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Kapitel 1 – Elanor

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Gegenwart

Sie wartete. Erst als sich die schweren Schritte der Wachpatrouille außerhalb ihrer Hörweite befanden, wagte sie aufzuatmen. So leise wie möglich kam sie aus dem Busch, in dem sie sich verborgen hatte.

Ein letztes Mal sah sie sich prüfend auf der Straße um, bevor sie auf die kleine Hütte zuging.

Es war kurz nach Mitternacht und die Oberstadt von Malachit lag in dunklem Schlummer. Seit dem Überfall der Rebellen auf die Farmen nördlich der Stadt gab es einige leer stehende Häuser. Tote waren der Tribut des Angriffs. Es hatte nicht die Sklaventreiber getroffen, auf die es die Rebellen wahrscheinlich abgesehen hatten, sondern dunkelelfische Sklaven, Tagelöhner und Arbeiter – Unschuldige.

Elanor fühlte sich nicht wohl dabei, in das Haus eines Toten einzubrechen und den Nachlass eines Mordopfers für ihre Zwecke zu nutzen. Erst vorgestern waren die Hütte geräumt, sämtliche Besitztümer des ehemaligen Bewohners verkauft, verschenkt oder weggeworfen worden. Aber sie brauchte einen neutralen, sicheren Ort, an dem sie dieses Treffen abhalten konnte.

Die Waldelfin rang ihre Nervosität nieder und brachte das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle, bevor sie den Dietrich ins Türschloss schob. Der Mond spendete genug Licht, um arbeiten zu können.

Drei Tage war es her, dass die Zwergin Maryn vor ihrer Tür gestanden und ihr offenbart hatte, dass ihr Geliebter tot war.

Dûhirion ist tot …

Ermordet von Umbra, hingerichtet wegen Hochverrats. Verzweiflung hatte sich wie eine vergiftete Nadel in ihr Fleisch gesenkt und grub sich seither immer tiefer.

Mein Herz ist tot …

Sie spürte das Gift mit jedem Atemzug, den sie weiterhin tat, obwohl Dûhirion seinen letzten ausgehaucht hatte. Sie spürte es mit jedem Schlag ihres Herzens, das weitermachte, obwohl das von Dûhirion verstummt war.

Er war ihr brutal entrissen worden und hatte kalte, alles verschlingende Leere hinterlassen. Das Letzte, was sie für ihn tun konnte, war, seine Leiche zu bergen und beizusetzen. Sie hatte seinen Körper nicht retten können, doch wenigstens seiner unsterblichen Seele wollte sie die verdiente Freiheit schenken.

Wenn die Götter seiner Seele Frieden schenken wollen. Der Gedanke zog wie eine schwarze Wolke in ihrem Kopf auf. Schwer und trostlos. Sie haben zugelassen, dass Umbra ihn tötet. War unsere Liebe doch ein Vergehen? Viriditas hat ihren Segen über unsere Kinder und mich gesprochen. Ich dachte … Das Atmen fiel ihr schwerer, der Drang zu weinen schnürte ihr den Hals zu. Was auch immer ich dachte, ich lag falsch.

Vielleicht war das alles ihre Strafe für eine Liebe, die nie sein durfte. Dûhirions Tod, der Elanor dazu verdammte, ihre Kinder allein großzuziehen. Die wachsende Feindseligkeit der Bewohner Malachits ihr gegenüber. Vielleicht war das alles ihre Schuld.

Eine Wolke schob sich vor den Mond, als sie das leise Klicken des nachgebenden Türschlosses vernahm. Elanor atmete leise durch und erinnerte sich daran, warum sie hier war. Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Vorhaben, das Ziel. Die Waldelfin hatte Kontakt zur Gilde aufgenommen und ein Treffen mit einer Schattenklinge vereinbart. Wenn jemand ihr Informationen über den Verbleib von Dûhirions Körper bringen konnte, dann ein Gildenmitglied.

»Die Tür ist offen, Arik«, flüsterte sie.

Ein Mann trat aus dem Schatten eines Baumes und kam an ihre Seite. Er trug eine dunkelblaue Robe, die mit silbernem Garn, weißen und hellblauen Elementen verziert war. Der Heiler nickte anerkennend. »Gut gemacht. Nun müssen wir noch darauf warten, dass Ivorien zu uns zurückkehrt.«

Die Dunkelelfin hatte für sie einen Wachtrupp abgelenkt und von der Hütte weggelockt.

Elanor ließ den Dietrich in der eingenähten Tasche ihres Ärmels verschwinden. Sie hatte sich das Schlösserknacken als Kind selbst beigebracht. Die Abenteuergeschichten, die Onkel Faredir ihr am Bett vorgelesen hatte, hatten sie dazu inspiriert, selbst auf Schatzsuche zu gehen.

Mit kaum neun Jahren hatte sie zum ersten Mal eine Tür aufgebrochen, von der kindlichen Fantasie erfüllt, dahinter eine Schatzkammer zu finden. Im Laufe der Jahre hatte sie ihre Fähigkeiten verbessert. Nachdem sie der Weißen Feder beigetreten war, einer friedlichen Widerstandsgruppe, die sich gegen die Unterdrückung der Dunkelelfen auflehnte, stellte es sich als überaus praktisch heraus, dass sie fähig war, Schlösser zu knacken.

»Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen«, murmelte die Waldelfin.

Sie spürte den bekannten und verhassten Knoten in ihren Eingeweiden. Er war da, seit sie ein kleines Mädchen gewesen und ihre Eltern ermordet worden waren. An vielen Tagen bemerkte sie ihn kaum, aber er hatte sich nie gelöst und nach Dûhirions Tod fester und schmerzhafter zugezogen denn je.

Arik schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Doch Sorge verdunkelte seine bernsteinfarbenen Augen. »Sie ist sehr geschickt und nicht das erste Mal heimlich in der Oberstadt.«

Elanor versuchte das Lächeln zu erwidern und brachte nur ein müdes Zucken ihrer Mundwinkel zustande. Ihr Kopf schmerzte. Schon seit sie heute Morgen aufgewacht war. Was als seichtes Glimmen begonnen hatte, wandelte sich allmählich zu einem lodernden Feuer. Ihre Nervosität war wie Öl, das über glühende Kohlen gegossen wurde. »Das ist wahr. Aber manchmal hilft einem auch das beste Geschick nicht, wenn man ein Dunkelelf ist …« Unruhig spielte sie mit ihrer Halskette. Der blaue, tropfenförmige Stein fühlte sich angenehm kühl an und es spendete ihr Trost, ihn zu halten.

Ihr Blick wanderte durch die dunklen Straßen. Etwa eine Stunde Fußweg von hier aus befand sich die breite Treppe, die von der Oberstadt hinab in die Aschegrube führte, jenes Elendsviertel, in dem die Dunkelelfen leben mussten. Wenn man es überhaupt Leben nennen konnte, Vegetieren traf es wohl eher.

Sie lauschte in den Wind hinein, suchte nach verräterischen Stimmen, fragte sich, ob es heute Nacht ruhig dort war. Oder ob sich wieder ein paar Einwohner der Oberstadt zusammenfanden, um die Dunkelelfen zu terrorisieren. Seitdem die dunkelelfische Rebellengruppe, die sich Grauwölfe nannte, Malachit immer näher kam, wuchs die Gewaltbereitschaft der anderen Völker.

»Sieh«, flüsterte Arik ihr zu und wies mit dem Zeigefinger geradeaus. »Dahinten ist sie.«

Ivorien rannte ihnen entgegen und gab ein stilles Zeichen der Entwarnung. Sie blieb keuchend vor ihnen stehen, stützte sich einen Moment lang auf ihren Oberschenkeln ab und verschnaufte. Strähnen ihres mittellangen schwarzen Haares, das sie wie Dûhirion im Irokesenschnitt trug, fielen ihr in die Stirn.

Erleichterung überkam Elanor, als sie feststellte, dass die Dunkelelfin unversehrt war. »Den Göttern sei Dank. Geht es dir gut?«

Ivorien richtete sich auf und nickte. Sprechen konnte sie nicht mehr, seit man ihr die Zunge herausgeschnitten hatte. Die Dunkelelfin war eine ehemalige Sklavin. Die Weiße Feder hatte sie vor ihren grausamen Besitzern gerettet. Ivorien hatte sich ihnen aus Dankbarkeit angeschlossen und war für sie offenes Auge und wachsames Ohr in der Aschegrube.

Sie formte einige Zeichen mit den Händen und lächelte.

»Es könnte ihr nicht besser gehen«, übersetzte Arik. »Das freut uns sehr, Ivorien.«

Die Dunkelelfin nickte abermals und deutete dann mit fragender Miene auf die Tür. »Hm?«

»Ja, sie ist bereits offen«, sagte der Heiler.

Elanor war erleichtert, nicht allein zu sein. Umbra genoss einen guten Ruf und war nicht dafür bekannt, Auftraggebern gefährlich zu werden. Dennoch war es gut, die Weiße Feder zu haben, die ihr den Rücken stärkte.

Arik war zunächst vehement dagegen gewesen, dass sie die Gilde kontaktierte. Sie hatten lange diskutiert, und letztlich hatten sie sich geeinigt, dass Elanor das Gespräch führen würde und Arik zuvor eine Illusion auf sie legte, die ihr Äußeres veränderte.

Sie sah immer noch aus wie eine Waldelfin, doch ihr braunes Haar wirkte dunkler, sodass es jetzt beinahe schwarz schien. Ihre blauen Augen waren einige Nuancen heller und die Sommersprossen verschwunden. Ihre Wangenknochen lagen höher, die Nase war etwas länger und das Kinn spitzer. Die Veränderungen waren marginal, reichten aber, um aus ihr eine andere Person zu machen.

Das Zeichen der Göttin Viriditas in ihrem Gesicht jedoch konnte die Illusion nicht verbergen. Es zeigte die vereinfachte Darstellung eines Baumes. Krumme Wurzeln streckten sich von ihrer Unterlippe über ihr Kinn, der schmale Stamm verlief von der Oberlippe über ihren Nasenrücken. Die filigranen Äste waren kahl und aufwendig verzweigt; sie spannten sich ausladend über ihre gesamte Stirn. Die weiße Farbe, mit der das Zeichen aufgebracht worden war, stand im starken Kontrast zu ihrer dunklen Haut.

Zudem hatte Arik darauf bestanden, dass sie eine dritte Person mit sich nahmen. Seine Schwester Nara hatte vorübergehend die Stadt verlassen. Sie war vor drei Tagen mit einer Jägergemeinschaft tief in den Wechselwald gegangen und würde erst übermorgen zurückkehren.

»Wir sollten eintreten«, murmelte Elanor. »Die Schattenklinge wird bald da sein.«

Gemeinsam betraten sie das Haus.

Für einen kurzen Moment stellte sich Elanor vor, wie es zuvor hier ausgesehen hatte. Sie füllte die Leere mit den Spuren der ehemaligen Bewohner. Dort in der Ecke war das Bett, hier vorne ein Tisch mit vier Stühlen, über einem von ihnen hing ein Mantel. An den Wänden reihten sich einige Schränke für Lebensmittel, Kleidung und Kleinigkeiten, die keinen anderen Platz im Haus gefunden hatten. Links neben der Tür stand ein Paar schmutzige Stiefel.

Elanor blinzelte einmal, und das Gedankenkonstrukt fiel in sich zusammen, ließ kahle Finsternis zwischen vier Wänden zurück.

Sie zog die Kapuze ihres dunkelbraunen Umhangs tiefer ins Gesicht. An sich war es nicht notwendig, sich zu maskieren, aber es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.

Die nächtliche Finsternis wickelte sich um sie wie eine riesige schwarze Schlange. Sie spürte die kühle, schuppige Haut an ihrer eigenen reiben. Ihr Brustkorb wurde zusammengedrückt, die Luft gewaltsam aus ihren Lungen gepresst. Die beiden Beutel mit dem Gold, das sie der Gilde in den gierigen Schlund stopfen würde, wogen plötzlich schwerer als zuvor an ihrem Gürtel.

Unbewusst strich sie sich über den Bauch, fühlte die Wölbung und zog abrupt ihre Hände zurück.

»Geht es dir gut?«, fragte Arik vorsichtig.

»Nein«, murmelte Elanor wahrheitsgemäß. »Er fehlt mir.«

Er fehlt mir, echote es in ihrem Kopf. Die letzten Stunden seines Lebens waren wahrscheinlich eine einzige Qual. Er war hungrig, litt Schmerzen und wusste, dass er nicht zu mir zurückkommen würde. Umbra hat seine Leiche vermutlich im Dreck verscharrt. Ich konnte nichts tun, um ihn zu retten. Ich habe ihn im Stich gelassen.

»Ich weiß, mir ebenfalls«, erwiderte der Magier bekümmert. »Und deinen …« Seine Worte verschwammen. Bienensummen. »… ist mit ihnen alles in Ordnung? Hast du Schmerzen?«

Ivorien neigte den Kopf leicht zur Seite. Ihre blassroten Augen musterten sie mit einer Mischung aus Mitleid und Unsicherheit.

Elanor starrte ausdruckslos in die Dunkelheit des Hauses. »Die Schattenklinge sollte gleich hier sein«, wiederholte sie leise.

Arik schien etwas sagen zu wollen.

Ivorien hielt eine Hand hoch und schüttelte den Kopf. »Mh-mh.«

Er seufzte lautlos und fuhr sich mit der knochigen Hand durchs zerzauste schwarze Haar. »Ja, du hast recht.« Er streifte sich seine Kapuze über.

Wenige Momente später wurde die Tür von außen geöffnet. Ivorien berührte die Waldelfin an der Schulter.

Elanor sah der dunklen Gestalt entgegen, die sich ins Innere des Hauses schlich. Das musste die Schattenklinge sein, auf die sie warteten, Ivorien hatte sie sofort erkannt. Für die nachtsichtigen Augen der Dunkelelfin war die Finsternis kein Hindernis. Größe und Statur der Silhouette ließen darauf schließen, dass es sich um einen Zwerg handelte. Ob er auch Umbras unverwechselbare Kluft trug, konnte Elanor nur raten.

Die Waldelfin trat ihm entgegen, während sich Arik und Ivorien im Hintergrund hielten.

»Seid Ihr die Frau, die nach den Schatten gerufen hat?«, fragte er. Seine Stimme drang mit einem dunklen Rumpeln aus seinem Brustkorb.

»Die bin ich«, bestätigte Elanor knapp.

Die Schattenklinge trat ins fahle Mondlicht. Elanor erkannte einen langen Bart, höchstwahrscheinlich blond, der seltsam unregelmäßig gewachsen war. »Wie schön, Euch zu treffen«, sagte er unerwartet fröhlich. »Mein Name ist Grem. Mit wem habe ich das Vergnügen? Wer sind Eure Begleiter?«

Elanor war sprachlos. Auf einen ernsten Assassinen, der sie finster anstarrte, war sie vorbereitet gewesen. Nicht auf einen heiteren Gesellen, der mit ihr sprach, als wäre sie eine alte Freundin.

Der Zwerg lachte röhrend. »Verzeiht, habe ich Euch so sehr verschreckt, dass Ihr Euren Namen vergessen habt?«

»El…eniel«, antwortete die Waldelfin. Obwohl es viele Elfen namens Elanor gab, hielt sie es für besser, ihren Namen nicht zu nennen. Wahrscheinlich war Grem auch nicht sein richtiger Name. »Ein Freund und seine Sklavin begleiten mich.«

»Grüße!« Der Zwerg verneigte sich in Richtung Arik. »Darf ich fragen, warum genau Ihr eine Sklavin mitnehmt?«

»Zu unserer Sicherheit«, entgegnete Arik. »Sie ist darauf trainiert, ihr Leben für unseres zu geben.«

Ivorien nickte mit grimmiger Entschlossenheit.

»Vorsicht ist besser als Nachsicht«, fügte der Magier hinzu.

Elanor hielt dem prüfenden Blick des Zwergs stand, den sie zwar nicht sehen, aber deutlich fühlen konnte. Sein Gesicht lag bis zum Unterkiefer im Schatten seiner Kapuze.

»Das ist nicht nötig. Umbra ist professionell, wir sind gut zu unseren Auftraggebern, wenn sie gut zu uns sind. Alles andere wäre schlecht fürs Geschäft«, erwiderte die Schattenklinge. »Wenn Ihr Euch so besser fühlt, soll es mir recht sein. Kommen wir zum Geschäftlichen.«

Elanor entspannte sich zunehmend. Dieser Assassine war bei Weitem nicht so bedrohlich und unheimlich, wie sie erwartet hatte. Sie fühlte sich nicht wie jemand, der gleich einen Pakt mit der gefürchteten Gilde Umbra schließen würde, sondern wie jemand, der mit einem Händler auf dem Markt um ein paar Töpfe und Pfannen feilschte.

Als sie realisierte, wie sehr sie sich in einer trügerischen Sicherheit wiegte, hallte ein schriller Warnruf ihres Instinkts durch ihren Geist. Es ist ein Spiel. Er erscheint mir als Freund und hält dabei ein Messer hinter seinem Rücken versteckt.

Sie musste wachsam bleiben. Das Stechen in ihren Schläfen steigerte sich wieder.

»Eines vorweg: Ihr seid nicht hier, um einen Mordauftrag entgegenzunehmen.« Ihre Stimme war ruhig, obwohl in ihr ein Orkan tobte. Sie war das Auge des Sturms. Es war wichtig, dass sie ihre Rolle überzeugend spielte. Für Dûhirions Seelenfrieden. »Ich brauche lediglich Informationen.«

Grem stemmte die Hände in die Hüfte. Aus der Dunkelheit seiner Kapuze drang ein amüsiertes Glucksen. »Sehe ich aus wie ein Archivar? Wenn Ihr Informationen wollt, seid Ihr in einer Bibliothek besser aufgehoben als bei Umbra.«

Sein Hohn war subtil, versteckt unter dem freundschaftlichen Tonfall, doch er schnitt tief.

Für die kurze Zeit zwischen zwei Herzschlägen fürchtete Elanor, die Fassung zu verlieren. Das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie kaum etwas anderes hören konnte. Sie verspürte das kindliche Bedürfnis, jemandes Hand zu halten. Der Schmerz in ihrem Kopf weitete sich auf ihren Nacken und die Schultern aus. Es fühlte sich an, als würden eiserne Dornen in ihren Schädel eindringen und sich aus den Augen wieder herausgraben.

Die Waldelfin fasste sich und brachte ein humorloses Lächeln zustande. »Glaubt Ihr, ich würde mich auf eine Gilde voller Mörder einlassen, wenn ich diese Informationen in Büchern fände? Es geht um eine Schattenklinge. Einen Dunkelelfen.«

»Um welche Art Information bittet Ihr mich?« Die Körperhaltung des Assassinen wurde sichtbar missbilligend. Er lehnte sich leicht zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Hatte er sich endlich entschieden, sein Schauspiel zu beenden?

Der Knoten in Elanors Eingeweiden zog sich fester zusammen. Eine Welle der Übelkeit schwappte in ihr hoch und zerschellte an ihrem Kehlkopf. Sie schluckte und unterdrückte den Brechreiz. »Ich will wissen, wer er ist und wo er ist.« Sie hob beschwichtigend die Hände. »Mehr nicht.«

Der Zwerg zupfte an seinem unregelmäßigen Bart und summte nachdenklich. »Warum wollt Ihr das wissen?«

»Ich habe eine Rechnung mit ihm offen«, antwortete Elanor knapp.

»Und Ihr glaubt, ich helfe Euch bei Eurem Rachefeldzug? Dass ich einen meiner Brüder für etwas Gold ans Messer liefere?«, fragte die Schattenklinge. Ihr Tonfall war dunkler und bedrohlicher geworden. Offenbar hatte Elanor einen Nerv getroffen. »Es geht Euch einen feuchten Dreck an, wer unsere Assassinen sind und wo sie sich aufhalten.«

»Vorsichtig«, warnte Arik hinter ihr. »Kommt der Frau nicht zu nahe!«

Ivorien trat hörbar einen Schritt vor.

Elanor atmete kaum merklich auf. Sie war derart auf ihr Gegenüber konzentriert, dass sie die Anwesenheit ihrer Begleiter völlig ausgeblendet hatte.

Sie war nicht allein hier.

Der Zwerg schnaubte verächtlich. »Für wen haltet Ihr Euch?« Anklagend richtete er seinen Zeigefinger auf sie. »Was nehmt Ihr Euch heraus, eine solch unverschämte Forderung zu stellen?«

Das war sein wahres Gesicht.

»Ich würde es nicht tun, wenn es nicht wichtig wäre. Ihr bekommt fünfhundert Goldkronen dafür.« Elanor tätschelte nervös nacheinander die beiden Geldbeutel an ihrem Gürtel. »Die Hälfte jetzt, die andere Hälfte, wenn Ihr mir verraten habt, was ich wissen will.«

»Ihr scheint mich nicht verstanden zu haben, Spitzohr«, knurrte der Zwerg. »Umbra ist wie eine große, glückliche und mörderische Familie. Niemand sticht dem anderen ein Auge aus, jeder hält dem anderen den Rücken frei – wie in jeder Familie. Und das gilt für jedes einzelne Mitglied.«

Elanor biss sich fest auf die Innenseite ihrer Wange. Sie mahnte sich eindringlich, still zu bleiben, nicht das Vorhaben zu gefährden, egal wie zornig sie diese Aussage machte.

Niemand sticht einem anderen das Auge aus, äffte sie ihn innerlich nach. Welch Ironie, wenn ich bedenke, dass sie Säure in Dûhirions rechtes Auge gekippt haben.

»Für jedes?«, fragte Arik. »Selbst für eine Grauhaut?«

Elanor hörte, wie sehr es ihm widerstrebte, dieses Wort in den Mund zu nehmen.

Grem antwortete nicht sofort. War er selbst nicht überzeugt von dem, was er sagte? »Ja.« Er reckte beinahe trotzig das Kinn. »Selbst für eine Grauhaut.«

Sie war bereit, das Vorhaben abzubrechen. Es hatte keinen Zweck. Entweder fanden sie einen anderen Weg, Dûhirions Leiche zu bergen, oder sie musste sich mit dem Gedanken abfinden, dass seine Seele für die Ewigkeit bei Umbra gefangen blieb.

Ihre Glieder wurden taub und ihre Schultern sanken nach unten.

Nein, zischte eine scharfe Stimme in ihrem pochenden Hinterkopf. So leicht lasse ich mich nicht abwimmeln. Dûhirion wird nicht bei seinen Schändern bleiben. Ich konnte ihn nicht retten, aber ich werde alles tun, um ihm das Begräbnis zu geben, das er verdient.

Elanor straffte sich wieder. »Ich bitte Euch, hört mich an, Schattenklinge! Ihr wisst, was in Orlean passiert ist? Ihr wisst, dass ein paar … räudige Dunkelelfen die Stadt überfallen, niedergebrannt und die Einwohner getötet haben? Mein … Vater war Teil der Stadtwache. Er war da, als diese Rebellen … Grauwölfe, wie sie sich nennen, über die Stadt hergefallen sind. Sie haben ihn verkrüppelt.« Ihre Kehle zog sich zusammen. Sie senkte einen Moment lang den Blick und sprach mit belegter Stimme weiter. »Diese dreckigen Missgeburten haben ihm den Rücken gebrochen und seine Beine gelähmt. Er hat mir erzählt, dass er inmitten des Kampfgeschehens einen Assassinen getroffen hat. Wisst Ihr, was dieser Bastard getan hat? Er hat meinen Vater als Schild benutzt.« Ihr Magen verkrampfte. Sie fühlte sich grässlich für ihre Ausdrucksweise und dafür, ihren toten Vater in ihre Lüge einzubinden.

So was würde Dûhirion niemals tun, fauchte ihre innere Stimme.

Die Waldelfin presste die Lippen aufeinander.

»Und?«, schnaubte die Schattenklinge.

Elanor funkelte ihn zornig an. »Mein Vater ist tot«, fuhr sie zähneknirschend fort. »Er hat sich die Kehle aufgeschnitten, weil er nicht als Krüppel weiterleben wollte. Wahrscheinlich … hat er auch die Schande nicht ertragen, dass er die Stadt nicht schützen konnte. In seinem letzten Brief an mich hat er mir den Assassinen beschrieben und mich gebeten, seinen Tod zu rächen. Ich habe meinen letzten lebenden Verwandten verloren, weil diese Schattenklinge ein Feigling war. Ich zahle Euch, was Ihr wollt. Es ist mir egal, wie viel Gold ich aufbringen muss. Ihr müsst ihn mir nicht ausliefern, warnt ihn von mir aus! Sagt mir einfach seinen Namen und ob er sich in der Zuflucht nahe Malachit aufhält.«

Während sie sprach, wickelte sich Grem gelangweilt die Bartspitze um Zeige- und Mittelfinger. Obwohl sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, wusste sie, dass er sie nicht mehr ansah. Seine offen gezeigte Gleichgültigkeit schürte die Wut in ihr.

»Euch scheint die Familie sehr wichtig zu sein«, fügte Arik hinzu. »Es wäre ein Tausch. Einen Bruder gegen einen Vater.«

Grem gähnte demonstrativ und strich seinen Bart glatt. »Seid Ihr wirklich so dumm zu glauben, Ihr könntet gegen einen Assassinen von Umbra bestehen?«

Arik hob den Arm und ließ Funken aus seiner Handfläche springen. »Es ist einen Versuch wert.«

Ivorien nickte bekräftigend.

»Mein Vater war alles für mich«, sagte Elanor. Ihre geballten Fäuste bebten. »Wie Ihr seht, spürt mein Freund meinen Schmerz und will ihn um jeden Preis lindern.«

»Um wirklich jeden Preis«, bestätigte der Magier. »Wenn es gegen den Kodex der Gilde geht … ist es eine Abmachung zwischen Euch und uns. Ihr bekommt das Gold, wir den Dunkelelfen. Dadurch finden wir entweder Gerechtigkeit oder den Tod.«

»Es ist nur ein Dunkelelf«, fügte Elanor gepresst hinzu. Sie hasste sich für die nachfolgenden Worte. »Ich könnte Eure Zurückhaltung verstehen, hätte ich Euch nach dem Kopf eines anderen Zwergs gefragt. Aber bei einer Grauhaut?«

Der Assassine ließ den Blick durch das leere Haus schweifen. »Tun wir so, als wäre ich interessiert. Was könnt Ihr mir über diesen Dunkelelfen verraten?«

Elanors Rückenmuskulatur entspannte sich. Sie war Arik und Ivorien unendlich dankbar. Ohne die beiden wäre die Verhandlung an dieser Stelle vermutlich abgebrochen worden. »Sein rechtes Auge ist blind. Vater beschrieb es als ›weiß und trüb wie Nebel‹. Darunter befindet sich eine Narbe, die über seine Wange bis zum Unterkiefer verläuft.« Dûhirions Bild erschien vor ihrem geistigen Auge und ihr wurde kalt. Elanors Unterlippe zitterte. »Sein anderes Auge ist rot. Graue Haut, schwarzes Haar.«

Die Erinnerung, wie sie ihre Finger durch den Irokesenschnitt und über die Stoppeln an den Seiten seines Kopfes fahren ließ, überkam sie. So intensiv, dass sie sogar glaubte, es spüren zu können. Ihre Fingerspitzen kribbelten und ihre Augen brannten. Sie ermahnte sich streng, nicht in Tränen auszubrechen. Nicht jetzt.

War das genug? Würde sie sich verdächtig machen, wenn sie weitersprach und der Schattenklinge mehr Einzelheiten gab?

»Damit kann ich arbeiten.« Grem stemmte die Hände in die Hüfte. »Könnte ich arbeiten.«

»Wie viel verlangt Ihr?«, fragte Arik. Seine Stimme war schwer und ungewohnt kühl.

»Dreitausend Goldkronen«, antwortete Grem bedächtig und deutete auf die Beutel an ihrem Gürtel. »Fünfhundert jetzt. Den Rest im Anschluss.«

Elanor fühlte sich, als hätte er ihr mit ganzer Kraft in die Magengrube geschlagen. Der Schmerz in ihrem Kopf pulsierte gnadenlos. Dreitausend Goldstücke waren viel Geld für eine einzige Information. Die Leiche von Dûhirion zu erhalten, war nicht im Preis inbegriffen. »Eintausend«, versuchte sie zu verhandeln.

»Dreitausend«, beharrte der Zwerg. »Nicht einen Kupfertaler weniger.«

»Für diesen Preis könnten wir die Stadtwache anheuern, um den Assassinen verhaften zu lassen«, sagte Arik.

Grem grinste und entblößte mehrere Goldzähne, die im Mondlicht glänzten. »Nur zu! Heuert die Stadtwache an! Ich weiß nicht, ob es Eure Rachegelüste befriedigt, wenn er einige Tage im Kerker sitzt, aber es wäre zumindest ein Anfang, nicht?«

Elanor warf Arik einen hilflosen Blick über die Schulter zu. »Eintausend für die Information. Dreitausend, wenn Ihr ihn zum Treffen mitbringt.«

»Und dann? Denkt Ihr, ich stehe daneben und sehe zu, wie Ihr ihn tötet?« Die Schattenklinge lachte bellend. »Oder dass Ihr es überhaupt mit ihm aufnehmen könnt? Verflucht, Ihr scheint dümmer zu sein als der Dreck unter meinen Fußnägeln.«

Elanor starrte beharrlich in die Dunkelheit unter seiner Kapuze. »Wenn Ihr davon überzeugt seid, dass Euch keinerlei Gefahr droht, spricht doch nichts dagegen, einzuwilligen, oder? Dann bekommt Ihr einen Haufen Gold und könnt Euch noch köstlich über uns amüsieren.«

Immer noch grinsend strich sich die Schattenklinge über den Bart. »Und was ist, wenn dieser Dunkelelf nicht mehr lebt?«

Ihr Mund wurde trocken. Wusste er etwas? War er es vielleicht gewesen, der Dûhirion getötet hatte? Elanors Atem beschleunigte sich. Erneut sah sie zum Heiler zurück.

»Dann bringt uns seine Leiche«, antwortete Arik entschlossen. »Zu wissen, dass der Mörder ihres Vaters tot ist, wird meiner Freundin auch Genugtuung verschaffen. Nicht wahr?«

Die Waldelfin nickte betäubt.

»Schön. Warum nicht?« Grem zuckte mit den Schultern und lachte wieder. »Gebt mir eine Woche Zeit, um mich nach ihm umzuhören und ihn davon zu überzeugen, den Spaß mitzumachen!«

»Und gebt uns zwei Wochen Zeit, um das Gold aufzutreiben! Dann treffen wir uns wieder hier um die gleiche Zeit.« Elanor hatte ihre Fassung zurückgewonnen und schlug in die ausgestreckte Hand ein, um den Handel zu besiegeln. Sie löste die beiden Goldbeutel, in denen sich je zweihundertfünfzig Goldkronen befanden, und reichte sie an den Assassinen weiter.

Der Zwerg wiegte sichtlich zufrieden die Beutel in den Händen. Jetzt konnte sie erkennen, dass sein Mund von Narben zerfurcht war. »Ich werde Euch nicht enttäuschen. Ihr mich hoffentlich auch nicht. Ihr würdet es bitter bereuen.« Nach der letzten Drohung kehrte das freundliche Lächeln auf seine Lippen zurück. Er verneigte sich tief. »Gehabt Euch wohl, Frau Eleniel!« Fröhlich winkte er Arik und Ivorien zu. »Und auch Ihr, namenloser Freund und namenlose Sklavin. Wir sehen uns bald wieder.« Er machte kehrt und schlenderte pfeifend aus der Tür.

Einige Sekunden verstrichen, bis Elanor es wagte, aufzuatmen. Zittrig strich sie sich mit beiden Händen übers Gesicht. Ein leichtes Kitzeln auf ihrer Haut verriet ihr, dass Arik die Illusion von ihr genommen hatte. Ivorien erschien an ihrer Seite und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Wir haben es geschafft. Du warst großartig, Elanor«, lobte Arik erleichtert.

»Ihr ebenfalls«, sagte die Waldelfin leise. »Vielen Dank, dass ihr bei mir seid.«

Ivorien vollführte einige Gesten, stoppte mitten in der Bewegung und schüttelte dann den Kopf. Sie ließ die Hände sinken und begann von Neuem. Was auch immer sie zuvor hatte mitteilen wollen, sie schien es sich anders überlegt zu haben. Sie warf Arik einen bittenden Blick zu und dieser nickte.

»Sie fragt, ob und wenn ja welche Teile deiner Geschichte wahr sind«, übersetzte der Magier.

»Es ist alles frei erfunden«, antwortete die Waldelfin. »Meine Eltern sind gestorben, als ich noch ein kleines Mädchen war. Dûhirion war allerdings wirklich in Orlean, als die Grauwölfe angegriffen haben.«

»Mhm«, machte Ivorien.

Elanor rieb sich die Stirn. Der Schmerz ließ etwas nach. »Ich muss irgendwie das Gold auftreiben. Das waren meine gesamten Ersparnisse. Zweitausendfünfhundert Goldkronen … so viel Gold würde ich nicht einmal in drei Jahren verdienen.«

»Wir werden eine Lösung finden«, versicherte der Heiler. »Sobald Nara zurück ist, berufen wir eine Versammlung der Weißen Feder ein. Es gibt sicherlich einige Mitglieder, die dir Gold leihen können. Ich verspreche dir, dass Nara und ich …«

Elanor schüttelte den Kopf. »Ich kann euer Geld nicht annehmen, Arik. Was ist mit deiner Klinik? Und den Dunkelelfen in den Aschegruben? Sie brauchen es dringender als ich. Da ich Malachit ohnehin bald verlassen muss, werde ich wohl mein Haus verkaufen und sämtliche Besitztümer. Bis auf ein paar Kleinigkeiten. Das sollte mir genug einbringen.«

Arik sah unentschlossen aus. Er tauschte einen Blick mit Ivorien, die mit den Schultern zuckte. »Wir finden eine Lösung«, sagte er abermals. »Jetzt ist erst einmal wichtig, dass Dûhirion ein würdiges Begräbnis bekommt.«

Elanor schwieg.

»Es ist spät und du siehst sehr müde aus«, sagte Arik sanft. »Ich werde dich nach Hause begleiten.«

»Das musst du n...«, murmelte Elanor.

»Ich will aber«, unterbrach der Heiler.

Ivorien verabschiedete sich von ihnen. Sie besaß ein Haus in der Aschegrube, das sie freiwillig bezogen hatte, obwohl die Weiße Feder ihr andere Möglichkeiten angeboten hatte. Die Dunkelelfin hatte zu verstehen gegeben, dass sie von dort aus am besten Informationen beschaffen und gleichzeitig den anderen Einwohnern helfen konnte.

Arik und Elanor blickten ihr noch kurz hinterher, ehe sie sich auf den Weg zu einem der Tunneleingänge machten.

Adular (Band 2): Rauch und Feuer

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