der Vater hatte noch etwas anderes heimgebracht, nämlich ein Buch, betitelt: «Sitten und Meinungen der Wilden in Amerika». Er hatte es bei dem Apotheker, wo es zu Düten bestimmt gewesen, für einen Schilling gekauft. Es enthielt mehrere Kupfer, war aber nur der zweite Band eines größeren Werkes. Es läßt sich denken, mit welchem Heißhunger ich darüber herfiel und wie sonderbar lieb mir der Vater an diesem Tage war. Er hatte aus instinktivem Erbarmen diesen Schilling ausgeworfen und kümmerte sich einmal nichts darum, was die Mutter zu dieser Dummheit sagen möge. Überdies erzählte er mir von des Apothekers Bücherei, welche auf einmal wegzuziehen des Müllers sechs Pferde noch zu schwach wären. Er erzählte mir auch vom Apotheker selbst, dessen Vergangenheit mehr dunkle als lichte Stellen zeigte. Nicht nur redete man ihm nach, daß er in seinem Berufe Prellerei und Betrug mit Vorliebe kultiviere, sondern man sagte auch, er verstehe sich gleich den Juden aufs Beschneiden von Gold- und Silbermünzen, und daß er nebst seinem Bruder wegen Falschmünzerei bereits einmal zwei Jährchen gesessen hatte, war bekannt. Zu alledem passierte er als ein Meister in der Hexerei, welch edle Kunst er auch keineswegs ausschließlich zum Wohle seiner Nebenmenschen in Anwendung bringen mochte. Davon redete mein Vater mit geziemender Scheu und meinte doch, wenn er sich etwas von Haggers Kenntnissen erwerben könnte, so wollte er einige bewährte Sympathiestücklein allem andern vorziehen. Mich reizte in erster Linie nichts als die Bücherei und es tat mir wohl, in der Gemeinde einen solchen Schatz zu wissen, wenngleich selbiger für den Anfang noch so unzugänglich schien, wie derjenige in der afrikanischen Höhle Xaxa. Von nun an ging ich auch ein wenig lieber zur Kirche, denn des Apothekers Haus stand nahe dabei und ich sog die Luft dieser geweihten Nähe ein, wie der Diamant das Licht, daß mir durch die ganze Woche das Atmen ein wenig leichter war. Ich war auch einmal im Begriff hineinzugehen, aber ich erwog meine Armut und kleine Person und trat blöde an der Schwelle wieder zurück.

Die nächste Zeit ließ sich im Ganzen nicht schlimmer an, ja sie leistete sogar den Beweis, daß auch dem Vater nicht all und jedes literarische Interesse abzusprechen sei. Ein Verwandter hatte ihm als größte Seltenheit das «Evangelium Nikodemi» in die Hände gespielt. Da verstieg sich der Vater zu dem heroischen Entschlusse, den Jakob für längere Zeit von der Spulerei zu dispensieren, um durch dessen niedliche Hand das rare Opus von A bis Z kopieren zu lassen. Mit höchsteigener Beflissenheit heftete er aus gut bezahltem Papier eine Broschüre in Oktav zusammen, ließ für einen Schilling Tinte kaufen und begünstigte den drei Fuß hohen Kopisten mit energischem Vortritt. Solches verlief sich, da die Schule deswegen nicht versäumt werden durfte, durch mehrere Wochen, aber es wurde zu Ende geführt und der Vater legte alsdann das kostbare Manuskript zu andern wohlverwahrten Schriften. Gleicherweise wurde Jakob um diese Zeit dazu angehalten, die Hausmittel einer Somnambüle abzuschreiben und der tapfere Kalligraph über­nahm es, diese Abschrift in Fraktur zu machen, wie weiland Onkel Hans die Nachtmahlbüchlein.

Ein anderes Ereignis bestimmte den Vater endlich noch, eine Zeitung zu halten, und da er dieselbe nicht zu lesen verstand, so wurde ich zum Vorleser bestimmt. Das Blatt war ein konservatives und schimpfte weidlich auf seine radikalen Gegner. Die brennende Tagesfrage selbst war religiös-politischer Natur und wurde so ernst verstanden, als handle es sich von Seiten der Regierung um Niederreißung der Kirchen und Abschaffung, wenn nicht jeder, so doch der christlichen Religion. Diese Religionsgefahr machte dem Vater großen Kummer und er gestand seufzend, wenn es Gott gefiele, uns Kinder noch zur Zeit bestehenden Christentums abzu­ru­fen, so tätʼ es seinem Vaterherzen zwar weh, aber er könnte doch der göttlichen Fürsorge nur Dank sagen. Ja, er ging von seiner frü­hern neutralen oder passiven Weise so weit ab, daß er wiederholt zu den Nachbarn bemerkte, das beste wäre, wenn man den Anstifter solchen Unheils erwischen und heimlich auf die Seite schaffen könnte. Gefahr und Kampf nahm täglich zu, offizielle und andere Erlasse, oft umfangreiche Broschüren, traten sich schier auf die Fersen und ich hatte meine herzinnige Freude, so viel Neues zu bekommen. Da das Fremdwörterlesen niemand in Frühblumen so los hatte, wie ich, so glich unsere von Nachbarn oft gefüllte Stube manchmal einem kleinen Hörsaal, und des Professors an Schnitzern reiche Fertigkeit erntete vielstimmigen Beifall.

An einem Donnerstagabend zu Anfang des Herbstes, auf welchen wieder eine Lesestunde angesagt war, kamen plötzlich schlimme Berichte. Es hieß, die Regierung habe sich nach Sukkurs in andern Kantonen umgesehen, um das Häuflein der Gläubigen zu überrumpeln, und es seien bereits etliche tausend der anti-christlichen Helfershelfer im Anzug. Alles lief zusammen, unerhörtes Wehklagen von Weibern und Kindern entstand. Eine Botschaft des Komitees der Gläubigen forderte zum Landsturm gegen die Regierung auf, und von dem im gleichen Tale liegenden Kirchdorfe Wildungen hörte man schon die dumpfen Klänge der Sturmglocken. Nun holte der Vater in Gottes Namen die einzige, gutgeölte Flinte aus dem Gaden, Bruder Kaspar wählte sich einen Bengel aus Eichenholz und beschlug das eine Ende desselben mit langen Nägeln, daß eine Art Morgenstern daraus wurde. Mit diesen Waffen auf den Schultern nahmen sie schluchzend Abschied und traten in die dunk­le Nacht hinaus, wo sie zum allgemeinen Sturmhaufen stie­ßen. Bei der Menge wuchs der Mut, der Mut des Glaubens wie des Fanatismus. Was sich an erwachsenen Mannspersonen auf der Straße und in den nächstliegenden Häusern fand, wurde unnachsichtlich genötigt mitzukommen, indem man allen Zurückbleibenden den Tod drohte. Nur einige der Feigsten vermochten dem Verhängnis dadurch zu entgehen, daß sie das Zurückbleiben etlicher bewährten Christen zu Rat und Schutz der verlassenen Weiber und Kinder als notwendig darzustellen wußten. Den folgenden Morgen war Frühblumen wie ausgestorben, alle Feldarbeiten ruhten, nur einzelne Kinder schlichen wie verjagte Wespen unter den Bäumen dem gefallenen Obste nach. Gegen Mittag liefen die Weiber lauschend zusammen, ob noch keine Berichte eingegangen seien. Bald brachte ein Bote von Wildungen die Nachricht, es habe zwischen den Landstürmern und den Regierungstruppen einen Kampf abgesetzt, in welchem es eine bedeutende Zahl Verwundeter und Toter gegeben. Welch Lamento nun entstand, läßt sich denken. Endlich, noch vor Sonnenuntergang kamen zwei der Ausgezogenen zurück, es waren der Schulmeister Felix und sein nächster Nachbar. Diese sagten, es habe gefehlt, die gottlose Regierung habe mit Kanonen unter die Frommen schießen lassen, wodurch dieselben furchtbar dezimiert worden seien. Sie selber hätten sich, sobald sie eingesehen, daß es gefehlt, davon gemacht, um ihr Blut nicht nutzlos zu verspritzen. Ein altes Großmütterchen, das lange Jahre in der Stadt gedient, fragte, in welchem Stadtteile sich der Kampf entsponnen habe. Da wußten die Helden keinen Bescheid und mußten gestehen, daß sie vorsichtig, nur vom Berge in die Stadt geschaut. Um zehn Uhr nachts kamen die meisten zurück, auch mein Vater und der Bruder, die Taschen mit Weißbrötchen voll gestopft, deren ein frommer Bäcker in Wildungen zu Hunderten gratis an die heimkehrenden Glaubenshelden ausgeteilt. Sie kehrten als Sieger zurück, da die Regierung plötzlich es für gut gefunden, abzudanken. Mein Vater war mitten im Auflauf gewesen und hatte seinen Schuß, den er schon zu Hause geladen, auf einen Dragoner abgefeuert, einen zweiten zu laden, hatte er bei der Schnelligkeit, mit welcher der Kampf vorüberging, nicht Zeit gehabt; aber er freute sich übermässig, daß es ihm mit dem einzigen Schusse möglich gewesen, dem Antichrist eines aufs Fell zu brennen. Nebenbei ärgerte er sich, daß selbst an Ort und Stelle gerade die Frömmsten nicht vorwärts gewollt, deren er sogar einige nach dem Kampfe unter abseits gestandenen Lastwagen hervorkriechen gesehen.

So ging diese gefahrvolle, für mich so angenehme Zeit, nachdem sie viele Monate hindurch alle Gemüter in steter Aufregung erhalten, glücklich vorüber und der Vater schaffte nun die Zeitung wieder ab, auch erschienen bald keine Flugschriften mehr und ich wurde nicht mehr vom Webstuhl weg zum Vorlesen gerufen. Eine schreckliche langweilige Friedenszeit. Der alte gewaltige Widerwille gegen die Weberei regte sich mit verdoppelter Stärke und die Sehnsucht nach Büchern nahm all mein Sinnen gefangen. In dieser Not überwand ich endlich die Scheu, den Apotheker Hagger zu besuchen und ihn um gütiges Darleihen von seinem Überflusse anzugehen. Ich fand dann auch trotz meiner kleinen Person leidlich Erhörung und erhielt eine alte defekte Naturhistorie mit unbeholfenen Figuren und gelehrten weitschweifigen Anmerkungen. Damit war doch ein vielverheißender Anfang gemacht.

Hagger war eine sehr originelle Persönlichkeit. Als ich ihn kennen lernte, zählte er schon einige und sechzig Jahre; er war von hohem Wuchse, dürr und dünn; vom gebeugten Scheitel fielen die schneeweißen Haare lang und dicht herab, die er im Sommer und im Winter, zu Hause und im Freien unbedeckt trug; aus dem länglichen Gesicht sprang eine etwas rötlich angelaufene, ziemlich starke Nase hervor, unter buschigen Wimpern glänzten stetsbewegt kleine braune Augen, die er, flüchtige Momente ausgenommen, stets auf den Boden oder auf andere tote Gegenstände gerichtet hielt; er trug Kniehosen und Schnallenschuhe, einen Rock sah ich nie auf seinem Leibe und nur bei der strengsten Kälte ein gestricktes Wams, sonst ging er stets in bloßen Hemdärmeln und weit offener Weste, ohne Halsbinde. Seine Stimme näselte stark, er sprach langsam mit dem Ausdruck der Überlegenheit und Autorität; er sprach gerne, wenn man ihm ruhig zuhörte; Widerspruch ertrug er nicht leicht und pflegte dann entweder zu verstummen oder heftig zu werden. Er war verheiratet, lebte aber von seiner Frau getrennt mit einer Tochter zusammen, während seine Frau seinem jüngern Bruder die Haushaltung führte. Wie er in Grünau nicht seinesgleichen hatte, so stand er auch in gesellschaftlicher Hinsicht isoliert da; er besuchte weder Gemeinde- noch andere Versammlungen und lud niemand zu sich ein; Bücher und geheime Künste genügten ihm. So traf ich ihn an den Sonntagabenden, wenn ich aus der Kinderlehre kam, regelmäßig allein in der Stube hinter einem Buche sitzen und dieses Buch war in den meisten Fällen ein lateinisch-griechisches Testament, das er beständig auf dem Tische liegen hatte. Anfänglich zeigte er sich sehr einsilbig, bemerkte auch etwa ungehalten, ob ich denn glaube, er habe allezeit Bücher, die für mich paßten? Ich sei zu solchen Sachen wohl noch zu jung und müsse vorher mehr als das Waserbüchlein lesen gelernt haben. Als es mir je­doch geglückt war, ihm eine bessere Meinung von meiner Lesefertigkeit beizubringen, da wurde er merklich umgänglicher. Er er­zählte oder machte mir allerlei Mitteilungen, meist aus dem Ge­biete der Naturwissenschaften und Medizin, aber mit Vorliebe hielt er sich an Kuriosa von der Schattenseite der Naturerscheinungen. Was konnte auch geeigneter sein, meine jugendliche Neugierde zu fesseln und die ohnehin tätige Phantasie in die lebhafteste Aufregung zu versetzen.

Hagger sah, daß er es mit einem gläubigen, äußerst lernbegierigen Jünger zu tun hatte, und kehrte sein letztes Wissen und ­Wähnen heraus. Da ich nichts als ein beschränktes natürliches ­Verständnis beibrachte und mir viele seiner Äußerungen kauderwälsch blieben, was meine Antworten klärlich und kläglich verrie­ten, so kam er nach einiger Zeit mit dem Rate, ich möchte Lateinisch zu lernen anfangen; die lateinische Sprache sei der Hauptschlüssel zum Eingang in die geheimen Wissenschaften, auch als Wissenschaft an und für sich sei sie ein höchst schätzbares Besitztum, das die Mühe des Erlernens hundertfältig lohne. Mitten in seiner Freude an der klassischen Wissenschaft fing er an langsam und feierlich sein tägliches Gebet zu sprechen: «Pater noster qui es in coe­lis, sancteficetur nomen tuum usw.» Diese Sprache hatte in meinen Ohren einen wunderbaren Wohlklang, daß ich augenblicklich den Entschluß faßte, Haggers Rat zu folgen, und von ihm eine alte Grammatik für etliche Schillinge kaufte. Allein der Entschluß war eben leichter gefaßt als ausgeführt. Ich fing in meinen knapp beschnittenen Mußestunden zu deklinieren und Vokabeln zu memorieren an, aber trotz allem Fleiße machte ich sehr bescheidene Fortschritte; zumal das Memorieren war eine rechte Frohnarbeit für mich und es fing mir an zu grauen bei dem Gedanken, eine ganze Sprache so vom dürren Blatt erlernen zu müssen. Überdies, da mir der Gebrauch einer Grammatik etwas Ungewohntes war, fehlte mir selbst die Einsicht in die Nützlichkeit einer solchen steifen, regelrechten Lehrweise und ich gab dem Gedanken Raum, es dürfte sich wohl auch ein etwas ansprechenderer Modus finden lassen, in das Verständnis einer toten Sprache einzudringen. Ich redete zu Hagger davon und er gestand, daß auch er für die grammatikalische Lehrweise keine Vorliebe habe, obschon es ausgemacht sei, daß sich nur mittelst derselben eine richtige Kenntnis irgendeiner Schriftsprache erlangen lasse. Er lieh mir dann zum Zwecke von Leseübungen eine lateinische Bibel, von welcher ich geraume Zeit hindurch starken Gebrauch machte. Das Evangelium Mathäi ward mir in der Tat ziemlich geläufig, ich konnte es längere Stellen weit leidlich ins Deutsche übersetzen. Aber es war viel Selbsttäuschung dabei, ich kannte eben die betreffenden Stellen vom Deutschlesen her so gut, daß ich gleich aus einzelnen lateinischen Worten den Inhalt erriet. Suchte ich aber an andern Stellen das wirkliche Verständnis des lateinischen Textes, so haperte es bedenklich und da fühlte ich wieder, wie es kaum möglich sein dürfte, eine tote Sprache ohne grammatischen Sukkurs zu erlernen. Auch diese gewonnene Einsicht verheimlichte ich nicht vor Hagger; er erwiderte ironisch, es nehme ihn wunder, zu welchen weitern Einsichten ich noch gelangen werde.

Hans Grünauer

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