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Kapitel 6 – Elanor

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Dichte Regenwolken, grau und schwer wie Stein, verdunkelten im Laufe des Vormittags den Himmel, und bald erklang das rhythmische Prasseln von Wassertropfen. Es war ein Geräusch, das Elanor seit ihrer Kindheit als äußerst beruhigend empfand. Seit der Regen eingesetzt hatte, fiel es ihr wesentlich leichter, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Die Ereignisse auf dem Markt und das vergangene Treffen mit der Schattenklinge rückten in den Hintergrund ihrer Wahrnehmung.

Noriel nutzte die Zeit zwischen zwei Schauern und erschien am Nachmittag in der Schneiderei. Sie war nicht, wie sonst üblich, in Begleitung ihrer dunkelelfischen Sklavin Meira, sondern zog einen mürrisch dreinblickenden jungen Hochelfen mit sich. Elanor erkannte sofort den Halbstarken, der sie auf dem Markt mit Steinen und rohen Eiern beworfen hatte.

»Grüße, Noriel«, begann die Waldelfin zögerlich.

»Hallo, Liebes.« Noriels Ton war freundlich, doch ihr Gesichtsausdruck verriet unmissverständlich, dass sie alles andere als zufrieden war. »Der junge Herr an meiner Seite ist mein Sohn Taris. Wie ich hörte, hattet ihr zwei inzwischen das Vergnügen?« Sie warf ihrem Sohn einen eisigen Blick zu, der trotzig zu Boden starrte.

»Ein … etwas zweifelhaftes Vergnügen«, antwortete Elanor bedächtig. »Ich hätte mir schönere Umstände für unser erstes Zusammentreffen gewünscht.«

Noriel und sie hatten nur selten die Gelegenheit, sich privat zu treffen. Jedes Mal waren die beiden Frauen mit den Sklaven allein gewesen, sodass Elanor zwar viel von Taris gehört, aber ihn nie zuvor persönlich kennengelernt hatte.

»Ich habe gehört, was auf dem Markt vorgefallen ist«, sagte die Hochelfin bedauernd. »Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musstest. Wäre ich dabei gewesen, hätte ich nicht zugelassen, dass du so in die Ecke gedrängt wirst.«

Taris schielte missmutig zu seiner Mutter hoch. Er kaute auf seiner Unterlippe und scharrte mit dem Fuß über den Boden.

»Danke, Noriel. Ich weiß das zu schätzen. Aber wie hast du davon erfahren?«, fragte Elanor.

»Die Standbesitzerin, die dich angefeindet hat, erzählte es mir selbst. Sie tratscht unglaublich gerne und war stolz auf das, was sie getan hat.« Die Hochelfin schnaubte verächtlich. »Ich habe sie zurechtgewiesen und ihr gesagt, wie ekelhaft ich ihr Verhalten finde. Jedenfalls hat sie mir dann freimütig von den Taten meines Sohnes erzählt. Taris?«

Der Hochelf grummelte etwas Unverständliches. Er kam Elanor in diesem Moment nicht wie ein junger Mann von zwanzig Jahren, sondern wie ein bockiger Zwölfjähriger vor. Allmählich stieg die Wut wieder in ihr hoch.

»Taris«, wiederholte Noriel schärfer.

»Tut mir leid«, murrte er.

Elanor verschränkte die Arme vor der Brust.

»Genügt dir das, Liebes?« Noriel zog eine perfekt gezupfte Augenbraue hoch.

Ein Teil von ihr wollte abwiegeln und sagen, dass alles in Ordnung sei. Doch das war es mitnichten. Das unerhörte Benehmen des Jünglings stieß Elanor sauer auf. Sie hatte noch zu deutlich sein hämisches Grinsen vor Augen, als er ihr ein weiteres rohes Ei an den Kopf geworfen hatte. »Nein.«

»Dachte ich mir.« Die Hochelfin drehte sich ihrem Sohn zu. »Ich gebe dir jetzt noch genau eine Chance, dich anständig bei Elanor zu entschuldigen. Wenn du es vorziehst, dich wie ein unreifes Kind zu benehmen, werde ich dich gerne auch so behandeln. Und ich werde dafür sorgen, dass es alle mitbekommen.«

Taris sah entsetzt auf. Für einen jungen Hochelfen, der sehr auf seinen Ruf bedacht war, war das eine ernst zu nehmende Drohung. »Ich bin nicht der Einzige, der was getan hat.«

»Ihr wart der Einzige, der mich beworfen hat«, widersprach Elanor scharf. »Mit Steinen und mit rohen Eiern.«

»Für die du übrigens nichts bezahlt hast«, fügte Noriel hinzu. »Also einen Diebstahl begangen hast. Du hättest sie mit den Steinen ernsthaft verletzen können.«

»Ich habe lediglich mit Eiern geworfen«, beschwichtigte Taris eilig. »Meine Freunde waren es, die Steine aufsammelten.«

»Nachdem sie sich von Euren Wurfkünsten dazu beflügeln ließen.« Elanor schüttelte den Kopf. »Es geht nicht darum, wie fest oder was Ihr geworfen habt. Es geht darum, dass Ihr mich beworfen habt. Und um die Worte, die Ihr dabei gebrüllt habt.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Noriel angespannt.

»Nichts«, zischte Taris.

»Er hat mich Borkenkäfer genannt«, antwortete Elanor mit anklagender Stimme.

Noriels volle, dunkel geschminkte Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Taris, sag mir bitte, dass das nicht wahr ist! Ich dachte immer, mein Sohn wäre klüger, als rassistische Beschimpfungen in den Mund zu nehmen.«

Der Jüngling senkte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Das ist mir … im Eifer des Gefechts so rausgerutscht«, murmelte er und hob erneut die Schultern. »Ich meine … die Leute erzählen …«

»Ich weiß, was die Leute erzählen, und es sind infame Unterstellungen«, unterbrach Noriel zornig.

Taris biss sich auf die Unterlippe. »Aber sie waren dabei. Sie haben gesehen, wie sie diesem Sklaven geholfen hat.«

»Und was ist daran verwerflich?« Noriel schüttelte mit dem Kopf. »Statt dich ihnen blindlings anzuschließen, solltest du deinen Verstand benutzen! Du bist besser als das, Taris. Erst denken, dann handeln! Es ist schon schlimm genug, dass du unsere Sklaven schlecht behandelst. Wenn du jetzt bei meinen Freunden weitermachst, gehst du einen entscheidenden Schritt zu weit.«

Taris seufzte und rieb sich über den Nacken. Elanor konnte förmlich sehen, wie er die Gedanken hinter seiner Stirn hin und her schob, abwägte und kalkulierte.

»Wir warten, Taris.« Noriel klang ungeduldig.

»Ja doch«, brummte der Jüngling verlegen. Er räusperte sich und sah Elanor ins Gesicht. Sie kreuzten ihre Blicke, und die Waldelfin erkannte, dass er sein Verhalten aufrichtig bereute. Er war jung, war von umstehenden Passanten angestachelt worden und hatte nicht weiter darüber nachgedacht, was er tat.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung.« Taris wählte eine besonders förmliche Entschuldigung. Er hielt ihr seine große Hand hin. »Es tut mir leid, dass ich Euch gekränkt habe, und … hoffentlich geht es Euren Kindern gut. Ich meine, ich hätte nie auf Euren Bauch gezielt …«

Elanor nahm seine Hand entgegen, um seinen verunsicherten Redeschwall zu stoppen, und drückte sie leicht. »Entschuldigung angenommen.« Sie erinnerte sich wieder an die Wärme, die ihren Bauch ummantelt hatte, bevor sie die Waldelfen, ohne sie zu berühren, fortgeschleudert hatte.

Taris atmete auf. »Danke. Ich verspreche Euch, ich werde mich bessern.«

Noriels Gesicht entspannte sich und sie betrachtete ihren Sohn stolz. »Na also. Gut gemacht, mein Liebling. Du kannst draußen auf mich warten, ich brauche jemanden, der mir beim Tragen hilft.«

»In Ordnung«, erwiderte Taris und verneigte sich höflich. »Auf Wiedersehen, Frau Elanor.«

Die Waldelfin nickte lächelnd und sah ihm nach, als er eilig nach draußen verschwand. Sie war froh, dass dieses Gespräch einen guten Ausgang genommen hatte. Der Teil von ihr, der seit Dûhirions Tod verbittert und hoffnungslos war, hatte damit gerechnet, dass Taris daran festhielt, im Recht gewesen zu sein, und sich höchstens zum Schein entschuldigte.

»Er kann manchmal sehr ungestüm sein, aber im Grunde seines Herzens weiß er, was richtig und falsch ist.« Noriel strich sich eine ihrer silberweißen Locken hinter das Ohr. »In ein paar Jahren hat er sich seine Hörner abgestoßen und kommt hoffentlich nicht mehr auf solch dumme Ideen.«

»Ich bin mir sicher, dass aus ihm ein anständiger Mann wird.« Elanor legte eine Hand auf ihren Bauch und runzelte die Stirn. »Sag, hast du noch einen Moment Zeit für mich, bevor ich dir das Kleid zeige?«

»Für dich immer, Liebes«, antwortete Noriel und ihr Blick folgte ihrer Hand. »Hast du eine Frage zur Schwangerschaft?«

Leise, damit Rhina und Fiona im Nebenzimmer nichts mitbekamen, erzählte Elanor ihrer Freundin Details über die Vorfälle auf dem Markt, bis zu dem Punkt, an dem sie der Situation entkommen war. »Ich habe die beiden nicht einmal berührt, verstehst du? Und selbst wenn, hätte ich nicht genug Kraft gehabt, um beide auf einmal mit solcher Wucht zu schubsen, dass sie stürzen. Es war … als hätte ich Magie angewandt.«

Noriel musterte sie nachdenklich. »Ich nehme an, die Hohepriesterin hat dir nichts erklärt?«

»Doch, so einiges.« Elanor betrachtete ihre Handflächen. »Allerdings hat sie mit keinem Wort Magie erwähnt.«

»Hm, das ist nicht verwunderlich. Es passiert so selten, dass es eigentlich kaum einer Erwähnung wert ist.« Die Hochelfin schwieg eine Weile grüblerisch. Sie warf der Nähstube einen langen, unschlüssigen Blick zu, ehe sie ihn zurück auf Elanor lenkte.

»Ist alles in Ordnung?«, raunte die Waldelfin verunsichert.

»Herr Faredir?«, rief Noriel. »Darf ich Eure Nichte kurz nach draußen führen? Sie ist etwas blass um die Nase und ich denke, frische Luft wird ihr guttun.«

Faredir lehnte sich aus der Nähstube. »Grüße, Frau Noriel.«

Rasch senkte Elanor den Kopf und bemühte sich elend auszusehen. Selbst wenn sie keine Ahnung hatte, was ihre Freundin vorhatte, beschloss sie mitzuspielen.

»Natürlich«, sagte ihr Onkel verständnisvoll, nachdem er sie sorgfältig gemustert hatte. »Aber nur ein paar Minuten, ja? Ich brauche dich, Elanor.«

Die Waldelfin nickte leicht.

Noriel nahm ihren Arm und verließ mit ihr die Schneiderei. Auf den neugierig fragenden Gesichtsausdruck ihres Sohnes gab sie ein schnelles Handzeichen, dass alles in Ordnung wäre. Die beiden Elfinnen schlenderten hinter das Gebäude, und nachdem Noriel sich versichert hatte, dass sie weitgehend ungestört waren, sprach sie endlich: »Tut mir leid für den Umstand. Am liebsten hätte ich dich mit nach Hause genommen, um wirklich alleine mit dir zu sein.«

Elanor runzelte die Stirn. Aufkommende Angst gepaart mit Nervosität verdrehte ihr den Magen. »Was ist los, Noriel? Stimmt etwas nicht?«

»Es ist nichts, worüber du dir ernsthaft Sorgen machen müsstest. Allerdings fühle ich mich unwohl dabei, wenn zu viele neugierige Ohren uns belauschen würden. Es fällt mir nicht leicht, über diese Geschichte zu reden, aber ich denke, sie wird dir helfen zu verstehen. Als ich mit Taris schwanger war, bin ich in einen Hinterhalt geraten«, erzählte Noriel bedächtig. »Eine Gruppe von Straßenräubern hat Meira und mir aufgelauert. Sie verlangten Gold, Schmuck und …« Sie stoppte und rang fahrig die Hände. »Meira hat sich angeboten, um mich zu beschützen. Bei den Göttern, ich habe die Güte dieser Frau nicht verdient.«

Etwas Schweres sackte in Elanors Magen. Sie berührte Noriel sanft am Unterarm.

Die Hochelfin lächelte tapfer. »Ich konnte nicht zulassen, dass sie Meira schänden. Weglaufen war uns nicht möglich. Also habe ich beschlossen zu kämpfen, mit allen Mitteln. Einer der Widerlinge hat mich gepackt und mit seinem Messer auf meinen Unterleib gezielt. Plötzlich habe ich diese Wärme gefühlt, die auch du beschrieben hast, und einen Augenschlag später wurden die Räuber durch die Luft gewirbelt. Meira hat schnell reagiert und mich mit sich in Sicherheit gezogen.«

»Ich bin froh, dass euch nichts geschehen ist.« Elanor drückte ihr sacht den Unterarm. »Was, glaubst du, ist in diesem Moment passiert?«

Noriel nahm die Hände der Waldelfin und legte sie gemeinsam mit ihren eigenen auf ihren Bauch. »Viriditas wacht über dich und deine Kinder«, sagte sie leise und ein warmes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. »Die Wärme, die du gefühlt hast, war ihr Schutz und die Verbundenheit zwischen dir und ihnen. Was auch immer die Leute reden, was auch immer sie dir androhen: Sie können dir nichts tun. Solange deine Kinder in dir heranwachsen, bist du unantastbar.«

Das erste Mal, seit sie die Nachricht von Dûhirions Tod bekommen hatte, nahm Elanor ihre Schwangerschaft wieder bewusst wahr. Diese Kinder waren alles, was ihr von ihm geblieben war.

Die Waldelfin sammelte sich einen Moment lang. Sie empfand zu viel auf einmal; eine Mischung aus der anhaltenden Traurigkeit, Dankbarkeit und Verbundenheit – zu Noriel, zu ihren Kindern und zu Viriditas. Sie hatte befürchtet, diese Verbindung verloren zu haben, doch die Göttin hatte ihr auf dem Markt gezeigt, dass sie nach wie vor bei ihr war und schützend die Hand über sie hielt.

»Danke, Noriel«, murmelte sie.

Die Hochelfin vollführte einen eleganten Knicks. »Ich habe mich danach an eine Hohepriesterin gewandt. Sie erklärte mir, dass Viriditas zwar nicht allwissend sei, aber über die Dauer einer elfischen Schwangerschaft in die Zukunft blicken kann. Sie weiß genau, wann Mutter und die ungeborenen Kinder in Gefahr geraten werden. Um ihnen zu helfen, kann sie ihnen die Gabe der Magie verleihen, sofern ein Potenzial dafür vorhanden ist. Weil es so ein seltenes Phänomen ist, erwähnen die wenigsten Priesterinnen diese Tatsache vor den werdenden Müttern. Die Schwangerschaft ist schon aufregend genug und man will die Hühner nicht unnötig scheu machen, verstehst du?« Noriel musterte sie nachdenklich. »Als Hochelfin habe ich eine natürliche Affinität zur Magie. Das steckt uns im Blut. Hat Herr Faredir dir gegenüber je von Magiern in eurer Familie gesprochen?«

Elanor schüttelte den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Ich habe allerdings auch nie danach gefragt.«

»Hmm.« Die Hochelfin tippte sich gegen die Unterlippe. »Dann solltest du das bald tun. Diese Gabe hat schon immer in dir geschlummert, genau wie in mir. Sie ist bei uns beiden erwacht, als wir in Bedrängnis kamen und uns zur Wehr setzen mussten.«

»Kannst du diese Fähigkeit heute noch nutzen?«, fragte die Waldelfin, nachdem sie sich gefangen hatte.

Noriel winkte ab. »Oh, vermutlich. Aber ich habe keinerlei Interesse daran, eine Magierin zu sein.« Sie legte einen ihrer schlanken Finger an ihr Kinn. »Obwohl es in manchen Situationen durchaus praktisch ist. Stell dir vor, wie nützlich es wäre, meine Haare mit nur einem Zauber zu bändigen und zu frisieren.« Die Hochelfin seufzte theatralisch. »Mir blieben so viele Stunden des Kämmens und Flechtens erspart.«

Elanor gluckste leise. »Ich dachte, es wäre Hochelfen ein grundsätzliches Vergnügen, ihr Haar zu pflegen.«

»Oh, das ist es«, sagte Noriel eifrig. »Aber an manchen Tagen findet man auch an den liebsten Tätigkeiten keinen Gefallen.«

»Nun, ich hoffe, du wirst Gefallen an deinem neuen Kleid finden.« Elanor deutete auf das Fenster, das sie in den hinteren Teil der Schneiderei blicken ließ. »Möchtest du mir folgen?«

»Sehr gerne«, flötete die Hochelfin.

»Wo ist Meira eigentlich?«, fragte Elanor beiläufig, während sie zurück ins Haus gingen.

Rhina blickte neugierig auf, als sie die Nähstube betraten. Fiona zischte ihren Namen und trieb sie streng an, sich ihrer Arbeit zu widmen.

»Grüße abermals, Frau Noriel«, rief Faredir von einem Tisch herüber, auf dem Stoffrollen ausgebreitet lagen.

Noriel winkte ihm. »Im Moment ist es mir lieber, wenn Meira zu Hause bleibt«, antwortete sie. »Seitdem die Farmen überfallen wurden, ist es Pflicht, seine Sklaven anzuleinen. Das hat keiner meiner Dunkelelfen verdient und Meira erst recht nicht. Ich will nicht, dass sie irgendwelchen Anfeindungen ausgesetzt ist. Im Haus sind meine Sklaven wenigstens davor sicher.« Sie stemmte die Hände in die schlanke Hüfte. »Aber auch dabei fühle ich mich nicht gut. Es ist fast so, als würde ich sie gefangen halten, verstehst du? Sie haben freien Zugang zu unserem Obstgarten und dem Hof, aber … das lässt es klingen, als wären sie Hunde, denen ich Auslauf gewähre. Ob es nun Dunkelelfen sind oder nicht: Sie sind keine Tiere. Sie haben gesunden Elfenverstand, empfinden und denken wie andere Elfen auch.«

»Ich denke, deine Sklaven wissen deine Bemühungen, sie zu schützen, sehr zu schätzen. Deine Einstellung Dunkelelfen gegenüber ist vernünftig und richtig«, sagte Elanor anerkennend. »Ich wünschte, es gäbe mehr, die so denken.« Unsere Haut ist verschieden, doch letztlich ist unser aller Blut rot, fügte sie innerlich hinzu.

Beide Frauen traten vor ein Holzgestell, an dem das Kleid hing. Es war in den traditionellen Farben des hochelfischen Adels gehalten. Die hellen und dunklen Blautöne harmonierten wunderbar miteinander, feine Stickereien aus silbernem Garn zierten die Ärmel und den Rocksaum. Kleidung für Hochelfen anzufertigen, bereitete ihr jedes Mal besondere Freude. Sie mochte es, mit farbigen Stoffen zu arbeiten, sich neue Kombinationsmöglichkeiten und Muster auszudenken. Waldelfen hielten die Tönung ihrer Kleidung unauffällig. Alles, was Elanors Volk trug, setzte sich aus Naturtönen zusammen. Ob es nun ein einfacher Arbeiter, eine Fürstin oder ein Bettler war. Weiß als Grundlage, kombiniert mit verschiedenen Braun- und Grüntönen.

Hochelfen hingegen wählten ihre Kleidungsfarbe nach Gesellschaftsschicht. Die Männer des Adels trugen helles und dunkles Rot, während sich die Frauen in Blaunuancen hüllten. In der Mittelschicht trugen die Männer satte und dunkle, die Frauen leuchtende und auffällige Farben. Die Unterschicht bekam das, was übrig war; Ausgebleichtes und Verwaschenes.

Elanors Fingerspitzen fuhren sacht über die feine Seide und glätteten letzte kleine Falten. »Gefällt es dir?«

Noriel betrachtete das Kleid und zeigte ein strahlendes Lächeln. »Elanor, du hast dich selbst übertroffen. Es ist wunderschön geworden.«

Der restliche Tag in der Schneiderei war nahezu unbemerkt an ihr vorbeigezogen wie die Regenwolken am Himmel. Es kam ihr vor, als hätte sie sich erst vor einer halben Stunde hingesetzt und begonnen.

Doch mittlerweile war es Abend, die Näherinnen und der Lehrling waren längst nach Hause gegangen, während Elanor ihre Tagesbeschäftigung fortsetzte: Löcher flicken, Fibeln, Schnüre und Knöpfe ersetzen, Säume erneuern.

Obwohl es ihr seit ihrem Gespräch mit Noriel ein wenig besser ging, wollte sie nicht nach Hause. Sie wollte nicht allein und ihren Gedanken ausgeliefert sein. Doch der Schlafmangel der letzten Tage machte sich mit jeder fortschreitenden Stunde bemerkbarer und inzwischen lag Müdigkeit bleiern über ihrem Haupt.

Sie arbeitete wie in Trance. Vollführte Bewegungen und Arbeitsschritte, ohne bewusst darauf zu achten, was genau sie da tat. Immer wieder sanken ihre Lider und sie musste sich zwingen, die Augen offen zu halten.

Faredirs Hand streifte ihre Schulter und sie sah von der Jacke auf ihrem Schoß auf. »Du schläfst mir bald im Sitzen ein«, sagte er sanft. »Für heute können wir schließen. Komm, ich bringe dich nach Hause.«

Elanor hielt ein Gähnen zurück. »Das musst du nicht. Du bist sicher auch müde und hast in den letzten Tagen schon so viel für mich getan. Du …«

»Ich muss nicht, aber ich will. Vor allem nach dem, was heute Morgen auf dem Markt passiert ist, möchte ich dich ungern alleine gehen lassen. Was ist, wenn dir aufgelauert wird?«

»Ich denke nicht, dass sie so weit gehen werden.« Das war gelogen. »Momentan sind die Leute einfach verunsichert. Die Rebellen sind uns näher gekommen, als es irgendwem lieb ist, und viele fühlen sich nicht mehr sicher.«

Faredir warf sich seinen Mantel über. »Und weil sie mit ihrer Angst nicht umzugehen wissen, müssen sie eine Schwangere drangsalieren?«

Elanor faltete die Jacke und legte sie auf den Stapel mit den anderen reparierten Kleidungsstücken. Sie erhob sich, klopfte die losen Fäden und Fransen von ihrem Rock. »Eine Schwangere, von der sie denken, dass sie eine Affäre mit einem ihnen verhassten Dunkelelfen hätte.«

Faredir trat zu ihr und umarmte sie. »Weißt du … es hat lange gedauert, bis ich den Tod deines Vaters verkraftet habe«, sagte er leise, während sie sich an ihn schmiegte. »Die ersten Tage danach waren grauenhaft. Es kam mir vor, als bewegte sich die Welt ohne mich weiter. Als befände ich mich in einer Wasserblase, in der die Zeit stehen geblieben ist. In der ich vollkommen abgeschottet und allein bin. Dein Vater hat mir viel bedeutet. Er war mein Bruder … mein Spiegelbild. Als er starb, fühlte es sich an, als hätten die Götter mich in zwei Hälften gerissen.«

Elanor nickte kaum merklich. Es war angenehm warm in seinen Armen und sie ließ ihre Augen zufallen. Genau so, wie er es beschrieb, hatte es sich angefühlt, als Maryn ihr die Botschaft überbrachte. Seither war sie wie ein dünnes Stück Stoff, an dem von allen Seiten gezerrt wurde. Jede Faser gab einzeln nach und inzwischen wurde sie nur noch von wenigen Fäden zusammengehalten.

»Was mir letztlich geholfen hat, darüber hinwegzukommen, warst du. Du warst noch so klein und plötzlich verloren ganz ohne deine Eltern. Ich wusste, dass du meine Hilfe brauchst. Also habe ich alles darangesetzt, dir eine schöne Kindheit zu schenken. Aber … ich war nicht immer erfolgreich damit, nicht wahr? Ich war nicht so oft für dich da, wie ich es hätte sein sollen.«

Elanor legte die Stirn in Falten. »Faredir …«

Das Gesicht ihres Onkels verdunkelte sich. »Sag mir nicht, dass das nicht wahr ist. Vor allem, nachdem Lornien verstorben ist, warst du den ganzen Tag alleine. Ich habe morgens das Haus vor dir verlassen und bin erst spätabends zurückgekommen.«

»Aber immer noch pünktlich, um mir eine Gutenachtgeschichte vorzulesen«, erwiderte Elanor leise. Lornien war seine erste Frau gewesen. Elanor erinnerte sich nur noch vage an sie. »Ohne die Schneiderei hätten wir kein Obdach, keine Kleidung oder Essen. Ich kann dir nicht zum Vorwurf machen, für unseren Lebensunterhalt gearbeitet zu haben.«

»Und trotzdem hätte ich mehr Zeit für dich aufbringen sollen«, murmelte er und strich ihr die Haarsträhne hinters Ohr, in die sie ein weißes Band eingeflochten hatte.

»Du hast getan, was du konntest, obwohl du es auch nicht leicht hattest. Mehr wollte ich nie«, raunte sie.

Faredir lächelte. »Ich weiß, dass der Schmerz jetzt unerträglich scheint. Jemanden zu verlieren, den man liebt, ist ein schweres Los. Deine Kinder werden dir die Kraft geben, weiterzumachen.«

»Wird es je aufhören wehzutun?«, fragte Elanor gedämpft.

Faredir schwieg einen Moment. »Nein. Aber du wirst lernen, mit dem Schmerz zu leben. Und eines Tages vielleicht eine neue Liebe finden. Ich dachte auch, dass ich mich nie wieder verlieben würde, nachdem Lornien gestorben ist. Und nun bin ich wieder verheiratet und liebe Panova über alles.«

Elanor löste sich langsam von ihm. »Ich hab dich lieb, Onkel.«

»Ich dich auch, mein Gänseblümchen.« So hatte er sie das letzte Mal genannt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Faredir schloss seinen Mantel.

»Darf … ich dir noch eine Frage stellen?«

»Mhm«, brummte ihr Onkel.

Elanor starrte zögernd auf die eichenblattförmigen dunkelbraunen Holzknöpfe seines Mantels. »Gab es Magier in unserer Familie?«

Faredir runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf?«

»Noriel und ich haben uns heute darüber unterhalten, dass Hochelfen Magie im Blut haben«, erklärte Elanor rasch. »Sie sagte mir, dass jeder sie erlernen kann, wenn das Potenzial dafür vorhanden ist.«

»Ach, Kind. Was willst du denn mit Magie?«, seufzte ihr Onkel.

Elanor musterte ihre Hände. »Ich will meine Kinder und mich verteidigen können, aber körperlich habe ich einem Angreifer nicht viel entgegenzusetzen. Mit Magie allerdings …«

»Verstehe.« Faredir kratzte sich an der Augenbraue. »Nun, ich weiß nichts von Magiern in unserem Stammbaum. Allerdings reicht unsere Blutlinie mehrere Jahrhunderte zurück. Es ist also durchaus denkbar, dass sich unter ihnen ein Magier befunden hat. Aber setz nicht so viele Hoffnungen darauf. Selbst wenn es jemanden gab, der zaubern konnte, glaube ich nicht, dass du heute etwas davon hast. Mit solchen Gaben ist es wie mit Wein, den man mit Wasser aufgießt: Sie verdünnen mit der Zeit.« Er schwieg einen Moment. »Veilchen, wenn du um dein Wohlbefinden fürchtest, kannst du für die restliche Schwangerschaft bei Panova und mir wohnen. Wir gehen dann gemeinsam zur Arbeit und nach Hause.«

Elanor lächelte dankbar. »Ich denke darüber nach. Trotzdem wäre es durchaus praktisch, wenn ich Flammen in meinen Händen beschwören könnte, meinst du nicht auch?«

Ihr Onkel schmunzelte. »Mir würden schon Zaubersprüche für den Haushalt genügen. Einmal das.« Er schnipste mit den Fingern. »Und all der Schmutz ist fort, die Betten sind gemacht und das Essen steht warm auf dem Tisch.«

Sie verließen das Gebäude, und Faredir schloss die Tür hinter ihnen ab.

»Wo wir gerade von Panova sprachen, wie geht es ihr?«, erkundigte sie sich, um ein neues Thema in den Vordergrund zu rücken. Faredir hatte die Waldelfin kennengelernt, als Elanor sechzehn Jahre alt gewesen war, beinahe zehn Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau.

»Oh, es geht ihr gut«, entgegnete ihr Onkel leichthin. Er holte seinen Geldbeutel aus der Gürteltasche und zählte die Münzen. »Da fällt mir ein, dass ich ihr ein paar Blumen mitbringen wollte … Ah, würdest du mir helfen, einen Strauß für sie auszusuchen?« Er bot ihr seinen Arm an.

Elanor lächelte sacht und hakte sich bei ihm unter. Gemächlich schlenderten sie über den weitläufigen Markt Malachits. Wachsam ließ die Waldelfin den Blick schweifen. Die meisten Händler bauten ihre Stände ab. Diejenigen, die es nicht taten, bewarben ihre Güter für die Hälfte des Preises, die sie am Tage gekostet hatten.

Die Floristin, die sie letztlich ansteuerten, war eine Hochelfin, die in etwa in Noriels Alter sein durfte. Ihre Augen waren vom selben leuchtenden Gelb wie die Narzisse in ihrem langen weißen Haar.

»Willkommen! Ihr habt Glück, ich wollte gerade abbauen«, sagte die Floristin. »Was kann ich für Euch tun?«

»Ich suche Blumen für meine Liebste«, antwortete Faredir.

Träge senkte Elanor ihr Kinn in Richtung Brust. Gerne hätte sie sich gegen den Stand gelehnt und für ein paar Sekunden die Augen geschlossen. Sie war so verdammt müde.

Mit kühlen Fingern massierte sie sich die halb geschlossenen Lider, während sie vorgab, die Blumen vor sich besonders intensiv zu betrachten.

Letzte Nacht hatte sie wieder von Dûhirions Tod geträumt. Da sie nicht wusste, wie Umbra ihn getötet hatte, füllte ihre ausschweifende Vorstellungskraft die Lücken. Sie hatte ihn in ihren Träumen ertrinken oder von einem Strick hängen sehen. Hatte gesehen, wie man ihm den Kopf abschlug oder seine Kehle durchtrennte. Jedes Mal stand sie inmitten der jubelnden Meute und war unfähig, ihm zu helfen.

»Veilchen?«

Elanor blinzelte. »Entschuldige. Hast du etwas gesagt?«

»Nein, aber ich habe etwas für dich.« Er steckte ihr eine Blüte ins Haar. Ein Veilchen. »Eine Blume für meine Blume.«

Früher, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte er das oft getan. Vor allem, wenn er lange arbeiten musste, war er mit einer Blüte für sie nach Hause gekommen, die er ihr ins Haar gesteckt hatte. Dass er diese kleine, liebevolle Geste nun wiederholte, rührte sie.

»Danke«, raunte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Faredir nahm den fertigen Strauß von der Floristin entgegen und bezahlte. Dann gingen sie langsam weiter zu Elanors Haus.

»Kann ich dich etwas fragen?«, begann er, nachdem sie eine Weile still nebeneinander hergelaufen waren. »Warum liegt dir so viel an Dunkelelfen? Warum geht dir ihr Schicksal so nahe, dass du alles riskierst, um ihnen zu helfen?«

»Weil es sonst keiner tut«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Es ist falsch, wie die Dunkelelfen Adulars behandelt werden. Die Freien Länder außerhalb des Kaiserreiches zeigen es doch deutlich. Dort sind die Dunkelelfen frei und ein Teil der Gesellschaft, statt ausgestoßen zu sein.«

»Gut, das verstehe ich.« Faredir nickte bedächtig. »Aber warum bist du so … offensiv mit deiner Hilfe?«

Elanor gluckste humorlos. »Weil einer aufstehen und zeigen muss, dass wir nicht alle gleich sind. Die Dunkelelfen sollen sehen, dass es Gutes gibt in dieser Welt. Es sind viele da draußen, die mit der Behandlung der Dunkelelfen nicht einverstanden sind. Irgendjemand muss den ersten Schritt machen.« Sie blickte gedankenverloren die Straße hinab. »Ich bin mitnichten die Einzige, die sich offensiv, wie du sagtest, für Dunkelelfen einsetzt. Arik und Nara zum Beispiel. Es ist kein Geheimnis, dass Dunkelelfen in Ariks Klinik umsonst behandelt werden. Nara hat sich etliche Male lautstark mit Sklavenhändlern gestritten. Ich will und werde nicht wegsehen und etwas hinnehmen, was mir zuwider ist.«

Ich weiß, wie es ist, Hilfe zu brauchen und keine zu bekommen, dachte sie. Ich weiß, wie es ist, wenn alle nur zuschauen, starren oder sich abwenden, statt einzugreifen. Ich kenne Hilflosigkeit. Ich werde es besser machen als diejenigen, die mich im Stich gelassen haben.

Sie sprach es nicht aus, wohl wissend, dass ihr Onkel sich davon verunsichert und gekränkt fühlen würde. Ihm warf sie nichts vor. Ihm nicht.

Faredir schwieg lange. »Du bist dir darüber im Klaren, dass so ein Leben gefährlich ist, nicht wahr?«

»Ja, durchaus. Und ich werde jetzt besser auf mich aufpassen müssen als zuvor.«

»Ist es das wert?«

Elanor nickte leicht. »Dankbarkeit zu erleben und Hoffnung zu schenken, ist jede Mühe wert.«

Kostete es, was es wollte. Nach Dûhirions Tod mehr denn je.

Adular (Band 2): Rauch und Feuer

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